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REZENSION/128: Paco Ignacio Taibo II - Die Rückkehr der Tiger von Malaysia (Abenteuer) (SB)


Paco Ignacio Taibo II


Die Rückkehr der Tiger von Malaysia



Paco Ignacio Taibo II, Mexikos bekanntester Krimi-Autor, hat sich den Traum eines im Herzen jung gebliebenen Abenteurers erfüllt und Sandokan, den Tiger von Malaysia, zu neuem Leben erweckt. Die von Emilio Salgari in den 1880er-Jahren geschriebenen Abenteuer-Geschichten um den malaiischen Piraten, die zuerst als Kurzgeschichten in einer Zeitung und ab 1901 als Bücher veröffentlicht worden sind, haben zu der damaligen Zeit eine große Anhängerschaft gehabt und wurden auch in Taibos Jugendzeit - der Autor wurde 1949 geboren - wenn nicht offen, dann doch heimlich unter der Bettdecke gelesen und haben in dem Jungen einen antiimperialistischen Nerv getroffen. Denn Sandokan machte mit seinem portugiesischen Gefährten Yanez de Gomara und etlichen Mitstreitern die Malaysische See unsicher und bekämpfte das britische Imperium, das damals ganz Südostasien kolonisierte und die industrielle und kommerzielle Vorherrschaft in dieser Region anstrebte. Der malaiische Fürst, dessen gesamte Familie von den Briten ermordet worden war, befand sich auf einem Rachefeldzug und hatte dabei zahllose Gefahren zu durchstehen. Sein Ruf wuchs sich zur Legende aus und blieb - nun in Taibos Roman - auch nach seinem Rückzug als Mythos bestehen.

Paco Ignacio Taibo II holt in seiner Abenteuergeschichte Sandokan und Yanez aus ihrem Ruhestand zurück. Die in die Jahre gekommenen Piraten - beide gehen auf die Sechzig zu - sehen sich einer neuen Herausforderung gegenüber, denn eine unbekannte Macht überfällt Dörfer und ermordet oder versklavt die Bewohner.

Während die Tiger das im Laufe von vierzig Jahren geschaffene, zuletzt aber eingeschlafene Netzwerk aus Unterstützern reaktivieren, um ihren Feinden auf die Schliche zu kommen, werden ihre Bankkonten in Hongkong blockiert, ihnen eine Horde von Winkeladvokaten, die sie des Schmuggels bezichtigen, auf den Hals gehetzt und die Presse von drei Ländern gegen sie mobilisiert. Sie beginnen eine Jagd nach den Urhebern dieser Angriffe, die ihnen Siege, aber auch Niederlagen beschert, und sie, ganz im Stile Emilio Salgaris, der sich um Wahrscheinlichkeiten und Logik nie geschert hat, die verwegensten Abenteuer erleben läßt.

Paco Ignacio Taibo II, der als junger Mensch, aus der Franco-Diktatur Spaniens nach Mexiko emigrierte und dort die gewaltsame Niederschlagung der Studentenrevolte von 1968, an der er aktiv beteiligt war, erlebt hat, gilt als Begründer des neuen lateinamerikanischen Kriminalromans, der Stilmittel des Abenteuerromans, Politthrillers und Krimis miteinander verbindet. In "Die Rückkehr der Tiger von Malaysia" gelingt es ihm, sowohl die Authentizität von Emilio Salgaris Geschichten zu bewahren, als auch die vielschichtigen politischen Verhältnisse der damaligen Zeit mit den Augen eines systemkritisch denkenden Menschen der heutigen Zeit zu betrachten:

Die Präsenz des Empires in der Region wird immer stärker und mit ihr die Ausplünderung, Intrigen, Zerstörung der Kazikenherrschaft, ständiger Wandel, immer neue Bündnisse, Einführung der industriellen Produktion in den Bergwerken und Plantagen. Großhandel und in seinem Schlepptau die Kriegsschiffe und die Armeen, und hinter allem die Widersprüche zwischen den Imperien, die den indischen Subkontinent zu einem ihrer Hinterhöfe machen wollen. (Seite 59) 

Folgendes Plädoyer könnte - auf die NATO-Expansion übertragen - auch heute vor einem jener Gerichte gehalten werden, vor die Menschen aus Staaten gestellt werden, die sich dem Einfluß der westlichen 'Werte'gemeinschaft zu entziehen versuchen:

"Ich weigere mich, Sie als Richter anzuerkennen", sagte Yanez. "Vor mir sehe ich drei britische Staatsbürger in einer Stadt, deren Bevölkerungsmehrheit chinesisch, malaiisch, javanisch oder indisch ist. [...] Sie und Ihresgleichen haben mit Blut und Handelsgeschäften ein Reich aufgebaut. [...] Sie sprechen von Fortschritt, von Entwicklung, von Erfindungen und Neuerungen. Doch hinter diesen feinen Errungenschaften fließt das Blut der Kulis, der Tabakpflanzer von Batavia, der Bergarbeiter von Perak. Ich lache über ihre verdammte Zivilisation, sie ist nichts als Barbarei unter einer schlechten Schminke, die die Schäbigkeit und Habgier nicht verbergen kann." (Seite 149-150) 

Taibo gibt seiner Sandokan-Geschichte nicht nur diese klare antiimperialistische Ausrichtung, sondern er vollbringt auch das Kunststück, das Wesen Sandokans und seiner Mitstreiter zu bewahren und in ein Charakterbild zu transportieren, das der heutigen Zeit entspricht. Sandokan handelt noch genauso impulsiv, wie er es bei Salgari tat, und Yanez bleibt der besonnene Denker. Was einen Yanez der Salgari-Zeit jedoch vermutlich nicht im Geringsten interessiert hätte, gewinnt in unserer von ökologischem Bewußtsein beseelten Gegenwart Bedeutung. Und so rührt Yanez das Schicksal der Orang-Utans von Borneo, die von sogenannten Naturforschern gnadenlos gejagt und ausgestopft werden, so sehr, daß er versucht, Friedrich Engels, der ein "Werk über die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen" verfaßt hat, die Ansicht näherzubringen, man müsse den Orang-Utans eine im Vergleich zum Menschen überlegene Lebensform zusprechen.

Auch bleibt nicht aus, daß nach den Greueln zweier Weltkriege, die sich zu Salgaris Zeit noch nicht ereignet hatten, ein Menschenleben bei Paco Ignacio Taibo II höher eingeschätzt wird, als dies bei Salgari der Fall gewesen ist. Und so läßt Taibo seine Tiger einen selbstkritischen Blick auf ihre blutige Vergangenheit werfen:

"Wir haben gekämpft und unser Blut und das vieler Brüder gelassen, nur um einen Felsen inmitten des Ozeans zu verteidigen. Und am liebsten möchte ich mich daran nicht erinnern, aber es gab Momente, in denen wir die gefürchtete rote Fahne der Tiger von Malaysia hissten, nur um gegen die Langeweile anzukämpfen. Manchmal war der Hass stärker als die Vernunft und blind vor Zorn schnitten wir Köpfe ab oder folterten..." (Seite 76-77) 

Hier soll nicht der Eindruck entstehen, in diesem Roman würde nicht gekämpft. Das Gegenteil ist der Fall. Aber die Gründe, warum die Piraten ihr Leben riskieren und auch verlieren, sind andere als bei Salgari. Während bei Salgari ein liebestrunkener Sandokan skrupellos etliche seiner Genossen in den Tod schickte, nur um seine Geliebte aus der Obhut ihres Vormunds zu entführen, geht es bei Paco Ignacio Taibo II um die Befreiung von Sklaven, die zur Arbeit in Kautschukplantagen gezwungen werden. Diese Motivation ruft trotz der Diffamierungskampagne gegen die Tiger unter der Bevölkerung eine Solidarität mit ihnen hervor, die eine Macht darstellt, die letztlich weiterreichen könnte, als die mächtigen Feinde zu fürchten gewagt haben. Es ist eine Kraft, die unter den Mächtigen des alten Europa und all denen, die sich in ihre Dienste gestellt haben, Angst und Schrecken verbreitet:

Die Parias Asiens haben nichts zu verlieren außer ihren Ketten, aber eine ganze Welt zu gewinnen. Wird es ihnen gelingen, das zerstörerische Räderwerk einer Geschichte zu stoppen, die nicht die ihre ist? Wird es ihnen gelingen, ein System aufzuhalten, das seinen eigenen Anteil an Wildheit mit der Barbarei des Kapitalismus kombiniert, der aus dem alten Europa gekommen ist? (Seite 158) 

Diese Frage spitzt sich gerade heute angesichts weltweit wachsender Armut und skrupelloser Ausbeutung der Arbeiter immer mehr zu und wird noch lange nicht beantwortet sein. Genausowenig wie Sandokans Traum jemals ausgeträumt sein wird:

"Ich will nicht eine kleine Festung auf dieser kleinen Insel namens Mopracem wiederbeleben, was ich wiederbeleben will, ist die Idee von Mopracem, den Mythos von Mopracem, die Legende von Mopracem: die Insel der freien Menschen in einem Ozean von Herren und Sklaven. Diese Insel, nach der sich die besten Menschen des Indischen Ozeans sehnen." (Seite 288) 


Paco Ignacio Taibo II ist hier nicht nur die bravouröse Umsetzung eines antiimperialistischen Abenteuerromans gelungen, sondern auch ein Schmuckstück der Erzählkunst. Denn im Gegensatz zu manchem Autor 'dicker Schinken', der sich in seitenschindenden Erläuterungen unbedeutender Nebensächlichkeiten verliert, hat er "Die Rückkehr der Tiger von Malaysia" in vielen, meist nur zwei bis drei Seiten langen Kapiteln geschrieben, die jedes für sich durch die Dichte der Sprache dem Leser ein ganzes Universum offenbaren, das ihm noch genug Platz läßt, seine eigene Phantasie zu entfalten.

12.‍ ‍April 2012


Paco Ignacio Taibo II
Die Rückkehr der Tiger von Malaysia
Titel der Originalausgabe: El Retorno de Los Tigres de la Malasia
Aus dem Spanischen von Andreas Löhrer
Assoziaton A, Berlin / Hamburg 2012
gebunden
303‍ ‍Seiten
Euro 19,90
ISBN: 978-3-86241-412-3