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REZENSION/071: Günther Sachse - Praktische Diabetologie (Medizin) (SB)


Prof. Dr. med. Günther Sachse


Praktische Diabetologie



In Deutschland gibt es rund vier Millionen Diabetiker, von denen zirka 90 Prozent zu der Gruppe der Typ-II-Diabetiker gehören. Anders als der früher gebräuchliche Begriff "Spätschäden" glauben machte, beginnen die Folgeschäden des Diabetes mellitus bereits sehr früh. Daher sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, bei jedem Diabetiker von Anfang an eine annähernd "normale" Stoffwechsellage anzustreben. In Europa und den USA wird jedoch die Hälfte aller Typ-2-Diabetiker überhaupt nicht diagnostiziert. Aus diesem Grund schuf die Amerikanische Diabetesgesellschaft (ADA) im Juli 1997 neue Richtlinien, die Abhilfe schaffen sollten. Mit den von ihr aufgestellten Kriterien zur Feststellung eines Diabetes mellitus wurden dann auch rund 20 Prozent mehr Typ- 2-Diabetiker entdeckt als zuvor.


Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, wie wichtig gute und übersichtliche Fachbücher für das Gebiet der Diabetologie sind, und zu diesen kann man das recht dünne Taschenbuch "Praktische Diabetologie", das nun bereits in der 3. Auflage vorliegt, rechnen. Seine Zielsetzung ist es, praktisch anwendbares Wissen in knapper Form zu vermitteln.

Dies ist in einem ungewöhnlich hohen Maß gelungen. Ohne überflüssigen Balast vermittelt es in Kürze die wichtigsten Daten und Fakten. Mit Hilfe eines knapp gehaltenen, aber ausreichenden Indexes findet man schnell zu den richtigen Seiten, die dann auch die gewünschte Information vermitteln. Die klare, immer wiederkehrende Gliederung der einzelnen Kapitel ermöglicht es, in Sekundenschnelle auch mehrere Seiten zu überblicken, um gezielt ein bestimmtes Thema nachzuschlagen.

Doch auch zur Einführung in das große Gebiet der Diabetologie ist dieses kleine Buch geeignet. Trotz der komprimierten Information läßt es sich leicht und flüssig lesen, was nicht zuletzt an den kurzen, prägnanten Sätzen liegt. Die Sprache ist einfach gehalten und wesentliche Stichworte sind im Text durch Fettdruck hervorgehoben.

Der Einleitung des Buches kann man entnehmen, daß es dem Autor im wesentlichen um eine effektive Diabetikerbetreuung in der Praxis geht. Dies merkt man auch daran, daß er die Krankheit und ihre zahlreichen Folgeschäden in keiner Weise verharmlost. Zudem verwendet er, wenn es um die Kausalverkettung von Ursache und Wirkung und um die Schuldzuweisung bei schlecht einzustellenden Blutzuckerwerten geht, sehr viel vorsichtigere Formulierungen als viele andere Autoren, die sich zu diesem Thema geäußert haben.

So schreibt er:

Eine effektive Stoffwechselführung ist ein Wunschtraum der Diabetologen, seitdem das Krankheitsbild Diabetes mellitus bekannt ist. Glaubte man, mit der Entdeckung des Pankreasdiabetes und der Einführung des Insulins die Ursache und die ätiologische Therapie des Diabetes mellitus gefunden zu haben, so mußte man bald feststellen, daß das neue Wissen und die damit verbundenen Behandlungs- möglichkeiten eine Reihe nicht vorhersehbarer Probleme aufweisen. Während vor der Entdeckung des Insulins akute Stoffwechselentgleisungen wie Ketoazidose und diabetisches Koma im Vordergrund des klinischen Verlaufs standen und die Lebenserwartung des Diabetikers bestimmten, sind es heute die diabetischen Folgeschäden, die uns zu größter Sorgfalt bei der Stoffwechselführung des Diabetikers veranlassen.
Wenn auch die Ursachen dieser diabetischen Folgeschäden bis heute nicht eindeutig geklärt sind, so scheint doch zu gelten, daß eine exakte Stoffwechselführung mit dem Ziel der möglichst weitgehenden Annäherung an eine Stoffwechselnormalisierung die Entstehung diabetischer Folgeschäden beeinflussen kann.

Dies wurde nun durch die Ergebnisse der im Herbst 1998 veröffentlichten UKPD-Studie, die über einen Zeitraum von 20 Jahren lief, bestätigt.

Was für den Typ-1 Diabetes bereits seit Jahren als bewiesen galt, konnte damit endlich auch für den Typ-2 Diabetes nachgewiesen werden, daß nämlich ein konsequenter präventiver Ansatz und die möglichst normoglykämische Einstellung nicht nur des jungen, sondern auch des älteren Diabetikers durch eine intensivierte Therapie dazu führen, daß die Entwicklung diabetesbedingter Folgeschäden gebremst wird.

Daß ein seit Jahren offensichtlicher Zusammenhang zwischen guter Stoffwechsellage und Verringerung der Folgeschäden auch bei Typ 2 Diabetikern erst nach Abschluß einer wissenschaftlichen Studie offiziell anerkannt wird, ist bezeichnend für die Prioritäten in der Medizin. Nicht das Wohl der Patienten, sondern in erster Linie die wissenschaftliche und rechtliche Absicherung sowie Aspekte der ökonomischen Vertretbarkeit stehen allzu oft Pate bei der Aufstellung eines Therapieplans. Doch wie schnell nun diese neuen Erkenntnisse in großem Stil umgesetzt werden und zu Konsequenzen in der Diabetes-Behandlung führen, sei dahingestellt.

Überhaupt nicht nachvollziehbar - erstaunlicherweise jedoch von der Öffentlichkeit bislang noch nicht kritisiert - ist, daß man im Rahmen der UKPD-Studie rund 1.100 Diabetikern über viele Jahre eine effiziente Therapie vorenthielt. Denn diese Patienten im Alter zwischen 25 und 65 Jahren wurden "konventionell" mit Diätberatung behandelt und bekamen keine Medikamente, solange ihr Glukosewert unter 270 mg/dl lag. Dabei empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation bereits seit vielen Jahren einen Nüchternglukosewert im venösen Plasma unter 140 mg/dl und seit Juli 1997 sogar nur einen Wert von weniger als 120 mg/dl.

Angesichts dieser Fakten klingt die folgende Beurteilung der Studie durch Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert vom Institut für Diabetesforschung in München wie ein Hohn:

Die UKPDS stellt ein Meisterstück an Wissenschaftlichkeit und praktischer Relevanz dar. Sie hat gezeigt, daß die alten Diabetologen (wie Joslin und Constam) recht hatten. Die gute Diabeteseinstellung, ebenso wie die optimierte Behandlung des Hochdrucks, lohnt sich nicht nur, wie lange erwiesen, bei Typ-1-, sondern vor allem auch bei Typ-2-Diabetikern. Sie stellt die entscheidende Grundlage für die Prävention vaskulärer Komplikationen dar. [1]

Als ob man das nicht schon lange gewußt hätte...


Die zahlreichen neuen Erkenntnisse, die Veränderungen beispielsweise auch der WHO-Richtlinien sowie die Konsequenzen, die nun hoffentlich bald aus der vor kurzem erschienenen britischen Studie gezogen werden, machen eine weitere Überarbeitung und Anpassung dieses praktischen Buches über Diagnostik und Therapie des Diabetes an den aktuellen Stand der Wissenschaft in nicht allzu ferner Zukunft wünschenswert.

Literatur:
[1] Dt Ärztebl 1998; 95: A-2849-2850 [Heft 45]


Prof. Dr. med. Günther Sachse
Praktische Diabetologie
Diagnostik und Therapie in Klinik und Praxis
2. überarbeitete Auflage
Schattauer, New York, Stuttgart 1998
107 Seiten, Taschenbuch, 24,80 DM
ISBN 3-7945-1833-0