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REZENSION/271: AWI - Der Arktis-Klima-Report (Globale Erwärmung) (SB)


Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung


Der Arktis-Klima-Report

Die Auswirkungen der Erwärmung



Die Menschheit steht vor einem ernsthaften Problem: Das globale Klima ändert sich aufgrund der Erwärmung in einer Geschwindigkeit und einem Ausmaß, mit denen sie womöglich nicht schritthalten kann. Ob und wann diese Entwicklung endet, ist völlig ungewiß. Alle geologischen und paläoklimatischen Untersuchungen deuten darauf hin, daß es im Laufe der Erdgeschichte sehr lange Perioden gegeben hat, in denen der Planet für den heutigen Menschen unbewohnbar gewesen wäre; und selbst eine langfristige Entwicklung, wie sie allem Anschein nach der Nachbarplanet Mars durchlaufen hat - Verlust des Wassers und der Atmosphäre - wird von den Wissenschaftlern auch für die Erde nicht ausgeschlossen.

Vor dem Hintergrund immer neuer Wetterrekorde und Katastrophenmeldungen nimmt es kein Wunder, daß das Thema Klimawandel gegenwärtig in aller Munde ist. Immer mehr politische Entscheidungen werden als Maßnahme gegen die allgemeine Erderwärmung getroffen. In der Regel wollen die Regierungen Lenkungseffekte erzielen, beispielsweise indem sie durch eine hohe Besteuerung von Benzin die Konsumenten (vor allem die einkommensschwächeren) zum Spritsparen nötigen, die Autohersteller zum Bau energieeffizienterer Modelle motivieren oder durch die Vergabe günstiger Kredite den Einsatz regenerativer Energien fördern. In der Regel sollen auf diese Weise die anthropogenen Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid, das von den meisten Wissenschaftlern maßgeblich für die Aufheizung der Erde verantwortlich gemacht wird, reduziert werden.

Eine kleine Fraktion unter den Forschern ist hingegen anderer Meinung und geht nicht von einem menschenverursachten Klimawandel aus. Sie führt die Aufheizung der Erde auf eine vermehrte Sonnenaktivität zurück. Den Vertretern dieser beiden konträren wissenschaftlichen Positionen stehen selbstverständlich die gleichen Meßdaten zur Verfügung; der Meinungsunterschied ergibt sich jedoch aus der Gewichtung und Interpretation der zugrundegelegten Statistiken.

Welche Seite auch immer mit den plausibleren Belegen aufwartet, in jedem Fall wäre der Mensch gut beraten, Maßnahmen zur Verminderung der Folgen der Erderwärmung zu ergreifen, wollte er nicht die Hände schicksalsergeben in den Schoß legen und sich den über ihn hereinbrechenden Veränderungen des Klimas tatenlos ausliefern. Womöglich unterschieden sich dann die getroffenen Maßnahmen zur Reduzierung des Treibhauseffekts nicht so sehr voneinander, wie die wissenschaftlichen Fronten vermuten lassen. Da die Aufheizung der Sonne nicht zu verhindern ist, dürften auch die Anhänger der These des sonnenverursachten Klimawandels der Schlußfolgerung zustimmen, daß die Menschen mit dem anfangen müßten, was machbar ist, und das wäre zu versuchen, alle die höhere Sonneneinstrahlung verstärkenden Faktoren abzumildern - unter anderem durch ein drastisches Zurückfahren der Emissionen von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen, wie es die Mehrheit der Forscher fordert.

Allerdings sind sich die Experten beider Fraktionen darin einig, daß die 1997 im Klimaschutzprotokoll von Kyoto beschlossenen und seit Februar dieses Jahres gültigen Verpflichtungen der Industriestaaten zur Reduzierung von Treibhausgasen lediglich von symbolischer Natur sind. Selbst wenn "Kyoto" umgesetzt würde - wonach es zur Zeit überhaupt nicht aussieht -, bremste das die Erderwärmung nicht. Vor allem aber nutzte es jenen Menschen nichts, deren Lebensraum sich bereits seit einigen Jahren spürbar gewandelt hat. Abgesehen von den Bewohnern der immer häufiger von Sturmfluten überspülten Südseeatolle und der flachen Regionen Bangladeshs gilt dies vor allem für Menschen in den Hochgebirgen sowie in polaren Regionen. Weltweit berichten sie vom Rückzug der Gletscher, Auftauen des Permafrostbodens, von längeren Sommern, vermehrten Regen- statt Schneefällen sowie der Ansiedlung wärmeliebender Vegetation und auch Invasion fremder Tierarten zu Wasser und zu Lande.

Während die eindringlichen Appelle der pazifischen Inselstaaten an die Weltgemeinschaft, so rasch wie möglich entschiedene Maßnahmen gegen die Erderwärmung und damit den Anstieg des Meeresspiegels zu unternehmen, gewöhnlich im täglichen Nachrichtenstrom untergehen, hat die diesjährige intensive Kampagne der im Arktischen Rat zusammengeschlossenen Staaten Rußland, USA, Kanada, Norwegen, Island, Schweden, Finnland und Dänemark/Grönland/Färör einen größeren Nachhall in den Medien gefunden.

Ein Produkt dieser Initiative ist das vorliegende Buch "Der Arktis-Klima-Report. Die Auswirkungen der Erwärmung". Diesem Bericht war eine umfänglichere, 1500 Seiten starke Studie vorausgegangen, an der rund 300 Wissenschaftler der Arktis- Anrainerstaaten über einen Zeitraum von vier Jahren gearbeitet haben. Die dazu herangezogenen wissenschaftlichen Studien, Statistiken und Klimasimulationen wurden jetzt der breiten Leserschaft auf anschauliche Weise nähergebracht.

Unterstützt durch rund 450 Diagramme, Schaubilder und Fotos wird sich nach der Lektüre des "Arktis-Klima-Reports" jeder interessierte Leser auch ohne universitäre Vorbildung zu einem kleinen Arktis-Experten ausgebildet haben. Selbstverständlich wird er nicht alle Fakten im Kopf behalten, aber ihm wird unmerklich eine Fachgrenzen überschreitende wissenschaftliche Herangehensweise an das Problem des Klimawandels vermittelt, für deren Beschreibung nicht einmal der Begriff "interdisziplinär" ausreichte. In den "Arktis-Klima-Report" sind nicht nur die Forschungsergebnisse verschiedener Fachrichtungen eingeflossen, sondern auch die Erfahrungen der Bewohner der polaren Regionen. Besonders deren persönliche Schilderungen verleihen der abstrakten Welt der Diagramme und Modellrechnungen ein Gesicht und eine Stimme, die den Leser sofort anspricht. Beispielhaft seien hier die Aussagen zweier Bewohner der arktischen Region über Veränderungen in ihrem Lebensumfeld genannt:

Jeder hier merkt, dass die Stürme häufiger werden, der Wind stärker, die Wellen höher. Bei 12 - 14 Fuß (ca. 4 m) hohen Wellen wird dieser Ort nach wenigen Stunden ausradiert sein. Wir sind in Panik, weil wir so viel Land verlieren. Wenn unser Flughafen überschwemmt wird, können wir eine Luftevakuierung vergessen. (Robert Iyatunguk, Erosionskoordinator des Dorfs Shishamref in Alaska - S. 80)
Heute ist das Wetter unberechenbar. Früher haben die Ältesten das Wetter vorhergesagt und immer Recht behalten, aber wenn sie es heute tun, kommt es immer irgendwie anders. (Z. Aqqiaruk, Igloolik, Kanada 2000 - S. 96)

Als Grundlage des stark prognostisch orientierten Buchs dienten die Klimasimulationen von fünf renommierten internationalen Forschungseinrichtungen, zu denen auch das Hamburger Max-Planck- Institut für Meteorologie zählt. Dabei wählten die Autoren nicht die "Worst-case-scenarios" der jeweiligen Modelle, sondern die "gemäßigten" Szenarien. Das könnte also bedeuten, daß alle Vorhersagen womöglich von der Wirklichkeit noch weit übertroffen werden ... oder unterboten. Auf letzteres setzt allerdings kaum ein Wissenschaftler, auch wenn hin und wieder die Neigung zu verspüren ist, die Folgen des Klimawandels möglichst nicht zu dramatisieren, um sie als im Prinzip bewältigbar erscheinen zu lassen.

Dennoch, die hier geschilderten, bereits eingetretenen Auswirkungen der Erwärmung auf die polare Zone der Nordhalbkugel sind gravierend; um so bedrückender wirken die Prognosen für die kommenden Jahrzehnte. Darüber hinaus verdeutlicht der Report, daß die arktische Erwärmung über verschiedene Rückkopplungs- mechanismen weltweite Konsequenzen nach sich zieht (S. 34ff). Die Hoffnung der Menschen, daß der Kelch an ihnen vorübergeht, ist folglich trügerisch.

Obschon der "Arktis-Klima-Report" ein Füllhorn an Daten über die Entwicklung der Temperatur, Niederschläge, Vegetation, UV- Einstrahlung, Eisbedeckung, das Verhalten der Tiere, die Folgen für die menschliche Besiedlung und vieles mehr liefert, leidet darunter keineswegs seine Lesbarkeit. Das liegt zum guten Teil an den eingängigen Darstellungen, wie beispielhaft an der Ausdehnung des Meereises aufgezeigt werden kann. Im linken Bereich auf Seite 25 ist ein Diagramm mit fünf Kurven zur beobachteten Ausdehnung des arktisches Meereises zwischen 1900 und 2003 abgebildet, rechts davon befindet sich ein Foto des Meereises, so daß dem Leser bildlich vor Augen geführt wird, worüber überhaupt geschrieben wird, und unterhalb des Diagramms und des Fotos sind zwei aus Satellitendaten gewonnene, computergenerierte Abbildungen mit einer perspektivischen Draufsicht der nördlichen Erdhalbkugel zu erkennen, in denen die Konzentration des arktischen Meereises im September 1979 und September 2003 miteinander verglichen wird. Was bereits mathematisch aus dem Kurvendiagramm hervorging, wurde hier noch einmal beispielhaft dargestellt: das Eis hat sich deutlich zurückgezogen.

Eine Darstellungsweise unterstützt die andere - dieses Verfahren wird durchgängig angewandt. Dabei liefert der Report fraglos umfangreiche Informationen in komprimierter Form. Doch leider bergen die Prognosen systemisch bedingte Auslassungen. In der Regel werden nur Verhältnisse wiedergegeben, nicht aber absolute Meßwerte. Das soll am Beispiel der Temperatur verdeutlicht werden. Da erfährt der Leser auf Seite 26, daß den Prognosen zufolge die Arktistemperatur bis 2100 zwischen fünf und sieben Grad Celsius zunehmen wird - es gibt aber keine Angaben darüber, von welchem Ausgangswert gerechnet wurde. Die einfache Frage, welche Durchschnittstemperatur in der Arktis 1990 (das in den Computermodellen häufig als Basisjahr gewählt wird) geherrscht hat, bleibt unbeantwortet.

Solch ein absoluter Wert ist aber für eine fundierte Einschätzung der Konsequenzen der Erwärmung unverzichtbar. Denn wenn die Durchschnittstemperatur vorher im Minusbereich gelegen hat, am Ende des Jahrhunderts aber in den Plusbereich wanderte, wäre mit einer viel rapideren Eisschmelze in der Arktis zu rechnen, als wenn sich Ausgangs- und prognostizierter Wert im Minusbereich befänden.

Doch soll hier gar nicht an einer einzelnen Schwäche gemäkelt werden. Nach der Lektüre dieses sinnfällig gegliederten und konzeptionell schlüssig präsentierten Buchs dürfte außer Frage stehen, daß mit ihm das selbstgesteckte Ziel, die "Entscheidungsträger über diese Veränderungen bestmöglich" (S. II) zu informieren, erfüllt wird - auf einem ganz anderen Blatt steht hingegen die Frage, ob jene adressierten Entscheidungsträger überhaupt willens und fähig sind, die erforderlichen Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen. Dieser Frage muß eingedenk der vielen unbeantworteten Appelle in der Vergangenheit mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnet werden.


Herausgeber: Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
Der Arktis-Klima-Report
Die Auswirkungen der Erwärmung
Arctic Climate Impact Assessment
Convent Verlag, Hamburg 2005
ISBN 3-934613-86-1