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REZENSION/196: F. Deppe - Politisches Denken zwischen den Weltkriegen (SB)


Frank Deppe


Politisches Denken zwischen den Weltkriegen



Der zweite Band des in Marburg lehrenden Politikwissenschaftlers Frank Deppe zum Politischen Denken im 20. Jahrhundert behandelt ein für die Europäer besonders schmerzhaftes Kapitel der Weltgeschichte. Der epochale gesellschaftliche und politische Wandel, den der Erste Weltkrieg ausgelöst hatte, führte zu einer nur befristeten Erholung von kriegerischer Gewalt in Europa, um dann in dem noch blutigeren Fiasko des Zweiten Weltkriegs zu entufern und anschließend eine neue Krisenkonstellation zu schaffen, die den Europäern allerdings ein Phase des relativen Friedens und Wohlstands bescherte. Deppe behandelt in dem Band "Politisches Denken zwischen den Weltkriegen" das Ende Europas als bisheriges Zentrum der globalen Entwicklung und den Niedergang seiner bürgerlichen Klasse, die in einer Radikalisierung der Politik "zwischen Revolution und Gegenrevolution, zwischen Demokratie und Totalitarismus" (S.21) ihre tonangebende Position verlor.

Im ersten und längsten Teil des Buches "Die Zwischenkriegsperiode - oder: der 'Dreißigjährige Krieg' 1914 - 1945" umreißt der Autor die prägenden Ereignisse dieser Zeit im engen Zusammenspiel von ökonomischer Entwicklung, ihren sozialen Folgen und der geistigen Verarbeitung der dominanten Kräfteverhältnisse. Deppe analysiert die politischen Bewegungen der revolutionären und reformistischen Linken, des Liberalismus, Konservativismus und Faschismus stets unter Bezugnahme auf die sie formierenden Bedingungen, zu denen sich die gesellschaftlich relevanten Gruppen ihren Interessen gemäß verhalten. Seine Deutung des Geschichtsverlaufs steht in der Tradition einer marxistisch inspirierten Soziologie, die die politischen Akteure nicht in einem sterilen Kosmos hehrer Ideen ansiedelt, sondern unter dem Vorzeichen ihrer sozialen Herkunft, ökonomischen Bemittelung und politischen Ambitionen abhandelt.

So findet bei Deppe kein Wettkampf der Ideen und Konzepte statt, der die Dynamik der historischen Entwicklung aus den Willensentscheidungen dominanter Personen erklärt, sondern der Politikwissenschaftler bemüht sich stets um die Einbeziehung der gesellschaftlichen, ökonomischen und biographischen Beweggründe, die Politiker und Denker antreiben. Dabei steht Deppe mit seinem im Jahr 2003 abgeschlossenen Werk vor dem besonderen Problem der Diffamierung emanzipatorischen Denkens durch eine Bevölkerung, der der Niedergang der staatssozialistischen Systeme Osteuropas als historischer Sieg des Kapitalismus weisgemacht wird. Antikapitalistische und antiimperialistische Konzepte sind daher nicht nur nicht mehrheitsfähig, sie sind zu einer Fußnote des politischen Geschehens geschrumpft und sollen auch eine solche bleiben, wenn es nach dem Willen der herrschenden Eliten geht.

Um so wichtiger ist eine Aufarbeitung linken Denkens vor dem Hintergrund gemachter Fehler. So beleuchtet Deppe die Entwicklung der europäischen Linken seit Beginn des Ersten Weltkriegs vor allem im Lichte des Widerstreits zwischen revolutionären Kommunisten und reformistischen Sozialisten, wobei er in beiden Lagern ein "Primat der Praxis" diagnostiziert, das die sowjetkommunistische Theorie zur doktrinären Weltanschauung und rigiden Glaubensform degenerieren ließ, während die sozialdemokratischen Parteien frühzeitig dem realpolitischen Druck nachgaben und bisweilen zu Mehrheitsbeschaffern ihrer politischen Gegner, dem ehemaligen Klassenfeind, mutierten.

Deppe geht auch auf den Antikommunismus der Linken ein, der in den neunziger Jahren viele Apostaten kommunistischer Parteien zu tätiger Reue veranlaßte. Insbesondere in Frankreich wuschen sich zahlreiche ehemalige Kommunisten mit scharfen Angriffen auf den totalitären Charakter des Sowjetkommunismus von ihren Sünden rein. Dabei verwirft der Autor den vermeintlich antiideologischen Charakter der Totalitarismustheoretiker unter Verweis auf den reaktionären, ja, nicht minder ideologischen Charakter ihrer Argumentation:

"Es gibt wohl sektiererische und esoterische - literarische, religiöse und auch politische - Zirkel, die das Handeln ihrer Mitglieder durch den Glauben an die Ideologie und die Gruppenführer erzeugen und anleiten. Das Handeln größerer Menschenmassen kann jedoch rational niemals nach diesem Muster begriffen werden. Stets muß die Bereitschaft der Massen, an Ideologien und an die Personifikationen eines politischen Mythos (in Gestalt des Führers) zu glauben, von realen Erfahrungen und Bedürfnissen ausgehen, die durch die gesellschaftliche und politische Entwicklung, durch die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse sowie durch die Kämpfe um ihre Veränderung objektiv bestimmt sind." (S.41f)

Die von den Kritikern stalinistischer Grausamkeiten verfolgte Gleichsetzung des sowjetischen Systems mit dem des deutschen Nationalsozialismus machen eine höchst vordergründige Rechnung auf, wenn sie mit Zahlenvergleichen die unter völlig unterschiedlichen Bedingungen ums Leben gekommenen Opfer politischer Gewalt gegeneinander aufrechnen. Schon die Frage, welchen Stellenwert die an den Folgen kolonialistischer und imperialistischer Politik verendeten Menschen in einer solchen Rechnung hätten beziehungsweise welcher Partei sie anzulasten wären, zeigt die Haltlosigkeit einer Leichenzählerei, der zudem der Makel einer opportunistischen Vollstreckung erwünschter Kapitalismusapologie anhaftet.

Wohin eine von diesem Motiv getriebene Abrechnung mit gescheiterten Versuchen, dem Menschen zu Freiheit und Gleichheit zu verhelfen, führt, kann anhand der wachsenden Gewaltbereitschaft einer sich immer repressiver und antidemokratischer gebärdenden Regierungspolitik in den Zentralen der Globalisierung studiert werden. Deppe erinnert daran, daß "Elementare demokratische Rechte und alle Schritte zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (...) in der Regel durch Kampf, d.h. durch Anwendung von Gewalt (z.B. durch Streiks oder durch Massendemonstrationen, die mit der Gewalt von Polizei und Militär konfrontiert wurden), durchgesetzt" (S.44) wurden. Das gilt für die gesamte Geschichte der Befreiung des Menschen von seinen jeweiligen Herren, Peinigern und Ausbeutern, die niemals einen Grund gehabt hätten, ihre zulasten anderer optimierten Lebenschancen freiwillig zu sozialisieren.

Eine autoritäre und dogmatische Entwicklung kommunistischer Ideologie wie die des Stalinismus ist ohne eine Analyse der ökonomischen, organisatorischen und außenpolitischen Probleme der damaligen Sowjetunion nicht angemessen zu bewerten. Sie mit nationalsozialistischem Rassenwahn gleichzusetzen ist ein Ausdruck ideologischer Verallgemeinerung, die signifikant ist für das niedrige Niveau aller Rechtfertigung der krassen sozialen Widersprüche, die der globale Kapitalismus hervorbringt. Schließlich geht es den Totalitarismustheoretikern nicht nur darum, den Sowjetkommunismus als bürokratisches und diktatorisches System zu diskreditieren, sondern den Kapitalismus sowohl von der Verantwortung für den Hitlerfaschismus wie für die soziale und ökologische Zerstörung der heutigen Welt freizusprechen.

Deppe selbst ist keineswegs darauf aus, den "Stalinschen Terror" zu rechtfertigen, er schränkt jedoch die Gültigkeit der selektiven Aufrechnerei, die den historischen Gesamtprozeß nicht in Rechnung stellt, durch die Wiedergabe der dagegen gerichteten Argumente ein:

"Die Wirkungen des Stalinismus - vor allem im Bereich der Kultur, der Wissenschaft und der Entwicklung des Marxismus, der als von Stalin autorisierter 'Marxismus-Leninismus' zur Staatsideologie degenerierte - waren katastrophal. Und doch wurde die Stalin-Ära der Sowjetunion - vor allem nach dem Sieg der Roten Armee über die deutschen Okkupanten und mit dem nachfolgenden Aufstieg zur Weltmacht - von einem großen Teil der Bevölkerung als das Ergebnis einer gewaltigen sozialen und nationalen Anstrengung, als Fortführung des 'heroischen Zeitalters' der Revolution, empfunden. Letztlich dienten - nach der herrschenden Ideologie - auch die Opfer dem Aufbau des Sozialismus und der Schwächung des Imperialismus in der ganzen Welt - und damit dem welthistorischen Fortschritt. (S.71f)

Die Frage nach der Beschaffenheit der Gewaltverhältnisse, den Kräften und Interessen, die sie bestimmen, prägt nicht nur die Debatte in der Linken, sondern ist für sämtliche politische Fragen konstitutiv. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die von Deppe vorgestellten und analysierten Theorien, denn auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag, so werden selbst in den abgehobensten Sphären politischer Ideologie konkrete Probleme der Verfügungsgewalt in Staat und Gesellschaft abgehandelt. So ist die Distanz zwischen Theorie und Praxis bei Deppe denn auch nie so groß, daß man nicht jederzeit in der Lage wäre, den Zusammenhang zwischen den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und den ihnen zeitgeschichtlich entsprechenden, aus ihnen schöpfenden und sie beeinflussenden Konzepten und Ideologien herzustellen.

Es ist ein hervorstechendes Merkmal der Anlage seines Werkes, den biographischen Werdegang der vorgestellten Denker in die sie prägenden historischen Umstände einzubetten und darüber ein tieferes Verständnis für ihre theoretischen Leistungen zu erwecken, als es das bloße Referieren der Ideengeschichte ermöglichte. Zur Transparenz des Vorgangs der Theoriebildung trägt zudem bei, daß der Autor die von ihm vorgestellten Personen in den Kontext der Debatten stellt, die sie mit Freunden wie Gegnern geführt haben. Dabei bilden sich Strukturen aus, die Deppe unter Bezug auf Antonio Gramsci bereits in der Einleitung zu Band 1 "Politisches Denken im 20. Jahrhundert - Die Anfänge" als "gleichsam idealtypische Konfiguration der Politik" bezeichnet hat. Auch im vorliegenden zweiten Band läßt der Autor in seiner Entgegnung auf die These vom "Terror der Ideologien", die maßgeblich für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich seien, durchblicken, wie das strukturgebende Moment seiner Arbeit beschaffen ist:

"Offensichtlich vollzieht sich die Radikalisierung des politischen Denkens und Handelns jeweils im Kontext praktischer Erfahrungen (z.B. des Krieges oder der Weltwirtschaftskrise) sowie der Veränderung konkreter politischer Kräfteverhältnisse. Ideologien sind notwendiger Bestandteil - gleichsam das 'Bindemittel' oder eben der 'ideologische Zement' - eines 'historischen Blocks' von sozialen und politischen Kräften, für dessen Zustandekommen und Wirken, aber auch für dessen Veränderung im Zuge politischer Auseinandersetzungen neben den objektiven, materiellen Bedingungen der Ökonomie und der Gesellschaft die politischen Institutionen und Machtverhältnisse (einschließlich der 'ideologischen Staatsapparate'), die Traditionen und Wertvorstellungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die politischen Ideologien im engeren Sinne. Diese wirken wohl verstärkend und orientierend, aber niemals erzeugend auf massenhaftes politisches Handeln ein. Eine hegemoniale Konstellation zeichnet sich dadurch aus, dass ein 'ideologisches Paradigma' die objektiven und subjektiven Momente des 'historischen Blockes' miteinander verbindet und dadurch - durch die Formulierung gemeinsamer Interessen und Ziele sowie durch die Einwirkung auf gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse - geschichtsmächtig wird." (S.41)

Politischen Formationen dieser Art sind die Kapitel 2 bis 8 gewidmet. In ihnen vertieft Deppe die im 1. Kapitel im großen Bogen abgehandelte Zwischenkriegszeit, die er unter die Leitmotive politische Radikalisierung, kriegerische Gewalt, Wandel im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Niedergang des liberalen Bürgertums, Aufstieg einer technokratisch gelenkten Massenkultur, Krise der kapitalistischen Ökonomie und Probleme des Sozialkampfes gestellt hat.

So ist Kapitel 2 "'Konservative Gegenrevolution' und Faschismus: Carl Schmitt" dem sich gerade dieser Tage verstärkten Interesses erfreuenden Vordenker machiavellistischer Eliten gewidmet, die in den neokonservativen Beratern des George W. Bush die derzeit eindeutigste Manifestation des unbedingten Willens zur Macht darstellen. Die die Staatsrechtslehre dominierende Frage, "ob und wie politische Ordnung (Stabilität) durch den demokratisch verfaßten Staat überhaupt noch zu gewährleisten ist, wenn die Gesellschaft durch organisierte Gruppen- bzw. Verbandsinteressen und durch den Klassenkampf zutiefst gespalten ist" (S. 170), wird von diesen in einem Sinne beantwortet, die dem "Kronjuristen" des nationalsozialistischen Expansionismus durchaus eingeleuchtet hätte. Die von Schmitt geradezu zum Ausweis souveränen Handelns erklärte Möglichkeit, die Demokratie durch den Ausnahmezustand auf legale Weise aufzuheben, zeigt die Aktualität seiner Auffassung vom effizienten Wirken staatlicher Verfügungsgewalt auf.

Deppe ist weit davon entfernt, der Faszination zu erliegen, die nicht nur Neurechte für Schmitt hegen. Er verweist auf inhaltliche Brüche in der Arbeit des Staatsrechtlers, läßt seine "politische Theologie" als Schnittstelle für opportunistische Arrangements mit herrschenden Kräften erkennen und ordnet sein Wirken in der Bundesrepublik, wo er sich nur noch aus dem Abseits eines Daseins als Privatgelehrter heraus äußern konnte, der Ausbildung autoritärer Staatlichkeit im Sinne der "wehrhaften Demokratie" zu.

Im 3. Kapitel "Antonio Gramsci - das Scheitern der bolschewistischen Revolution im Westen" stellt der Autor ausführlich die Überlegungen vor, die der italienische Kommunistenführer zur Frage der politischen Hegemonie, des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft sowie der Überwindung kapitalistischer Herrschaft angestellt hat. Dabei erinnert er daran, daß die "theoretischen Reflexionen Gramscis - selbst seine Auseinandersetzung mit dem philosophischen Determinismus auf der einen und dem Idealismus auf der anderen Seite - (...) im Zusammenhang von strategisch-politischen Überlegungen (stehen), die sich sowohl auf die Frage nach den Machtverhältnissen entwickelter bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften als auch auf die Probleme revolutionärer Politik in Italien konzentrieren" (S.225). Es handelte sich bei Gramsci also nicht um einen bloßen Theoretiker der "Zivilgesellschaft", wie es heute bisweilen erscheint, sondern um einen Praktiker der Revolution, der sich sicherlich nicht mit einer Reformierung des Kapitalismus zufriedengegeben hätte, die im wesentlichen die Aufrechterhaltung herrschender Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse betreibt.

"Gramscis Denken ist - oberflächlich betrachtet - darin politisch, dass er sich politisch als handelndes Subjekt, als Revolutionär der Arbeiterbewegung, versteht. Marxistische Politik ist aber für ihn 'Philosophie der Praxis'; denn die geschichtliche Bewegung ist nicht nur Verdichtung von Strukturen und Handlungen, von Elementen der ökonomischen Basis, des Überbaus und der Naturbedingungen menschlichen Handelns, sondern sie ist auch charakterisiert durch Konflikte und Kämpfe, in denen sich die objektiven Widersprüche bestehender Herrschaftsverhältnisse reproduzieren - vermittels der Kämpfe der verschiedenen sozialen Gruppen, Klassen und Klassenfraktionen um die Durchsetzung ihrer materiellen und kulturellen Interessen sowie um die Bewahrung, die Weiterentwicklung und Anpassung sowie um die grundlegende Umwälzung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse." (S.234)

Im 4. Kapitel "Organisierter Kapitalismus und Wirtschaftsdemokratie - Rudolf Hilferding und die Sozialdemokraten zwischen den Kriegen" erfährt man nicht nur viel über Fragen der politischen Ökonomie, die um den Begriff des "Finanzkapitals" als "höchste und abstrakteste Erscheinungsform" des Kapitals zentriert sind, sondern auch über die Geschichte der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie. Anhand der Biographie des SPD-Politikers und Wirtschaftswissenschaftlers Hilferding wird exemplarisch geschildert, daß eine zutreffende Analyse der ökonomischen und politischen Machtverhältnisse keineswegs zur folgerichtigen Aufhebung derselben führen muß.

Im 5. Kapitel "'Westlicher Marxismus' und Kritische Theorie - die frühe Frankfurter Schule" geht Deppe auf einen großen Kreis einflußreicher Theoretiker ein, denen der revolutionäre Elan von Anfang an weniger bedeutsam erschien als die Möglichkeit, sich anhand von intellektuellen Reflexionen der konkreten Auseinandersetzung mit den politischen Machthabern zu entziehen. Die Komplexität und Schärfe der Analysen der um das Institut für Sozialforschung Max Horkheimers gruppierten Theoretiker faszinieren politisch interessierte Leser bis heute, doch werden die Untersuchungen zu den "autoritären Dispositionen" der proletarischen und bürgerlichen Massen immer weniger zur Herrschaftskritik und immer mehr zur Apologie der über sie verfügenden Interessen eingesetzt.

Man kann die Karriere des Instituts für Sozialforschung von seiner Gründung im Jahre 1923 über die Emigration seiner führenden Mitarbeiter in die USA und seine Wiedereröffnung in Frankfurt 1951 als Rahmen der Geschichte einer fortwährenden Distanzierung von sozialistischer Praxis und der Ausbildung eines in letzter Konsequenz staatstragenden Antifaschismus verstehen. Deppe stellt die theoretischen Ansätze der Frankfurter Schule jedoch weitgehend frei von einer solchen Bewertung vor und beeindruckt dabei mit einer Fülle von Kurzporträts, mit denen in das Denken von Karl Korsch, Georg Lukács, Franz Neumann, Leo Löwenthal und Theodor W. Adorno, um nur einige zu nennen, eingeführt wird.

Im 6. Kapitel "Massenarbeitslosigkeit und das Ende des Laisser- Faire - John Maynard Keynes und die politische Theorie des 'Sozialliberalismus'" wird der Leser mit derjenigen Wirtschaftstheorie vertraut gemacht, die die internationale Politik im Anschluß an die Weltwirtschaftskrise von den frühen dreißiger Jahren bis in die siebziger Jahre hinein bestimmt hat. Deppe bietet eine profunde Einführung in die von Keynes konzipierte Regulation kapitalistischer Krisenimmanenz durch Staatsinterventionismus und Nachfragepolitik an, wobei er niemals vergißt, auf das durchaus reaktionäre Interesse des britischen Wirtschaftspolitikers und -wissenschaftlers an einem Klassenkompromiß, der die Privilegien der Bourgeoisie unbeschadet lassen sollte, zu verweisen. Dennoch verfügen die Theorien Keynes' in einem von marktfundamentalistischem Vulgarismus geprägten öffentlichen Diskurs nach wie vor über erhebliche Attraktivität.

"Die theoretische Analyse wird also durch zwei zentrale Prämissen geleitet: Die gegenwärtigen Probleme des Kapitalismus (Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, ungleiche Verteilung der Einkommen) sind erstens keine Folge von (außerökonomischen) Sonderfaktoren (z.B. Staatseinmischung), sondern der Normalität des Wirkens kapitalistischer Entwicklung geschuldet. Zweitens: Jede Wirtschaftspolitik, die sich auf die klassischen bzw. neoklassischen Lehren der Nationalökonomie stützt (das heißt: Deflationspolitik betreibt), löst diese Probleme nicht, sondern verschärft sie noch." (S.395f)

Die wirtschaftspolitische Konsequenz der Nachfragesteigerung durch besonderes Engagement des Staates als ökonomischer Akteur hinsichtlich einer Erweiterung der öffentlichen Investitionen und einer den Massenkonsum begünstigenden Zinspolitik ist heute nicht mehr durchsetzbar, gerade weil sie Verhältnisse relativer sozialer Gerechtigkeit schüfe, die die Dominanz der Kapitaleigener und Regierungsbürokraten einschränkte. Zudem ist fraglich, ob eine sozialliberale Marktwirtschaft, wie sie Keynes vorschwebte, beim heutigen Stand mikroelektronischer Kontroll- und Steuerungstechnik sowie dem fortgeschrittenen Stadium kapitalistischer Globalisierung überhaupt wünschenswert wäre oder ob sie nicht ein Regime von Sozialtechnokraten begünstigte, deren Elendsverwaltung sich nicht wesentlich von der neoliberalen Almosenkultur unterschiede.

Von besonderem Interesse in diesem Kapitel ist die Geschichte des Niedergangs des British Empires, die Deppe als größeren Rahmen der Lebensgeschichte Keynes' in Szene setzt. Gleichzeitig handelt er die wichtigsten Stationen der weltwirtschaftlichen Entwicklung der ersten Hälfte des Jahrhunderts ab und leitet zur "Gegenrevolution" gegen den Keynesianismus über, dessen Protagonisten im 7. Kapitel "'The voice of America:' Walter Lippmann" ausführlich vorgestellt werden.

Die Lebensgeschichte dieses prominenten Journalisten nimmt Deppe zum Anlaß, die Abkehr intellektueller Vordenker in den USA vom Sozialismus und ihre Hinwendung zu einem elitären Liberalismus, der schließlich in die uneingeschränkte Befürwortung imperialistischer US-Außenpolitik mündet, darzustellen. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Aufstiegs der USA zu ihrer heutigen weltbeherrschenden Größe legt der Autor die Formation eines Denkens dar, das im vielkritisierten Neoliberalismus der Chicagoer Schule zu seiner ideologischen Reife gelangt ist. Dabei geht er auch auf zwei Lichtgestalten heutiger Weltordnungspolitik, den liberalen Ökonomen Friedrich A. von Hayek und den Philosophen Karl Popper, ein. Während er bei Hayek den antidemokratischen Charakter einer Freiheitslehre offenlegt, die die Freiheit des Geldverkehrs und des Investments zum quasireligiösen Dogma erhebt, erfährt der Leser etwas über die Fallstricke eines Positivismus, mit dem Popper seine antikommunistische Weltsicht begründet. Die von ihm konzipierte "offene Gesellschaft", die sich zum Kapitalismus so kritisch verhält, wie sie ihn als einzig denkbare Wirtschaftsform affirmiert, findet heute in dem US-Großinvestor George Soros ihren aktivsten und vor allem einflußreichsten Protagonisten.

Im 8. Kapitel "Ziviler Ungehorsam und revolutionäre Gewalt: Mahatma Gandhi und Mao Zedong" rückt Deppe die eurozentrische Sicht, die den Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmte, vollends in die globale Perspektive der antikolonialen Gegenbewegung. Der Befreiungskampf Indiens und die chinesische Revolution markieren hoffnungsvolle Entwicklungen, die aus heutiger Perspektive allerdings zu der nüchternen Schlußfolgerung Anlaß geben, daß der Mensch stets nur so frei ist wie seine Bereitschaft, die Machtfrage zu stellen und das Problem des Eigentums in einem Sinne anzugehen, der das Primat des eigenen durch das des anderen ersetzt.

Deppe beschließt das voluminöse Werk mit dem Epilog "Das Jahr 1945 - oder: Der kurze Traum von einer besseren Welt".

"Die Hoffnungen auf einen Neubeginn lösten sich im Kalten Krieg auf, der auf jeder Seite die Restauration der systemkonformen Kräfte stärkte. Dennoch wirken unter dem atomaren Schirm die verschiedenen und gegensätzlichen sozialen und politischen Interessen sowie deren Träger und Organisatoren weiter. Die Geschichte kommt daher keineswegs zu ihrem Ende, sondern erfährt eine technologisch-militärische 'Überdetermination' oder Deformation, die für eine ganze Epoche, bis zum Ende der Sowjetunion und ihres 'Lagers' im Jahr 1991, bestimmend bleiben wird." (S.520)

Dieser Ausklang läßt darauf hoffen, daß Deppes zweibändiges Werk zum Politischen Denken im 20. Jahrhundert durch einen weiteren Band über die zweite Hälfte des Jahrhunderts ergänzt wird. Auch wenn die Theoriebildung in der Politikwissenschaft in Anbetracht der vorherrschenden antiemanzipatorischen Grundhaltung eher von Sozialingenieuren als den Visionären einer Befreiung des Menschen von der ihm aufgebürdeten Verwertungslogik bestimmt wird, so bieten allein die Herrschaftsideologie des Neoliberalismus, die messianischen Konzepte neokonservativer Politikberatung, das Propagieren eines neoimperialistischen Selbstverständnisses in Europa und die dagegen opponierenden Neuen Sozialen Bewegungen viel Stoff für eine Fortsetzung des Werks, das Karl Unger in der jungen Welt (20. November 2003) als "großen Wurf" bezeichnet hat. Dem kann man sich nur anschließen, bedarf die Wüste globaler Verelendung und geistigen Verfalls doch dringend der Bewässerung durch Entwürfe, die über den Tellerrand der bloßen Verbrauchs- und Überlebenslogik hinausblicken lassen.


Frank Deppe
Politisches Denken zwischen den Weltkriegen
VSA Verlag, Hamburg, 2003
551 Seiten
ISBN 3-89965-001-8