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REZENSION/160: Heidi Lehmann - Bitterschönes Schicksal oder als meine Mutter seltsam wurde (SB)


Heidi Lehmann


Bitterschönes Schicksal oder als meine Mutter seltsam wurde



Als Leser schlägt man das Buch auf und springt mitten in das Leben, die Gefühlswelt und die Probleme der sechszehnjährigen Moira, die von einem Wochenende bei ihrer Freundin nach Hause kommt und dort Zustände vorfindet, die alles andere als in Ordnung sind. Ihre Mutter sitzt apathisch auf dem Bett und ihre kleine Schwester Lucy hat sich seit zwei Tagen nur von Toastbrot ernährt, da die Mutter nicht in der Lage war, ihr etwas zu kochen. Obwohl sie dann zunächst einmal wieder ganz normal zu sein scheint, verändert sich die Mutter im Laufe der nächsten Monate und entwickelt seltsame Verhaltensweisen. Moira macht sich zunehmend Sorgen. Als große Schwester sieht sie sich in der Pflicht, die Verantwortung für Zuhause und die kleine Schwester zu übernehmen. Lucy gegenüber spielt sie die Zuversichtliche, obwohl sie genau das nicht ist. Fragen und Zweifel treiben sie um. Sie sieht sich gefangen in dem Spagat, den Schein nach außen hin aufrechterhalten und sich zugleich zuhause zunehmend um alles kümmern zu müssen. Bis auf ihren guten Freund Flo, den sie ins Vertrauen zieht, hat sie keinen, mit dem sie über ihre Probleme reden kann.

Moira teilt das Schicksal vieler Kinder. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen und sie ist zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter in einen anderen Stadtteil von Hamburg gezogen. Täglich nimmt sie den weiten Weg zu ihrer alten Schule auf sich, um wenigstens den Kontakt zu ihren Freunden nicht zu verlieren. Alle zwei Wochen gibt es ein Papawochenende, an dem die Bemühungen des Vaters, etwas Schönes mit seinen beiden Töchtern zu unternehmen, naturgemäß häufig an den Bedürfnissen der Kinder vorbeigehen. Und dann entwickelt die Mutter eine akute Psychose und wird vorübergehend in die psychiatrische Klinik Ochsenzoll eingewiesen.

In Deutschland leben mindestens 1,5 Millionen Kinder, die ein ähnliches Schicksal zu erleiden haben, mit Eltern, die an einer Psychose oder einer schweren Depression leiden. Und da bestimmte Erkrankungen wie Angst-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen bei dieser Rechnung nicht berücksichtigt wurden, ist zu vermuten, dass die Gesamtzahl noch um einiges höher liegt. [1] Dennoch wird diese Problematik gesellschaftlich kaum thematisiert, weshalb Fachverbände auch von den "vergessenen Kindern" sprechen. Auf unaufdringliche Weise trägt nun dieses Buch zur Beschäftigung mit diesem Thema bei.

Die Medikamente, die Moiras Mutter nach ihrem Klinikaufenthalt einnehmen muß, verändern sie stark. Die fröhliche Mama, die sich um ihre Kinder gekümmert hat und Anteil an ihrem Leben nahm, ist verschwunden und entgegen allen Hoffnungen, daß nun alles wieder in Ordnung kommt, ist eine in sich zurückgezogene Mutter zurückgekehrt, die für ihre Außenwelt teilnahmslos bleibt und nicht mehr in der Lage ist, den Kindern ein angemessenes und geschütztes Zuhause zu bieten. Der Einsatz einer Tante, die vorübergehend zu ihnen zieht, erspart den Kindern zwar eine staatliche Betreuung, doch die Sorgen und Ängste, die sich durch die veränderte Persönlichkeit der Mutter ergeben, bleiben.

Der Roman, aus der Ich-Perspektive von Moira geschrieben, begleitet die Protagonistin durch drei entscheidende Jahre ihrer Jugend bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr. Einmal angefangen mag man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Einfühlsam und zugleich spannend beschrieben lernt man die wichtigsten Menschen in Moiras Leben kennen, ihre Familie, die kleine Schwester Lucy, die Mutter, den geschiedenen Vater und ihre Freunde. Sie verliebt sich in Nils, der ihr Halt gibt. Doch obwohl sie ihm vertraut, kann sie sich nicht dazu durchringen, ihn auch nur ein einziges Mal mit zu sich nach Hause zu nehmen oder mit ihm über die Krankheit ihrer Mutter zu sprechen.

Fragen, wie "Was ist normal und was verrückt?" treiben Moira um. Dazu kommt die Angst, vielleicht später selbst einmal betroffen zu sein. Als es zur Trennung von Nils kommt, fühlt sie sich hilflos und verloren. Ihr Leben gleicht einem Scherbenhaufen, doch sie weiß nicht, was sie dagegen tun kann. In dieser Situation tritt Balthasar, der ein paar Jahre älter ist als sie, in ihr Leben. Er ist Künstler und in jeder Hinsicht anders als alle Menschen, denen Moira bislang begegnet ist. Mit seiner ganz eigenen Sichtweise auf die Dinge, die Menschen und das Leben fordert er Moira heraus und mischt ihre ohnehin chaotische Gefühlswelt ordentlich auf.

"Bitterschönes Schicksal oder als meine Mutter seltsam wurde" ist eine zarte, berührende und lesenswerte Leidens-, vor allem aber auch Liebesgeschichte, die in der zweiten Hälfte des Buchs so richtig Fahrt aufnimmt. Moira hegt gegenüber Balthasar, der ein Psychologiestudium abgebrochen hat, um sich ganz seiner Kunst zu widmen, widersprüchliche Gefühle. Sie lehnt seine scheinbar grenzenlose Selbstsicherheit ab, findet ihn unglaublich arrogant und haßt seine Fähigkeit, sie mit seiner direkten und unverblümten Art aus der Reserve zu locken. Zugleich fühlt sie sich jedoch aus genau diesen Gründen auch zu ihm hingezogen, denn er scheint der einzige Mensch zu sein, der nicht nur ihre nach außen vorgehaltene unnahbare und glatte Fassade zu durchschauen vermag, sondern auch das in ihr schlummernde Talent, ihr künstlerisches Potential und ihre seit langem verdrängte Liebe zur Kunst erkennt.

Balthasar nimmt sie mit in sein Atelier und zeigt ihr seine Bilder. Moira, die ihre frühere Leidenschaft, das Zeichnen, komplett aufgegeben hatte, als sie merkte, daß es ihr einfach nicht gelingen wollte, mit ihren realitätsgetreuen Abbildungen das, was sie emotional mit den gezeichneten Dingen verband, auszudrücken, beginnt mit Balthasars Hilfe zu malen und mit Farbe und Pinsel zu experimentieren. Seit langem aufgestaute Emotionen, Schuldgefühle, Versagensängste, Aggressionen und eine tiefe empfundene Einsamkeit bahnen sich ihren Weg nach draußen und Moira lernt, ihnen durch das Malen von Bildern Ausdruck zu verleihen und so ihre Probleme in Angriff zu nehmen.

Ein lesenswerter All-Age-Roman, der nicht nur aus sachbezogenen Gründen, sondern auch wegen des Unterhaltungswertes der Geschichte zu empfehlen ist.

Die 1981 in Österreich geborene Autorin Heidi Lehmann studierte freie Kunst und Kunsttherapie in Hamburg. Sie gibt Malkurse und arbeitet mit Wort und Farbe gestaltend an ihren Texten und Bildern.

Am Donnerstag, dem 3. Januar 2019 wird sie ihr Buch im Rahmen einer Autorenlesung von 20.00 bis 22.00 Uhr im Kulturcafé Komm du in Harburg [2] vorstellen.


Anmerkungen:
[1] Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V. (BApK) in Bonn
https://www.bapk.de/schwerpunkte/kinder-psychisch-kranker-eltern.html
[2] Kulturcafé Komm du, Buxtehuder Straße 13, 21073 Hamburg-Harburg
http://www.komm-du.de

29. Oktober 2018


Heidi Lehmann
Bitterschönes Schicksal oder als meine Mutter seltsam wurde
Kuuuk Verlag mit 3 U, Königswinter bei Bonn, 2017
Paperback
217 Seiten
4 Euro
ISBN 978-3-96290-001-4


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