Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/121: Oded Netivi - Gott ist schuld (SB)


Oded Netivi


Gott ist schuld

Jerusalem im Fadenkreuz



Die Utopisten vom ausgehenden 16. bis 18. Jahrhundert waren gewitzte Entertainer, die versteckt in ihren Werken Gesellschaftskritik übten. Der Mantel der Heimlichkeit war unterdessen notwendig, weil das Henkersbeil, das Schafott oder die Einkerkerung sogenannten Aufwieglern jederzeit drohten. Indem der Autor jedoch ferne Weltregionen oder in die Sphäre bizarrer Phantasie entrückte Reiche beschrieb und zum Gegenstand einer kritischen Darstellung machte, konnte er hinter dem Schutz und Schild einer utopischen Fiktion Mißstände in der eigenen Lebenswirklichkeit anprangern, ohne fürchten zu müssen, von den Schergen oder ausgesandten Mordbuben mächtiger Lehnsherren ins Jenseits befördert oder anderweitig mundtot gemacht zu werden. Die Utopie war so ein schöpferisches Mittel der subversiven Anklage, die weit über das Strohfeuer einer moralischen Entrüstung hinaus auf das innere Gefüge feudaler und administrativer Herrschaftsverhältnisse gerichtet war. Dabei diente das Stilmittel einer zuweilen überzogenen Lächerlichmachung und komödiantenhaften Satire in erster Linie dazu, die elitäre Ständeordnung sowie deren Würdenträger und Günstlinge gezielt als parasitäre Nutznießer einer Gesellschaft bloßzulegen, die auf Amtsmißbrauch und Legitimierung von Gewalt und Ausbeutung beruhte. Auch die Gesellschafts- oder politische Utopie, die zu späteren Epochen im größeren Maßstab einer Zukunftsvision die widrigen Konsequenzen sozio-ethischer Ideologien beleuchtete und Konzepte einer gerechteren Welt entwarf, stellte im Kern wie überhaupt jede ernstgemeinte Literatur immer gegenwartsbezogene Kritik dar.

Die utopische alttestamentliche Vorstellung beispielsweise, Lamm und Löwe würden friedlich nebeneinander weiden, ist kein bloßes Wunsch- oder Traumbild. Vielmehr werden darin die bis an die äußerste Grenze der Negation getriebenen Voraussetzungen eines biologischen Rationalismus und seiner gesellschaftspolitischen Deutungskriterien in einer nüchternen wie existentiellen Fragestellung fokussiert und damit der konzeptionelle Weg freigemacht für eine Überwindung lebensgeschichtlicher Fremdbestimmung.

Daß die meisten Utopien dennoch so früh und nachhaltig scheiterten, liegt am höchst diffizilen Mißverständnis, Krieg und Frieden als voneinander getrennte Pole und nicht als lediglich verschiedene Verlaufsformen der Herrschaft zu denken. Dies gilt um so mehr, wenn der zu gestaltende Erzählstoff einen regionalen Krisenherd aufgreift, um daran in exemplarischer Deutlichkeit die Frage einer menschlichen Koexistenz aufzuarbeiten. Ein solcher Ansatz kann jedoch leicht ins Stolpern kommen, sofern der Autor den Sprung zwischen zwei Welten nicht meistert. Beide Welten, die der nominell unveränderbaren Ideogramme des Lebens und die der erstrebenswerten Perspektive einer emanzipierten Zukunft, müssen notwendigerweise miteinander in Streit geraten, wenn im Entwurf etwas anderes herauskommen soll als der Hundekadaver, der in der Sonne Maden ausbrütet.

Oded Netivi hat sich mit seinem Polit-Thriller "Gott ist schuld - Jerusalem im Fadenkreuz" einem heiklen Themas gewidmet, die "Zukunftsvision eines erträumten Friedens im Nahen Osten" literarisch aufzuzeigen. In einem Nachwort hat der Künstler und Schriftsteller durchaus eingeräumt, daß "Gründung und Aufbau des jüdischen Staates Israel" von tragischen Umständen und eklatanten Menschenrechtsverletzungen begleitet waren. Der Konflikt, den verfolgten Juden in der Welt eine "Heimstätte im Land ihrer historischen Väter" einzurichten, aber damit zugleich der dort lebenden autochthonen Bevölkerung die Heimat zu nehmen, hat sich nach Jahrzehnten "zu einem Pulverfaß mit permanent glimmender Lunte" radikalisiert, Haß und Unversöhnlichkeit auf beiden Seiten im Granit verhärten lassen und die Schaffung evidenter Friedensstrukturen schier unmöglich gemacht.

Dennoch war es Netivis fester Glaube daran, daß sich Juden und Araber das Land friedlich teilen können, mit dem er sich über 600 Seiten der leidvollen Tradition des Blutvergießens im Vorderen Orient entgegenstellte. Doch welches Friedensbild entwirft Netivi und wie verträgt sich der Inhalt des Buches mit dem in modernen Zeiten anachronistisch anmutenden Titel "Gott ist schuld"?

Dem Kunstgriff folgend, den Utopisten mit Vorliebe wählen, um ihre Ideen gegen die pedantische Wirklichkeit in Stellung zu bringen, überspringt auch Netivi Stacheldraht und Elendsquartiere der palästinensischen Reservate und begibt sich mitten hinein in die Zukunft und Hybridität eines noch jungen Staatenbunds gleichberechtigter Völker. Bereits auf Seite 6 erfährt der Leser: "Es herrschte Frieden im Lande Israel-Palästina."

Vergessen war also die Pein und des Feindes Hand befriedet? Wie ging das erstaunenswerterweise zu, den Willen zur Einsicht aus der Dickschädeligkeit der Politiker herauszulösen für die Realisierung einer staatstragenden Vision? Wir erfahren, daß sich die beiden Oberhäupter Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde gewissermaßen in einer geheimen Nacht-und-Nebel-Aktion zusammensetzten, um die Pathogenese im Krieg des Blutes und jahrzehntelanger Unterdrückung durch einen symbolischen Bruderkuß auszukurieren. Herauskamen dabei die Jerusalemer Verträge zur Gründung von Israel-Palästina, einer Republik einzelner Regionen, die nach ethnischen und religiösen Gesichtspunkten aufgeteilt wurden. Das war zwar kein großer utopischer Wurf von Netivi, kein menschheitsgeschichtlicher Paradigmenwechsel, da die Ethnien in einem konföderalistischen System weitgehend unter sich blieben, aber so doch der Ausdruck eines politischen Pragmatismus.

Rein äußerlich sind die Wunden vernarbt, im Heiligen Land schweigen die Waffen. Das wäre ein admirabler Entwurf, verquer zur Logik politischer Macht, aber die Metapher einer Friedensrepublik zerplatzt, weil der Haß der Väter im geheimen fortschwelt und eine um so sinistere Kraft entfaltet. Im Wadi Quelt wird eines Tages ein toter Araber - Scheich Hassan Salameh - aufgefunden. Alles deutet auf einen Ritualmord. Eine erste und ernste Krise für den jungen Staat. Überwunden geglaubte Ressentiments drohen plötzlich wieder aufzubrechen. Nach dem Staatsvertrag können die üblicherweise unter Länderhoheit stehenden Polizeibehörden Kooperationen bilden, "wenn Opfer oder Täter, Tatort oder die offensichtlichen Hintergründe des Falls eine Verknüpfung zwischen zwei oder mehr Distrikten vermuten lassen". So kreuzen sich die Wege der israelischen Kommissarin Nir Zipori aus Jerusalem und des palästinensischen Ermittlungsbeamten Hafez Chalil aus Ramallah.

Hinter dem Mordanschlag steckt, wie sich bald herausstellt, ein Komplott, das weit größere Kreise zieht als anfangs vermutet und den ganzen Nahen Osten ins Fadenkreuz einer kriegstreiberischen Geheimoperation nimmt, in die der wiederauferstandene Irgun und ewiggestrige Militärs ebenso involviert sind wie Geheimdienstklüngel in den USA und die Hamas und Al-Aqsa-Brigaden auf palästinensischer Seite. Über terroristische Anschläge der Israelis wie die geplante Sprengung des Tempelbergs und die damit provozierte Gegenaktion der arabischen Brüderstaaten soll eine Situation eskalieren, die den militärischen Einsatz der im Mittelmeer patrouillierenden US-Flotte zwingend erforderlich macht. Jede Seite verfolgt auf diesem Wege ihre Interessen. Die USA hoffen auf eine Neuordnung der ressourcenreichen Region, den israelischen Geheimpakt aus Ex-Militärs, Siedlerheimwehren und nationalreligiösen Splittergruppen eint das Ziel, das ihrer Ansicht nach konföderale Schandmal am biblischen Erbe zu zerschlagen und den zionistischen Traum von der Vorherrschaft der Juden im Heiligen Land zu verwirklichen, und die reaktionäre Clique palästinensischer Patriarchen will alle Juden schlichtweg ins Meer werfen, um ihren alten dogmatischen Einfluß auf das kulturelle Leben zurückzugewinnen.

In diesem Dickicht aus Weltpolitik und rassistischer Rhetorik ermitteln Zipori und Chalil, sie eine geschiedene und vom Leben wie von den Männern enttäuschte Jüdin sephardischer Herkunft, er ein im neuen Staatswesen arrivierter Beduinensprößling, der gewissermaßen als seßhafter Karrierist seine eigene Abstammung verachtet. Das Buch zelebriert im folgenden das Hohelied einer polizeilichen Ermittlung, die das komplexe Ausmaß der politischen Intrige, in die unter anderem auch der Polizeiminister verstrickt ist, aufdeckt. So wird ein Selbstmordanschlag an der Klagemauer in letzter Sekunde verhindert, die Hintermänner des Irgun enttarnt und aufgespürt und der eigentliche Plan, am neuen Nationalfest - dem Tag des Friedens - den Tempelberg in die Luft zu sprengen, dank eines Fahndungserfolgs vereitelt.

Die beiden Protagonisten, so ungleich in Kultur und Persönlichkeit, verlieben sich ineinander und um ihr Liebesglück zu bewahren, schließlich sind seegestützte Raketen der Amerikaner auf Jerusalem gerichtet, entwirft Chalil einen genialen Plan und beruft einen Tag vor dem großen Knall eine Weltpressekonferenz ein, auf der der schurkische Plan ans Licht gezerrt wird. Die US-Flotte dreht ab. Der amerikanische Präsident leugnet jegliche Verstrickung. Die israelische Terrorbande wird festgesetzt und auch der perfide Anschlag des Al-Aqsa-Brigadenführers, mit einer schmutzigen Bombe das Trinkwasserreservoir des Landes zu verseuchen, kann in einem konzertierten Kommandounternehmen verhindert werden. Das liebende Paar genießt in den Abendstunden engumschlungen den lauen Wüstenwind, der seit Äonen über die heimatlichen Gefilde streift. So frei wie der Atem der Welt sind nun auch die Bürger in dieser offenen, mit sich selbst ausgesöhnten Demokratie.

Die Guten gewinnen immer - ist das die Quintessenz der Utopie? Wer will es glauben, daß zwei Staatsmänner quasi per Handschlag einen neuen Friedensstaat gründen und dies per Volksabstimmung absegnen lassen und so Geheimdienste, Militärs und Staatseliten übertölpeln? Oder daß zwei Polizeiermittler gegen einen Staatsstreich mit internationaler Komplicenschaft die Oberhand behalten? Und wer hörte je davon, daß eine hastig heraufbeschworene Weltöffentlichkeit den Ausbruch kriegerischer Auseinandersetzungen vereitelte?

Führte Naivität die Feder in diesem sentimentalen Verschnitt aus Fernseh-Krimi und Happy-Hour-Romanze? Wie kann es angehen, den Nahostkonflikt und das hunderttausendfache Leid, die systematische Vertreibung und Irrelevanz angestammter Rechte, den Raub der Lebens- und Zukunftsaussichten im größten Freiluftgefängnis der Welt, die inquisitorische Erniedrigung und Drangsalierung durch das israelische Besatzungsregime und die völlige Willkürlichkeit von Todesschüssen letzten Endes auf eine polizeiliche Ermittlung herunterzubrechen? All dies im Buch lose verkörpert durch das Ensemble schwach gezeichneter Figuren, die mehr wie Tuschbilder denn klar umrissene Charaktere, wie aus einem Comic eben, wirken und die verschwörerische Saat der Intrige und politischer Machenschaften symbolisieren. Ein solcher vermeintlicher Thriller wäre schon als Manuskript von jeder ernstzunehmenden Kritik pulverisiert worden.

Man könnte indes die Handlung dem Autor zuliebe einer subtilen Exegese unterziehen. Womöglich liegt der utopische Leitfaden im Titel selbst verborgen. Gott ist schuld - aber woran? Am Zionismus? An der jüdischen Staatsdoktrin? Oder gar am Schicksal der Palästinenser, die, ohne die segnende Fürsprache historischer Väter im gelobten Lande, nur eine Konkurs- und Verfügungsmasse darstellen?

Wohl kaum, aber vor allem bedeutet dies: Gott ist nicht unfehlbar. Der Nahostkonflikt scheint für Netivi nur das Transportband für eine ganz andere Geschichte mit wesentlich älteren Wurzeln zu sein. Vordergründig rechnet der Autor mit der Gründung Israels als eines Staatswesens mit sozialrassistischer Gesetzgebung ab, nennt elementare Versäumnisse und Fehlentwicklungen beim Namen und macht mit dem ganzen vorkabbalistischen Hokuspokus Schluß, der sich in der radikal-religiösen Verblendung von den "einzig wahren Wächtern des richtigen Weges des Herrn" widerspiegelt. In einem Sinne ist das Buch authentisch: Was sich im Heiligen Land bekriegt, sind Brüder der gleichen Herkunft. Ob Jahwe oder Allah, es ist die Baustelle Gottes in der Geschichtsträchtigkeit einer Erde, aus der der biblische Ahnherr Adam nicht explizit als Hebräer oder Araber, sondern als die Verkörperung des kanaanäischen Menschengeschlechtes geschaffen wurde.

So scheint eine feinere Struktur die Buchseiten wie ein orientalischer Faden zu durchziehen. In der liebevollen Darstellung historischer Schauplätze aus dem Alten Testament gibt sich der Autor als Geistes Kind einer uralten genealogischen Linie zu erkennen und knüpft die folkloristischen Elemente zurück auf die eigene jüdische Geschichte, die auch die Geschichte dieses Landstrichs ist von den Philisterstädten bis zu den Golan-Höhen, von Samaria bis hinunter zum Sinai. Gott ist schuld, denn er vertrieb Adam und Eva aus dem Paradies.

Wie das Mißmanagement Gottes wiedergutmachen, ohne sich mit den rabbinischen Statthaltern offen anzulegen? Nun ist es das Vorrecht des Menschen in seiner selbstgewählten Mündigkeit und Verantwortung, Gott notfalls zu überlisten, um die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Darin zeigt sich des Autors Spitzbübigkeit. Nach Eden geht der Weg zurück, und beschritten wird die Heimkehr im Buch durch Nir und Hafez, durch eine palästinensisch-jüdische, mehr noch durch eine kanaanäische Hochzeit. Eigentlich ein kompromittierender Affront, denn im Buch ist es die Jüdin, die mit einem Palästinenser den Ehebund eingeht und damit die patriarchalische Zeugungslinie im orthodox-jüdischen Selbstverständnis auf den Kopf dreht.

So verwundert es nicht, daß die einzige Figur, die sich von Grund auf läutert und den Irrtum, ja den zionistischen Irrweg und die falsche Siedlungspolitik, durch "nationalreligiöse, messianische Dumpfköpfe" vorangetrieben, offen einräumt, ausgerechnet der erzkonservative Rabbiner Chanan Sternheimer ist. Nach schmerzensreicher Einsicht gelingt es ihm gar, über seinen religiösen Schatten springend sein uneheliches Kind mit der Künstlerin Selma Finkelstein anzuerkennen. Wozu doch "ein Volk von meschugge gewordenen Träumern" fähig ist, wenn nur die Erkenntnis vollzogen wird, daß es das Volk Israel historisch nie gegeben hat.

In keiner anderen Figur verortet sich das künstlerische Freidenkertum des Autors deutlicher, dem das Utopische seines Werkes nichts anderes bedeutet, als daß es längst an der Zeit ist, daß der Mensch an die Stelle Gottes tritt. Weswegen auch Halef im trauten Heim, vor sich seine schlafende Geliebte, urplötzlich die berüchtigten Worte in den Sinn kommen: Und er sah, "daß es endlich gut war". Und dabei voll und ganz zu vergessen, daß sich im selben Augenblick alle Übel aus Pandoras Büchse wieder zusammenrotten und die Geschichte des Menschen sich erneut verliert in Gottes unendlicher Galaxie.

Der Nahostkonflikt mit seiner geostrategischen Brisanz im Interessengeflecht der Weltmacht USA und ihrer Verbündeten läßt sich weder unendlich in eine utopische Zukunft verschieben, noch auf den verkürzten Horizont eines bürgerlichen Glücksstrebens herunterbrechen. Die vitalen Widersprüche sprengen das Hier und Heute der israelischen Gesellschaft. Angesichts der wachsenden Radikalisierung im Konfliktgeschehen zwischen dem zionistischen Lager aus Siedlerbewegung und altgedienten Militärs auf hohen politischen Positionen sowie einer Jugend- und Protestbewegung, die nicht mehr bereit ist, sich in die zionistischen Ziele und Waffengänge einbinden zu lassen, drohen dem Staat Israel Umwälzungen, die mit der Formel, Frieden mit den Nachbarländern zu schließen, kaum zu besänftigen sein werden.

19. Juli 2011


Oded Netivi
Gott ist schuld
Jerusalem im Fadenkreuz
Melzer Verlag, Neu Isenburg 2011
640 Seiten
ISBN 978-3-942472-07-4