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BUCHBESPRECHUNG/020: Alexejewitsch - Tschernobyl, Chronik... (Umwelt) (SB)


Swetlana Alexejewitsch


Tschernobyl, eine Chronik der Zukunft



Tschernobyl, 26. April 1986 - Über die schwerste Reaktorkatastrophe des noch jungen Atomzeitalters der Menschheit wurde schon viel geschrieben. Meist verstiegen sich die Autoren oder Autorinnen in Zahlen über die Höhe des Verseuchungsgrads mit verschiedenen radioaktiven Stoffen wie Jod oder Cäsium, doch längst sind die täglichen Rubriken über verstrahlte Pilze, Beeren, Gräser, über belastete Luft und radioaktives Wasser aus den Zeitungen verschwunden, da sich niemand mehr dafür interessiert. Und auch wenn die Strahlung noch längst nicht abgeklungen ist, sondern sich zur Überraschung der Umweltwissenschaftler noch immer an bestimmten Stellen akkumuliert, so will doch heute niemand mehr etwas über eine Katastrophe vor beinahe elf Jahren wissen, die in der Vorstellung der Menschen, und nur dort, abgeschlossen ist.

Im Unterschied aber zu den vielen ambitionierten Werken über Tschernobyl bemüht sich die Autorin Swetlana Alexejewitsch in ihrem Buch "Tschernobyl, eine Chronik der Zukunft" gerade nicht um die Aufbereitung von Zahlen, entsprängen sie nun einer staatlichen Beruhigungspropaganda oder der Erhobenen-Zeigefinger- Position von Umweltaktivisten. Swetlana Alexejewitsch hat mit rund einhundert Betroffenen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gesprochen und läßt diese Menschen auf 258 Seiten die Ereignisse von damals Revue passieren. Was hier an menschlichen Irrungen, an Anpassungsbereitschaft und Gutgläubigkeit, aber auch an Nähe und Verbundenheit geschildert wird, ist ausdrucksstärker als jedes abstrakte Zahlenwerk.

Vorbei sind die Zeiten, in denen man in der Sowjetunion nur das offen sagen durfte, was von der Politriege im Kreml auch abgesegnet wurde oder von dem man zumindest glaubte, es sei konform. In diesem Buch reden sich Menschen von der Seele, was sie damals bewegt hat und auch heute noch, zehn Jahre nach der Katastrophe, innerlich aufrührt. Und bei dem, was die Betroffenen zu sagen haben, kommt die Obrigkeit nicht gut weg.

Da erzählt zum Beispiel ein Liquidator von jener berühmten roten Fahne, die schon wenige Tage nach der Explosion auf dem Dach des havarierten vierten Reaktorblocks errichtet worden war und über die die Zeitungen landesweit so stolz berichteten. Da hatte man wirklich ein Symbol aufgezogen, das stellvertretend für die ganze Katastrophe stand: Denn es dauerte gerade mal vier Wochen, da war das Tuch von der Strahlung so sehr zerfressen, daß die alte häßliche rote Fahne durch eine neue, frisch gebügelte ersetzt werden mußte. Vier Wochen darauf das gleiche Bild, der gleiche Vorgang, usw.

Aber nicht nur das Tuch zersetzte sich unter der Kraft der unsichtbaren Strahlung, auch die Menschen siechten dahin, nicht zuletzt jene, die den Auftrag angenommen und die Fahne eigenhändig auf dem Reaktordach errichteten. Wozu hat man Helden ...

Alexejewitsch läßt Menschen zu Wort kommen, die tatsächlich etwas zu sagen haben, deren Lebensweg und Einstellung der Leser mit- und nachvollziehen kann. Die einzelnen Monologe sind von ihr lediglich mit poetisch verfaßten Überschriften versehen. Das ist zweifelsohne ein Kunstgriff Alexejewitschs, der von einigen Kritikern der Vorwurf gemacht wurde, nur zusammengetragen und eigentlich die Bezeichnung Autorin nicht verdient zu haben. Ein ungerechtfertigter Vorwurf, denn letztlich ist das Ergebnis entscheidend und nicht, wer dazu in welchem Maße beigetragen hat.

Da spricht beispielsweise eine junge Frau davon, wie sie sich im Krankenhaus ohne Wissen der Ärzte zu ihrem Mann unter die Plastikdecke gelegt und ihn umarmt hat, wohl wissend, wie gefährlich seine viermal über der als tödlich geltenden Dosis liegende Verstrahlung auch für sie gewesen war. Hände und Füße waren ihm schon aufgeplatzt, die Haare fielen büschelweise aus, aber sie scherzte darüber.

Doch genau diese unbedarfte, das eigene Leben verleugnende Art der jungen Frau ist symptomatisch für den generellen Umgang mit der Reaktorkatastrophe. So braucht es nicht zu wundern, daß die russische Regierung unmittelbar nach der Havarie zu verharmlosen suchte. Die Bevölkerung kam erst nach und nach darauf, welche Bedeutung die radioaktive Fracht für die gesamte Ukraine, und nicht nur für sie, hatte. Der junge Mann jedenfalls, der bei der Feuerwehr gearbeitet und mitgeholfen hatte, Tschernobyl zu löschen, er liegt heute auf einem Moskauer Sonderfriedhof, eingelötet in einen Zinksarg und tief in die Erde gelassen, unter dicken Betonplatten, die begraben und vergessen machen sollen, was nie mehr an die Oberfläche zu dringen habe.

Der Physiker Valentin Alexejewitsch Borissewitsch vom Institut für Kernenergie an der Akademie der Wissenschaften Weißrußlands in Minsk mochte die kleinen Kohlmeisen, die immer an sein Laborfenster kamen und Ungeziefer aufpickten. Als sie eines Tages, an einem wunderschönen, sonnigen Frühjahrstag ausblieben, wunderte er sich. Doch dann maßen seine Kollegen erhöhte Radioaktivität am Versuchsreaktor! Da bei ihnen alles in Ordnung war, riefen sie die umgebenden Kernkraftwerke an. In Tschernobyl hob niemand ab ...

Wie die Tschernobyl-Explosion von der Bevölkerung aufgenommen wurde, ist nach der Lektüre dieses Buches keine Frage mehr. Und, der Buchtitel verrät es schon, auch künftigen Reaktorkatastrophen dürfte der Mensch auf die gleiche Weise begegnen: Verleugnen, verharmlosen, vergessen.

Swetlana Alexejewitsch
Tschernobyl, eine Chronik der Zukunft