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REZENSION/040: Steven Callahan - Im Atlantik verschollen (Seefahrt) (SB)


Steven Callahan


Im Atlantik verschollen



Dieses Buch ist all jenen Menschen gewidmet, die Leiden, Verzweiflung und Einsamkeit erfahren, erfahren haben oder erfahren werden.

Der amerikanische Autor Steven Callahan schrieb dieses Buch drei Jahre, nachdem sein Segelschiff 'Napoleon Solo' im Atlantik gesunken war und er selbst 76 Tage lang auf dem Rettungsfloß 'Rubber Ducky III' ums Überleben kämpfte. Callahan beschreibt dieses Ereignis als hauptsächlich schrecklich. "Die Wahrheit meiner Geschichte ähnelt einem perfekten Modell, das in der Realität nur unzulänglich nachgebildet werden kann. (...) Selbst meine eigene Wiedergabe ist lediglich eine unzulängliche Darstellung dessen, was ich wirklich erlebt habe. (...) Könnte ich das wahre Entsetzen vermitteln, das ich damals empfand, dann würde niemand diese Geschichte lesen wollen. (...) Außerdem wäre es ein langweiliger Lesestoff, hätte ich ständig auf die Schrecklichkeit der Situation hingewiesen. Die Erfahrung selbst war damals zu furchtbar, um langweilig werden zu können; doch der Leser sollte nicht vergessen, daß viele der Erlebnisse sich wiederholen und auch noch in ihren leichteren, reflektiven und instruktiven Momenten schrecklich waren." (aus: Anmerkungen und Dank des Autors, S. 283-287)


Steven Callahan hat schließlich eine packende Story aus diesem Stoff produziert, bei dem die Ernsthaftigkeit der Lage ununterbrochen gegenwärtig ist, jedoch im verträglichen Maß und auf beinahe unterhaltsame Weise vermittelt wird. Mit anderen Worten: Es ist dem Autor gelungen, dem Vergessen des furchtbaren Überlebenskampfes die Attraktion einer spannenden Seegeschichte abzugewinnen.

In der Einleitung stellt sich Steven Callahan als einen Träumer vor, der gerne Bilder malt, schreibt und dessen ganze Liebe der Seefahrt gilt: "Alles daran scheint zu stimmen." Er besitzt das, was man gemeinhin als 'sailor's soul' bezeichnet. Ist er auf See, weiß er genau, daß er einen Hafen ansteuern muß, um Vorräte aufzustocken oder um ein sanftes, warmes Ruhebett zu finden. Im Hafen angekommen, kann er es kaum erwarten, wieder aufs Meer hinauszufahren. Schon als kleiner Junge wünschte er sich nichts sehnlicher, als eines Tages den Atlantik zu überqueren. Diesen Kindertraum wollte er sich nun als 29-jähriger mit seiner selbstgebauten 'Napoleon Solo', einem knapp 21 Fuß langen Segelschiff, erfüllen.

Steven Callahan ist also ein ganz normaler Mensch, der wie alle anderen den Beschränkungen und Widrigkeiten des Alltags zu entfliehen versucht. Jeder tut dies auf seine Weise. Die einen gehen ins Kino, schauen sich einen schönen Film an und die anderen segeln für ihr Leben gern. Und wie alle Menschen, verwechselt auch Steven Callahan seine ganz individuelle Lebensweise mit einem Stück persönlicher Freiheit. Diese Verwechslung bekommt er während seiner Nordatlantik-Umsegelung hautnah und bitter zu spüren.


Anfang 1982 segelte Callahan unter Vollendung seines Atlantik- Turns von den Kanarischen Inseln aus heimwärts in Richtung Karibik. Schon vor einhundert Jahren wurde diese Route von Klippern, Walfängern und anderen Schiffen befahren, und sie erschien ihm sicher. In der Nacht vom 28. zum 29. Januar 1982 verließen er und die 'Solo' den Hafen von Hierro. Die erste Woche verlief sehr friedlich. Wind und Wellen trugen sein Boot sanft Antigua entgegen. Doch dieses Glück sollte nicht lange andauern. Ein Sturm kam auf, und das Furchtbare geschah: Die 'Solo' wurde von einer Riesenwoge erfaßt und innerhalb von einer Minute hatte sich das kleine Segelschiff in ein halb abgesoffenes Wrack verwandelt - und sank. Steven Callahan konnte gerade noch das Rettungsfloß von Bord befördern (ein selbstaufblasbares Avon- Standardmodell für 6 Personen) und sich mit den nötigsten Ausrüstungsgegenständen versorgen. Am nächsten Morgen sah er noch einmal kurz das Licht auf der Mastspitze der 'Solo' aufflackern, bevor sie vollständig von der See verschlungen wurde. Er zog die Halteleine ein, die nun nur noch lose und nutzlos aufs Wasser schlug. Mit seinem Segelschiff waren auch alle weiteren Hoffnungen auf Lebensmittel, Wasser und Kleidung, die sich an Bord befanden, entschwunden.

Die ersten vierzehn Tage waren erfüllt vom Sondieren der Lage, vom Sichten der Vorräte, und sehr bald schon von Hunger und Durst. Diese beiden Begleiter würden fortan stets an seiner Seite sein. Er befand sich ungefähr 450 Meilen nördlich der Kapverdischen Inseln und konnte sich nur in die Richtung treiben lassen, aus der der Wind wehte. Demnach hätte er noch 450 Meilen bis zur nächsten Schiffahrtslinie und 1800 Meilen bis zum nächstmöglichen Land, den Inseln der Karibik, zurücklegen müssen. Seine Lage erschien aussichtslos.

Schnell erkannte Callahan, daß das sogenannte Gleichgewicht der Natur in Wirklichkeit darauf hinausläuft, daß jeder jeden zu fressen versucht. Und er wollte 'fressen' - unter allen Umständen. Callahan zeigte von Anfang an einen stark ausgeprägten, streng durchgeplanten Überlebenswillen. Alles in allem errechnete er nach dem 11. Tag auf See eine Überlebenschance für maximal weitere 20 Tage. Das machte insgesamt 31 Tage. Wie aber überstand er die nächsten 35 Tage?

Von Tag zu Tag spitzte sich die Situation zu. Immer neue Probleme tauchten auf, die bewältigt werden mußten, um ein Weiter zu gewährleisten. So konnte er beispielsweise Vision von Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Ein 'Rettungstraum' kostete ihn sechs Leuchtsignale, die er vergeblich in die Luft schoß, sowie einen halben Liter Wasser, den er im Freudestaumel förmlich in sich hineingoß. Was würde er bei seiner nächsten 'Begegnung' mit einem Schiff machen? Er wußte es nicht. Oft halfen ihm Tagträume aber auch über die Verzweiflung hinweg, die ihn angesichts der Vierzehnhundert-Meilen-Wasserwüste, die ihn vom Festland trennte, zu übermannen drohte.

Jede Handlung und Entscheidung erforderte das Abwägen vieler sogenannter Kleinigkeiten, um eine optimale Verlustminimierung zu erzielen. Dennoch plagten Callahan ständige Zweifel an seiner Vorgehensweise: "Trifft meine Kontrollzentrale die richtige Entscheidung?" - Fischen kostet Kraft. Wann ist es sinnvoll, diese Körperkraft einzusetzen, um die Vorräte aufzustocken und wann ist es Verschwendung? - Auf keinen Fall Weinen vor Verzweiflung! Diesen Verlust an

Körperflüssigkeit kann man sich einfach nicht leisten. - Jedesmal, wenn man vom Rand der Rettungsinsel aus mit der Harpune zu fischen versucht, riskiert man, Angelwerkzeug oder Floß zu beschädigen. Die Folge wäre über kurz oder lang der sichere Tod. Andererseits stirbt man auch, wenn man nicht fischt. - Ein gefangener Fisch bedeutet Nahrung. Dieses blutige Geschäft kann jedoch auch Haie anlocken, und man wird unter Umständen selbst zur Nahrung.

Bei allen Anstrengungen, Mangelerscheinungen des Körpers zu kompensieren, verlor Callahan mehr und mehr an Substanz, fraß sich förmlich selbst auf. In sein Logbuch vom 3. März, also vom 27. Tag auf See, notierte er: "Kein Gramm Fett mehr an diesem Gerippe!" - ganz abgesehen von Geschwüren, Schnitten und unzähligen Wunden am ganzen Körper. Die ständig salzige Feuchtigkeit im Floß tat das Übrige. Selbst wenn sich der Schlafsack tatsächlich einmal im trockenen Zustand befand, rieb der vom Salz verkrustete Stoff die Wunden auf.

Dennoch gelang es Steven Callahan mittels eines ständigen Kampfes um Kontrolle und Selbstdisziplin, eine gewisse Bordroutine einzuhalten. Ein normaler Tag verlief etwa so: - Alle halbe Stunde Ausschau halten nach eventuellen Booten,

Flugzeugen und zur Peilung der Wetterlage. - Mehrere Stunden am Tag fischen. - Ständiges Umsorgen der Destillations-Geräte, die, wenn's hoch

kam, einen halben Liter Wasser am Tag produzierten. - Körperpflege. Dazu gehörte das Abgießen mit Salzwasser während der Mittagshitze, regelmäßige Yoga-Übungen, Wechsel von Stehen, Knien und verschiedenen Liegepositionen. - Trocknen der Gegenstände, ständiges Beobachten des Zerfalls von

Ausrüstungsgegenständen, um sofort eingreifen zu können. - Sofortiges Entwickeln von neuen Ideen bei Ausfall einer Funktion (z.B. den Rost eines Werkzeugs dem Trinkwasser beigeben) und vieles mehr. - Jede Tätigkeit muß lebenswichtig sein!

War es dunkel geworden, so trank Callahan, sofern vorhanden, einen Viertel Liter Wasser und bereitete sich auf die Nachtwache vor. Selbst während der wenigen Schlafperioden begleiteten ihn die Geräusche des Floßes und der See, um bei der kleinsten Abweichung sofort hellwach und einsatzbereit zu sein.

Dennoch war es trotz aller Vorkehrungen nur eine Frage der Zeit, wann das Meer den Kampf gewinnen würde. Diese Zeit galt es, so gut es ging, hinauszuzögern. Am 27. März, also am 51. Tag auf See, kam es zu einem Zwischenfall beim Fischen, der an der 'Rubber Ducky' starke Schäden verursachte. Jetzt wurde sie nur noch von dem oberen Luftschlauch getragen. Ein notdürftiger Flicken des Lochs im Unterboot konnte den Schaden zwar kurzfristig beheben; allerdings nicht ohne folgenschwere Konsequenzen. Die Reparatur erforderte ein regelmäßiges Nachpumpen des Schlauchs, was jedoch angesichts des sowieso schon sehr stark geschwächten Körpers einen erheblichen Verlust bedeutete. Arbeiten, die noch vor kurzem fünf Minuten in Anspruch genommen hatten, kosteten inzwischen bis zu einer halben Stunde. Das wäre durch Wasser- und Nahrungszufuhr auszugleichen, die jedoch aufgrund der widrigen Umstände nicht ausreichend vorhanden waren. "Von nun an wird es ein ununterbrochener Kampf sein, mich an dem Faden, der mich mit meiner Welt verbindet, festzuklammern, ihn aber nicht zu zerreißen. (...) Das wird zu einem Problem, das die ständigen Ängste, die mit einem Leben am seidenen Faden verbunden sind, übersteigt. Sorgfältig achte ich auf Anzeichen von Meuterei in meinem Innern." (S. 197) Und immer wieder fragt sich der Leser: Wie kann ein Mensch unter diesen Bedingungen den Rest der Tortur auch noch durchhalten?

Das Gummi des Bootes begann sich aufzulösen. Callahan kratzte die glibbrige Masse zusammen, knetete sie und stopfte den Klumpen als zusätzliche Abdichtung in das Flickwerk für den unteren Schlauch der 'Rubber Ducky'. Immer wieder entwickelte der Überlebenskünstler neue Ideen, hatte er Glück, daß das Wetter mitspielte, wenn's darauf ankam. Immer wieder gelang es ihm, Regenwasser aufzufangen, einen Fisch zu angeln, einen Hai abzuwehren - und den nächsten Tag zu erleben.

Dann endlich, am 75. Tag: Neue Fische, neue Vögel, eine andere Färbung des Wassers, kein Tang mehr. Die Fahrt sollte nun bald vorüber sein. Land war in Sicht! Ein letztes Mal zog Callahan alle Kraftreserven zusammen und bereitete sich auf die Landung vor, die in dieser korallenreichen Gegend gewiß kein Kinderspiel sein würde. Noch war er nicht gerettet. - Und er hatte ungeheures Glück. Drei einheimische Fischer griffen ihn auf.

Paulinus überschreit das Dröhnen des Motors: 'Du hast viel Glück. Wir fischen nicht östlich von Marie Galante (Guadeloupe). Nur heute. Wir fuhren herum und sahen die Vögel, sehr weit weg. Sie fliegen weit raus aufs Meer. Wir fischen nicht so weit draußen. Aber heute haben wir beschlossen, wir fahren raus. Wir kommen näher, wir sehen was. Wir denken, vielleicht ist es ein Faß. Wir fahren hin, vielleicht sind Goldmakrelen hier. Wird sind da - und es ist kein Faß. Du bist es.' (Seite 262/263)

Mit Sicherheit kämpfte Steven Callahan effektiver als manch anderer Mensch um sein Leben, dennoch zieht er daraus keine Konsequenzen, räumt dem Vergessen den Vorrang ein und bestätigt nach wie vor das Prinzip von Leid und Schmerz, von Erlösung und Belohnung. Sein Buch schließt mit folgenden Sätzen:

"Schließlich möchte ich der See meine Danksagung aussprechen. Sie hat mir eine ganze Menge über das Leben beigebracht. Obwohl die See mein größter Feind war, so war sie gleichzeitig doch auch mein bester Verbündeter. Rein verstandesmäßig weiß ich, daß es der See gleichgültig ist, was geschieht, doch ihr Reichtum und ihre Fülle haben mir erlaubt zu überleben. Indem sie mir ihre Goldmakrelen schenkte, schenkte sie mir sozusagen ihre eigenen Kinder, damit ich leben konnte.

Ich hoffe sehr, daß ich mich in meinem restlichen Leben all der mir erbrachten Opfer würdig erweisen werde." (Seite 287)


Steven Callahans Buch "Im Atlantik verschollen" bietet jedem Leser eine wunderbare Möglichkeit, sich mit einer solchen Extremsituation zu beschäftigen, ohne ihr direkt ausgesetzt sein zu müssen. Man kann die Geschichte zum Anlaß nehmen, sich eine Handvoll grundsätzlicher Gedanken zu machen, bei denen die Frage nach dem Leben vielleicht sogar wichtiger wird, als die nach dem Überleben.


Steven Callahan
Im Atlantik verschollen
Ins Deutsche übertragen von Werner Waldhoff
SV International Schweizer Verlagshaus, Zürich 1986