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REZENSION/123: Elena Melodia - "Nacht" (Jugendbuch) (SB)


Elena Melodia


Nacht



Der Einband des vom PAN-Verlag herausgegebenen Jugendromans "Nacht" von Elena Melodia spricht sofort jene Leser an, die dem Unheimlichen und Geheimnisvollen zugetan sind. Auf dem schwarzen Umschlag sieht man das helle Gesicht einer jungen Frau, deren Augen hinter einem schwarzen Tuch, das nahtlos in die Schwärze des Einbands übergeht, verborgen bleiben. Sanfte Wellen einer Wasseroberfläche spiegeln sich auf ihrem Gesicht und dem verhülltem Haar. Faszinierend auch, daß der Titel des Buches in glänzendem Blau nur dann auftaucht, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel darauf fällt. Alles in allem also ein guter Einstieg in ein geheimnisvolles Lesevergnügen, das dem Verlagstext zufolge, in das Land der verlorenen Seelen führen soll.

Daß es um die Seele gehen soll, darauf deutet nicht nur die spiegelnde Wasseroberfläche des Einbands hin, die mit dieser Darstellung an die etymologische Wurzel des Begriffs 'Seele' anknüpft, der ursprünglich 'die zum See Gehörenden' meint, sondern auch der kurze Ausflug in die Hölle von Dantes "göttlicher Kommödie", der dem Leser als Einstieg serviert wird. Auf die Frage, ob er auch gestorben sei, erfährt der Ich-Erzähler hier von dem Mönch Alberigo, daß bei dem Verrat, den dieser begangen hat, seine Seele in der Hölle gefangen bleibt, auch wenn sein Leib noch nicht gestorben ist und auf Erden von einem Teufel bewohnt wird.

Aha, denkt man sich, handelt diese Geschichte womöglich von einem solchen seelenverlassenem Menschen, der vom Bösen benutzt wird, ohne etwas dagegen tun zu können?

Von Dantes altertümlicher Sprache wird man dann in die Jugendsprache und Schulgegenwart der 17-Jährigen Alma geworfen, die sich einem so arrogant und kaltherzig vorstellt, daß man zunächst wenig geneigt ist, diese Person noch weiter zu begleiten.

Draußen beglotzt mich das übliche Grüppchen Jungs, während ich auf dem Weg in den überfüllten Gang im Erdgeschoss bin. Ich spüre ihre Blicke auf mir. Vielleicht, weil ich die weißen Shorts anhabe, die meine Mutter zu kurz für die Schule findet. So wie die mich beäugen, hat sie wohl nicht ganz unrecht. Gut so. (...) Auch Ian starrt mich an. (...) Er erzählt überall herum, dass er ein Date mit mir hätte. Er hält sich für unwiderstehlich.
Er ist es nicht.
Ich werde mir einen Spaß machen, mich mit seinem Freund Rubi zu verabreden, dem Außenseiter. Ian kapiert garantiert nicht, wieso. Er wird mir mit offenem Mund nachstarren wie ein großer dummer Fisch auf dem Trockenen.
(Seite 14)

Alma ist ein Mädchen, das sich seiner Schönheit bewußt ist und sie kalt berechnend einsetzt, um sich als Anführerin einer Clique aus vier Mädchen, deren Freundschaft sich alle weiteren Anwärterinnen mit einem Aufnahmeritual verdienen müssen, zu behaupten. Jungs findet sie in jeder Hinsicht minderbemittelt, so daß sie sich gar nicht erst mit ihnen abgibt. Nur einer erweckt ihr Interesse, Morgan, ein Einzelgänger, der besonders gut aussieht und ebenso cool ist wie sie.

Dies war der erste Eindruck. Auf den zweiten Blick entpuppt sich Almas Arroganz, mit der sie andere abschätzig abzuurteilen scheint, als durchaus nüchterner Blick in die Abgründe zwischenmenschlicher Abhängigkeiten.

Die Straßen der Stadt sind morgens um acht total voll.
Die Leute gehen schnell, telefonieren, essen, trinken - alles auf einmal, um Zeit zu sparen. Und um nicht zu merken, dass das vollkommen sinnlos ist. Es gibt sogar welche, die joggen, hier, mitten im Verkehr. Mit ihren lächerlichen Hightech-Schuhen und ihren Kopfhörern: Schwitzend und verzerrte Songs im Ohr, reden sie sich ein, sie würden nicht zu diesem Getriebe aus Wahnsinn, Benzin und Elektrizität gehören, das dabei ist, uns in das große Nichts zu stürzen.
(Seite 42-43)

An solchen Abhängigkeiten und ihren Abgründen gibt es Beispiele genug in Almas Leben. Nicht nur in ihrer Familie, die aus einer überarbeiteten Mutter, einem Stiefvater, den Alma verabscheut, weil er als Fastfoodrestaurant-Betreiber immer nach Frittierfett riecht, einer jüngeren Schwester, die seit dem Selbstmord ihres Vaters stumm ist und einen punkigen Bruder, dem alles scheißegal ist, besteht.

Gad ist der neue Freund meiner Mutter. Jenna verfügt in Liebesdingen über einen doppelten Invaliditätsbonus: Sie ist die geschiedene Frau eines Mannes, der nichts taugte (mein Vater), und sie ist die Witwe (des Vaters von Lina und Evan). Sie hätte dies weitaus profitabler einsetzen können, aber sie hat sich Gad ausgesucht. Oder besser gesagt, er hat sie ausgesucht, und sie hat es geschehen lassen. Ist einfach mitgetrottet wie eine der Kühe, die ohne Bedenken der Leitkuh ins Schlachthaus folgen.
(Seite 41)

Auch in ihrer Clique herrscht Abhängigkeit vor, weil die Mädchen ihr gefallen wollen. Dennoch mißtrauen sie einander. Jede scheint ihr eigenes Geheimnis zu haben, das zumindest im Fall von Agatha mit ihrer sozialen Herkunft zusammenhängt. Obwohl sie genug eigene Probleme mit sich herumschleppt, versucht Alma die soziale Kluft zwischen den Mädchen zu überbrücken, schreckt aber auch nicht vor Verrat zurück, wenn die von Recht und Gesetz vorgeschriebene Norm in ihren Augen überschritten zu sein scheint. Andererseits scheut sie aber auch weder Mühe noch Kosten, um ihren Freundinnen in der Not beizustehen, hält sich jedoch nicht mit Gefühlsduseleien auf, sondern schwört sie darauf ein, sich zu wehren.

"Jetzt reicht's aber!" sage ich und packe sie an den Schultern. "Du musst aufhören, dich selbst zu bedauern und dir lauter Schwachsinn einzureden. Du musst dich wehren. Bist du meine Freundin oder nicht? (...) Zusammen sind wir unbesiegbar. Vergiss das nicht."
(Seite 101)

Alma ist stark. Sie steckt Schicksalsschläge wie den Tod zweier früherer Freundinnen, die bei einem Autounfall ums Leben kamen, den Alma als einzige überlebt hat, einfach weg. Einen Psychiater braucht sie nicht. Und von einem Trauma, das sie erlitten haben könnte, kann auch nicht die Rede sein. Was ihr allerdings zusetzt, ist, daß sie seit diesem Unfall hin und wieder von bestialischen Morden träumt, die sie nach dem Aufwachen in einem lila Notizbuch aufgeschrieben findet, ohne sich an den Vorgang des Aufschreibens zu erinnern, und die wenige Tage später tatsächlich auf genau diese Weise verübt werden. Dieses Notizbuch hat sie in einem mysteriösen Schreibwarenladen erstanden, dessen Inhaber bestrebt scheint, gerade ihr bestimmte Dinge zukommen zu lassen, wie auch einen exklusiven Füllfederhalter, der ihr sofort ins Auge gefallen ist.

"Er ist bestimmt sehr teuer, schätze ich..."
"Wie viel könnten Sie denn ausgeben?"
Fest davon überzeugt, dass er nur scherzt, zeige ich ihm, was ich in der Tasche habe. Es ist nicht viel.
Er jedoch scheint zufrieden. "Perfekt. Das genügt."
Ich sehe ihn verdutzt an. "Sind Sie sicher? Das kommt mir wenig vor für einen solchen Füller."
"Das ist es auch. Aber ... die Differenz können Sie selbst ausgleichen."
(S. 173)

Das Geheimnis dieses Notizbuchs, gekoppelt mit den Machenschaften einer von Jugendlichen gegründeten Satanistensekte und dem Auftreten finsterer Verfolger, über die Almas Freund Morgan mehr zu wissen scheint, als er preisgibt, weben ein Netz verschiedener Handlungsstränge, das sich immer fester um Alma zusammenzieht. Das Buch ist feinfühlig geschrieben und beleuchtet gerade in der ersten Hälfte den tagtäglichen Wahn- und Stumpfsinn dieser Welt.

Um uns herum sind lauter Menschen, die sich fremd sind, und nur dieser Ort mehr oder minder schweren Leids [Krankenhaus] hat die ungewöhnliche Macht, sie einander näherzubringen.
(Seite 95)

Es gibt jedoch Leserinnen, die für eine Protagonistin, die ihre Umgebung mit kühlem Blick betrachtet und selbstbewußt auftritt, nichts übrig haben und sich mehr Gefühl oder Action wünschen.

Anfangs zieht sich die Story, es ist die Rede von einem schrecklichen Unfall, den Alma erlitt, der Umgang mit ihren Freundinnen wird thematisiert. Und das alles seitenweise, als würde die Autorin mit Absicht die Geschichte in die Länge ziehen, da es nunmal ein Mehrteiler werden wird.

Zeitweise stand wirklich die Überlegung im Raum, das Buch abzubrechen. Denn ganz ehrlich, wenn ich die Protagonistin nicht mag und mich über ihr beschriebenes Verhalten aufrege, habe ich keinen Blick für die Story an sich.
(http://bookaholic.blog.de/2011/10/24/rezension-nacht-land-verlorenen-seelen-elena-melodia-12061602/)

Offensichtlich kann in der heutigen Zeit, in der die banalsten Ereignisse mit einem Ansturm an Emotionen bedacht werden, keine Heldin ankommen, die diesem irrationalen Gefühlswallungen skeptisch gegenübersteht. Erst als sie Schwäche zeigt, erweckt sie Symphatie.

Doch nachdem ich etwa die Hälfte der Lektüre erreicht hatte, nahm die Spannungskurve einen riesen Sprung! Kaum aufhaltend, nahmen die Ereignisse ihren Lauf, es wurde spannend und Alma war mir nicht mehr ganz unsympathisch, was daran gelegen haben mag, dass ich ein wenig Mitleid mit ihr hatte. Immerhin hatte sie schreckliche Alpträume, in denen sie Morde sieht und zum Teil das Gefühl hat, an sich selbst zu erleben. Das gönne ich niemandem und es bröckelt gehörig an ihrem Selbstbewusstsein. (http://bookaholic.blog.de/2011/10/24/rezension-nacht-land-verlorenen-seelen-elena-melodia-12061602/)

Ich weine wie sonst nie in meinem Leben. Alma weint nicht. Ich schon. Aber wer bin ich? Die Tränen weichen meinen Panzer auf wie Essigsäure eine Kalkkruste. (...) Ich erkenne mich nicht wieder: Wo ist meine Selbstsicherheit hin, mein aggressiver Umgang mit Problemen? Ich habe immer alle Hürden genommen, aber jetzt sehe ich mich mit etwas konfrontiert, das eine Nummer zu groß für mich ist, etwas Ungeheurem, das droht, mich zu zerschmettern.
(Seite 234)

Doch Almas Stärke zeigt sich gerade darin, daß sie sich nicht geschlagen gibt.

Ich muß mich dieser Situation stellen, worum auch immer es dabei gehen mag.
(Seite 235)

Angelockt vom Klappentext, der an einigen Stellen irreführend ist, denn Alma erleidet mitnichten unerträgliche Schmerzen bei jeder Berührung - sie mag es nur nicht so gern, angefaßt zu werden, was eher an ihrer Abneigung gegen Gefühlsüberschwang liegt -, waren andere Leserinnen wiederum auf eine romantische Liebesbeziehung eingestellt.

"Morgan verzaubert sie... sie droht ihn zu verlieren".. Ich habe eine süße Liebesgeschichte erwartet.
Doch auch da wurde ich leider sehr enttäuscht. Diese Liebesgeschichte spielt eher halb im Hintergrund bzw. in den letzten Kapiteln passiert annähernd was, so dass im Vordergrund ganz klar die Geschehnisse stehen. (http://nicasbuecherblog.blogspot.com/2011/11/rezension-nacht-von-elena-melodia.html

Morgan ist ein nicht leicht zu durchschauender Mensch, der wie gesagt mehr über die geheimnisvollen Hintergründe der Geschehnisse weiß, als er verraten will. Mehrmals eilt er Alma zu Hilfe, die sich trotz seiner Warnungen immer wieder in Gefahr begibt und gibt ihr Halt, als sie zu verzweifeln droht. Daß man einander beisteht, ist in einer Freundschaft doch wichtiger als rumzuknutschen, sollte man meinen. Das hat jedoch etwas von einer altmodischen Romantik, die nicht in die heutige Zeit paßt, wo man sich das einfach nimmt, was man haben will.

Romantisch: Nein, absolut nicht. Ohne dem Inhalt etwas vorweg zu nehmen - thematisiert wird unter anderem Vergewaltigung, Satanismus und Morde.
Da ist kein Platz für Romantik und ehrlich gesagt, außer ein, zwei Küssen, die Alma durch Morgan erfahren durfte, war dort einfach keine Romantik.
(http://bookaholic.blog.de/2011/10/24/rezension-nacht-land-verlorenen-seelen-elena-melodia-12061602/)

So feinsinnig Almas Beobachtungsgabe und Einschätzungsvermögen auch beschrieben wird, so plump kommen einem die Morde und vor allem die sie verfolgenden Männer vor. Action-Thriller sind nicht Elena Melodias Metier. Während Almas Alltag, der Zerfall und Umbruch der Stadt, sowie die sozialen Verflechtungen ihrer Mitmenschen in einer beeindruckenden Dichte und Lebendigkeit beschrieben werden, als hätte die Autorin dies alles genau so erlebt, wirken die thrillermäßigen Bestandteile des Romans halbherzig konstruiert und kommen daher wie der billige Abklatsch jedes x-beliebigen Krimis, den man schon einmal im Fernsehen gesehen hat. Die Überzeichnung ins Bestialische - immerhin werden die Opfer barbarisch gekreuzigt oder an Achterbahnen aufgehängt - neigt eher dazu, der Geschichte die Intensität zu nehmen, als jenes Grauen zu erzeugen, das unter die Haut geht und das ein Steven King mit weitaus weniger effektheischenden Mitteln erzeugen kann.

Almas Verfolger werden sogar so plakativ beschrieben, daß man unwillkürlich an einen Spion & Spion-Comic von Antonio Prohias denken muß. Auch die Geschehnisse um die angebliche Satanistensekte, für deren Authentizität die Autorin ruhig etwas mehr Quellenrecherche hätte betreiben können, sind so klischeehaft, daß sie einem drittklassigen Mafiafilm entsprungen sein könnten.

"Dann gibt es also eine Art von Hierarchie. Und du bist auf der untersten Stufe."
"Genau. Deshalb darf niemand erfahren, dass ich dir diese Adresse gegeben habe. Sie würden mich verschwinden lassen. Es gibt keine Gnade für Verräter."
(Seite 318)

Beim Versuch, das Böse schlechthin darzustellen, werden Satanisten mit geheimdiensttypischen Foltermethoden verquickt, was letztlich nur den Effekt hat, daß man die ganze Geschichte nicht mehr ernst nehmen kann.

Da Elena Melodia sich nur einem Aspekt ihrer Geschichte mit Hingabe gewidmet und die anderen im Schnellverfahren abgehandelt hat, ist es ihr nicht gelungen, einen Roman aus einem Guß zu schreiben. Man hat fast den Eindruck, die Autorin hatte eigentlich einen ganz anderen - leiseren - Roman schreiben wollen und wäre dazu genötigt worden, reißerische Elemente einzubauen.

Aber eines muß man der Autorin lassen - als über Almas Alpträume hinaus die Verbindung zwischen ihr und den Morden dann schließlich doch noch offenbar wird, stockt einem schon der Atem und an dieser Stelle ergibt auch zum ersten Mal Dantes Zitat aus der Göttlichen Kommödie einen Sinn, denn was die Geschichte mit verlorenen Seelen zu tun haben soll, konnte man bisher nicht erkennen. Wie die Verbindung zwischen Alma und den Morden allerdings zustande gekommen ist, bleibt auch am Ende des Buches ein Rätsel und läßt einen trotz allem neugierig zurück. Ob diese Neugierde allerdings anhalten wird, bis im Mai 2012 dann der Folgeband erscheint, ist fraglich.


*


Elena Melodia wurde in Verona geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann lebt. Sie arbeitete zunächst als Jugendbuchredakteurin in einem großen Verlag, bevor sie selbst unter die Schriftsteller ging. Nacht ist ihr erster Roman und der Auftakt zur erfolgreichsten italienischen Urban-Fantasy-Saga der letzten Jahre.
(Klappentext)

30. November 2011


Elena Melodia
Nacht
PAN Verlag
Titel der Originalausgabe: Buio
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling
448 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-426-28333-2
€ [D] 16,99 / € [A] 17,50 / sFr. 25,90


Für Leserinnen ab 14 Jahre