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REZENSION/294: Nées en France - Jeunes musulmanes... (Französisch) (SB)


Wolfgang Ader, Hg.


Nées en France

Jeunes musulmanes dans la société laïque

Textes et dossier



Cité Balzac, Vitry bei Paris - eine Hochhaussiedlung am 4. Oktober 2002: Die 18jährige Sohane Benziane, Tochter algerischer Einwanderer, wird von einem 19jährigen in einen Abstellraum gelockt, mit Benzin übergossen und angezündet. Sein Kumpel hält die Tür zu. Sie hatte sich geweigert, der Cité, in der ihre Freundinnen wohnten, fernzubleiben, obwohl der mit ihrem Freund Verfeindete es ihr befohlen und sie bedroht hatte.

Berlin in der Nacht des 7. Februar 2005: Hatun Sürücü, eine 23jährige Deutsch-Türkin kurdischer Abstammung wird durch einen Anruf zu einem Treffpunkt gelockt und aus nächster Nähe erschossen. Unter Verdacht: ihre Brüder. Im Prozeß nimmt der Jüngste die Schuld auf sich. Ein "Ehrenmord" - Hatun Sürücü hatte ihre eigenen Vorstellungen, wie ihr Leben zu gestalten sei.

Zwei Beispiele, nicht Einzelfälle, von Gewalt gegen islamische Frauen und Mädchen, die sich nicht mehr in die von ihnen als eng und feindlich empfundenen Rollenvorschriften fügen wollten oder auf andere Weise gegen diese verstießen. Sie sollen hier lediglich als kurze Illustration des Endpunkts der Gewalt dienen, der sie sich in abgestuften Formen gegenübersehen können, und auf diese Weise von vornherein jeden Vorwurf gegenüber Frauen zügeln, die sich nicht zu wehren wissen oder die vielleicht gar bewußt die Anpassung wählen.

Gleichzeitig sollen sie deutlich machen, mit welchen Kräften Frauen konfrontiert sind, die den Widerstand vorziehen. Um dann der damit verbundenen Gefahren eingedenk Wege zu entwickeln, diese Begegnung effizient ausschließend zu gestalten. Festgehalten werden soll auch im Vorwege, daß es sich nicht platt um Männergewalt gegen Frauen handelt, gibt es doch genügend Hinweise darauf, daß Frauen in erheblichem Maße an diesen Umständen beteiligt sind und menschenfeindlichen Prinzipien Gültigkeit verschaffen. Es ginge also in einer Auseinandersetzung mit diesen darum, hinter den vorgeblich männlich/weiblichen Konflikt zu sehen und den Unterschied nicht weiter in seiner Existenz zu bestätigen, indem man ihn als zwingend postuliert.

Die vorliegende Sammlung des Reclam-Verlags: "Nées en France - Jeunes musulmanes dans la société laïque" widmet sich vor allem dem Selbstzeugnis betroffener Frauen und der Schilderung ihres Konflikts mit der von ihnen als inakzeptabel empfundenen traditionellen Lebensweise. Dabei bleibt der Schmerz, sich damit gegen die eigene Familie und möglicherweise gegen den Kern der islamischen Gesellschaft zu stellen, nicht ausgespart.

Als Hintergrund und zum grundlegenden Verständnis des islamischen Frauenbildes, zitiert aus dem "Frauen-im-Islam-Lexikon" von Terre des Femmes:

Frauenbild

Im islamischen Kulturkreis wird davon ausgegangen, dass Mann und Frau zwar vor Gott gleich, ansonsten aber grundsätzlich verschieden geartet sind. Sie besitzen gegensätzliche, sich ergänzende Eigenschaften und Fähigkeiten: Männer sind z. B. stark, beherrscht und rational, während Frauen schwach, emotional und mütterlich sind - Rollenbilder wie sie beispielsweise auch im Christentum bekannt sind.

Es wird davon ausgegangen, dass diese Eigenschaften naturgegeben und unveränderbar sind. Diesem Konzept zufolge ist auch die Sexualität von Männern und Frauen unterschiedlich. Frauen haben die Rolle der Verführerin inne, während die Männer sich ständig kontrollieren müssen, um dem Charme der Frauen nicht zu erliegen. Frauen sollen sich stets zurückhaltend verhalten, weil sonst ein sexuelles Chaos ausbrechen würde, das die gesellschaftliche Ordnung gefährdet. Weil Mann und Frau unterschiedlich sind, haben sie auch - ihrer Natur entsprechend - unterschiedliche Rechte und Pflichten. Während Männer die Familie ernähren sollen, ist es die Aufgabe der Frau, sich um die Kinder zu kümmern und den Haushalt zu organisieren.

Menschenrechte für die Frau, 1/2005, 24: "Frauen-im-Islam-Lexikon - Frauenbild", Silvana Kröhn - Terre des Femmes, 72015 Tübingen

Man muß verstehen, daß Frauen, die aus diesem traditionellen Rollenbild ausbrechen wollen, sich dem islamischen Verständnis nach nicht nur gegen die gesellschaftliche, sondern auch gegen die "naturgegebene" Ordnung stellen. Sie drohen damit also nicht nur die Ehre der Familie zu verletzen, sondern handeln aus Sicht der Angehörigen und der islamischen Gesellschaft auch gegen ihr eigenes Wohl. Ein Umstand, der lediglich andeutet, mit welch komplexem Gewirr an realen Schwierigkeiten und Seelenlagen man es hier zu tun bekommen kann.

Da es sich bei "Nées en France - Jeunes musulmanes dans la société laïque" vorwiegend um erzählte, autobiographische Texte handelt, fällt der unmittelbare Zugang zu den einzelnen Frauen nicht schwer. Somit sind die Texte gewiß ein guter Einstieg; sie lassen sich flüssig lesen, das Interesse bleibt. Eine gewisse Neigung, sie als Sensationen zu schlucken, läßt sich jedoch auch nicht verleugnen, und man steht als Schüler und als Lehrer ganz gewiß vor der Frage, kurz mitzufühlen, zu bedauern, zu verdammen und aufzuatmen oder die Ebene des Erlebnisses zu verlassen und sich den angesprochenen grundsätzlichen Problemen zu widmen. Zweifellos ist letzteres das Ziel des Unterrichtes.

Dennoch mag man sich erheblicher Bedenken nicht erwehren, welchen Sinn es über ein reines Informationsbedürfnis hinaus machen soll, sich als Nichtbeteiligte auf diese Weise in Probleme einzumischen, zu denen wir wohl am ehesten unseren Unverstand beizutragen haben. Etwas anderes ist es sicher, wenn auch Schüler und Schülerinnen, die selbst Betroffene sind, zur Klärung und zu einer Auseinandersetzung beitragen können, die sich nicht darauf beschränkt, festzustellen, daß die Verhältnisse in der islamischen Gesellschaft veränderungswürdig sind. Das sind unsere schließlich auch, sollte man meinen. Nicht nur bezüglich der häuslichen Gewalt wären viele Fragen zu stellen. Mit dieser Einschränkung sind die folgenden Ausführungen zu sehen.

Die einzelnen Texte

NÉE EN FRANCE. HISTOIRE D'UNE JEUNE BEUR (1) Aïcha Benaïssa / Sophie Ponchelet

Dieser erste Text umfaßt mit Auslassungen ein ganzes Buch und ist der umfassendste. Aïcha Benaïssa schildert eine glückliche Kindheit, die mit dem Eintreten der Menstruation ein abruptes Ende findet. Der Übergang vom Kind zur Frau, als die sie das islamische Umfeld nun wahrnimmt, bedeutet für sie den Verlust des liebevoll zugewandten Vaters und der bisherigen Bewegungsfreiheit. Ab sofort ist ihr Platz innerhalb der Familie. Für sie beginnt instinktiv ein Leben der Täuschung, sie lebt in zwei Welten: der äußeren, französischen, in der Schule und der inneren, algerischen, zuhause.

Je savais ce que j'avais à faire. J'ai réussi à dissocier ma personnalité, à faire cohabiter en moi deux personnages opposés: la Française que je suis, l'Algérienne que mes parents auraient voulu que je sois.
(S. 15)

Mit 19 verläßt sie die Familie, das Ende der Täuschung, ein Schock für die Eltern. Im gleichen Jahr läßt sie sich überreden, zur Feier einer Hochzeit mit nach Algerien zu reisen und wird dort festgehalten. Es dauert Monate, bis der Vater sie nach Frankreich zurückholt, und sie nutzt die erste Gelegenheit, das Elternhaus endgültig zu verlassen.

Ihre Situation sowie ihr Konflikt mit den Eltern und der breiteren Familie sind sehr eingängig geschildert. Aïcha Benaïssa ist sich schon früh der Probleme und Widersprüche bewußt, die sich ihr mit dem Leben in Frankreich und dem Erwachsenwerden in der islamischen Gesellschaft stellen. Und sie geht bedacht damit um. Was in den Augen ihrer Familie unerhört sein mag, scheint uns als ein auf eigene Kosten rücksichtsvoller Umgang mit einer Umgebung, die sie mit unverrückbaren Regeln und Erwartungen konfrontiert und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten beraubt. An dieser Stelle fällt die Entscheidung immer leicht: Es kann nicht sein, daß ein Mensch zu etwas gezwungen wird, das er nicht will, und daß man ihm die Flügel stutzt. Allein diese Entscheidung führt auf ein weites Feld der Auseinandersetzung - Islam oder nicht -, vor jedem schnellen Schluß ist zu warnen. Vor allem vor der Festschreibung auf eine wie auch immer geartete Natur oder Gottgewolltheit des Menschen, die beliebig instrumentalisierbar Grenzen setzt.

LA FATIHA. NÉE EN FRANCE, MARIÉE DE FORCE EN ALGERIE Jamila Aït-Abbas

In La Fatiha steht die Auseinandersetzung mit der Mutter im Vordergrund, der Vater ist früh gestorben. Ein harmloser Kontakt mit einem Jungen - aus der Kabylei wie sie -, führt zu unausgesetzten Mißhandlungen und Beschimpfungen durch die Mutter. Jamila Aït-Abbas zeigt in ihrem Text sogar Verständnis für die unverhältnismäßige Reaktion:

Cette réaction, sans commune mesure avec ce qui m'est reproché, s'explique sans doute par le fait que ma mère vient brutalement de perdre confiance en moi. Jusqu'ici, je m'étai montrée plus ou moins sage et docile, suffisamment pour ne pas provoquer son courroux.
(S. 73)

Der Text endet mit ihrem Entschluß, die Familie zu verlassen; dem Vorwort kann man entnehmen, daß sie in der Folge in Algerien brutal zur Heirat gezwungen und vergewaltigt wird.

ILS DISENT QUE JE SUIS UNE BEURETTE (1), (2) Soraya Nini

Hier übernimmt der älteste Bruder die Aufgabe, die Tugend seiner Schwestern zu hüten und wird dabei handgreiflich. Die Rezension des Films zu dem Buch, aus dem der Textabschnitt übernommen wurde, ist im Schattenblick unter MEDIEN\REDAKTION\REZENSION/003: Philippe Faucon, Soraya Nini - Samia (DVD, Spielfilm) zu lesen.

BAS LES VOILES! Chahdorit Djavann

Runter mit dem Schleier! fordert die Franko-Iranerin Chahdorit Djavann und definiert mit sehr deutlichen Worten dessen Bedeutung:

Chez les musulmans, une fille, dès sa naissance, est une honte à dissimuler puisqu'elle n'est pas un enfant mâle. Elle est en soi l'insuffisance, l'impuissance, l'infériorité ... Elle est l'objet potentiel du délit. Toute tentative d'acte sexuel par l'homme avant le mariage relève de sa faute. Elle est l'objet potentiel du viol, du péché, de l'inceste et même du vol puisque les hommes peuvent lui voler sa pudeur d'un simple regard. Bref, elle est la culpabilité en personne, puisqu'elle crée le désir, lui-même coupable, chez l'homme. Une fille est une menace permanente pour les dogmes et la morale islamiques. Elle est l'object potentiel du crime, égorgée par le père ou les frères pour laver l'honneur taché.
(S. 93-94)

Die Tochter als Schande, die man verbergen muß, weil sie kein männlicher Nachkomme ist und in sich die Sünde und Versuchung selbst. Sie trägt die Schuld, wenn ein Mann sich an ihr vergeht, und wird von Vater oder Brüdern getötet zur Wiederherstellung der verletzten Ehre. Darüber hinaus verwandele der Schleier die jungen Frauen deshalb in Sexualobjekte, weil die Entschleierung und das offene Haar erst dadurch eine sexuelle, auf den Mann bezogene Bedeutung erhielten. Der Schleier definiere die Frau über den Mann und als Objekt für den Mann.

Man könnte hier noch weitergehen und die Überlegung einwerfen, daß nicht allein der Schleier, sondern jede Präsentation des weiblichen Körpers in seinen Unterschieden zum männlichen, also das Hervorstreichen bestimmter, gesellschaftlich festgelegter, weiblicher Reize, die Frau über den Mann definiert. Oder daß zumindest diese Frage nicht entschieden ist. Aus diesem Grunde ist beispielsweise die als Widerstand interpretierte Bewegung junger iranischer Frauen 'gegen den Schleier und für den Lippenstift' eine heikle.

Im Iran ist die Frustration, verbunden mit dem Kollaps der Reformbewegung, in politisches Desinteresse seitens der Jugendlichen umgeschwenkt. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Vor allem die Frauen sind es, die einen täglichen Kampf gegen die Obrigkeit führen. "Lipstick Jihad", frei übersetzt Glaubenskrieg des Lippenstifts, beschrieb dies kürzlich die Journalistin und Autorin Azadeh Moaveni in ihrem eben erschienenen Buch über die iranische Jugend. Sie schildert darin den täglichen Kampf junger Iranerinnen um jeden Zentimeter mehr Haar und weniger Kopftuch. Selbst die Breite des Eyeliners ist ein politisches Statement. Die iranische Jugend hat gelernt, für ihre Ideale zu kämpfen.
(aus: "Lipstick Jihad", v. Bijan Farnoudi, Südwind Nr. 6,
Juni 2005, S. 12-16 )

Sich offen oder versteckt in einer festgelegten Rolle zu präsentieren, selbstbewußt in aller Weiblichkeit aufzutreten, schreibt gleichfalls auf ein bestimmtes Rollenverständnis fest und kann in einer ähnlichen Sackgasse enden. Damit hier kein Mißverständnis aufkommt: Widerstand gegen jede Art von Zwang, Unterdrückung, Gewalt ist selbstverständlich und in keiner Weise in Frage zu stellen. Der Hebel setzt an anderer Stelle und viel grundsätzlicher an: Kämpfe ich für ein geräumigeres oder gefälliger gestaltetes Gefängnis oder die Abschaffung solcher Einrichtungen? Und das berührt nicht nur den Islam. In den USA sterben nach Angaben des FBI 1.400 Frauen im Jahr aufgrund häuslicher Gewalt, also vier pro Tag.

LES JEUNES AFRICAINES, NOUVELLES CHAMPIONNES DE L'INTÉGRATION (Philippe Bernard, Le Monde) Zur Integration junger Afrikanerinnen in Frankreich

LES MARIAGES FORCÉS DÉCHIRENT DES FAMILLES ISSUES DE L'IMMIGRATION (Marie-Pierre Subtil, Le Monde) Zwangsverheiratung junger Türk/inn/en, Maghrebiner/innen und Afrikaner/innen in Frankreich

UNE LOI? NON (Janine Mossuz-Lavau, Le Monde) Zum Kopftuchstreit in Frankreich und warum ein Gesetz gegen das Kopftuch keinen Sinn macht

NI PUTES NI SOUMISES! Nationaler Aufruf der in den Cités entstandenen Frauenbewegung "Ni Putes Ni Soumises!" (Weder Huren, noch unterworfen!). Der Name ist bewußt gewählt. Zum einen auf die oft gehörte Äußerung hin: "Alles Huren, nur meine Mutter nicht!" Zum anderen in Reaktion auf den Vorwurf und die Verkennung, die muslimischen Mädchen und Frauen in den Banlieus seien deshalb unterworfen, weil sie sich nicht wehrten. Die Mittel sind seit langem ungerecht verteilt, und deshalb bedarf der Widerstand, der ja ein Widerstand der Schwachen ist und derer, die gesellschaftlich in mehrfacher Hinsicht ohne Gewicht und Lobby dastehen, anderer Wege, als der einer Klage oder Petition. Sie wären noch zu entwickeln: "Niemand außer uns selbst wird uns aus dieser doppelten Unterdrückung befreien." (s.u.)

Nous affirmons ici réunies pour les premiers "État Généraux des femmes des Quartiers", notre volonté de conquérir nos droits, notre liberté, notre féminité. Nous refusons d'être contraintes au faux choix, d'être soumises au carcan des traditions ou vendre notre corps à la société marchande.

...
Le mouvement féministe a déserté les quartiers. Il y a urgence et nous avons décidé d'agir. Pour nous, la lutte contre le racisme, l'exclusion et celle pour notre liberté et notre émancipation sont un seul et même combat. Personne ne nous libéra de cette double oppression si ce n'est nous mêmes.
(S. 110 und 111)

Die Texte bieten eine Menge Diskussionsstoff, der gut durch aktuelle Nachrichten und Debattenführungen zu ergänzen ist. Das Vorwort beschränkt sich als Hintergrunddarstellung bezüglich der kolonialen Verbrechen Frankreichs auf die "dezente" Nichtdarstellung und widmet sich dann den Zuwandererzahlen sowie den einzelnen Texten.

Kurz nachschicken ließe sich vielleicht, wenn man sich jetzt einmal auf den algerischen Hintergrund bezieht, daß dieses Land 1830 von den Franzosen besetzt und dem "Mutterland" als kolonialer Siedlungsraum angegliedert wurde. In der Schlußphase (bis 1962) lebten eine Million Europäer und acht bis neun Millionen Araber und Berber unter einem brutalen, an der Religionszugehörigkeit ausgerichteten Apartheidsregime. Christen erhielten die vollen Staatsbürgerrechte, Muslime - im eigenen Land - waren weitgehend rechtlose "indigènes". Für die Unterstützung im Zweiten Weltkrieg versprach man den Algeriern die Unabhängigkeit als Gegenleistung. Als sie diese schließlich bei Kriegsende 1945 mit Protesten einfordern, feuern französische Sicherheitskräfte in Sétif, Guelma und Kherrata in die gesammelte Menge und machen den Verrat und die Position der französischen Führung noch einmal unmißverständlich deutlich: An die 45.000 Menschen sterben an diesem 8. Mai im Kugelhagel. Der Kampf um die algerische Unabhängigkeit von 1954 bis zum 5. Juli 1962 fordert das Leben von weiteren eineinhalb Millionen Algeriern. Noch vor der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung, schießen wieder französische Sicherheitskräfte 1961, diesmal in Paris, in eine protestierende Menge. Schätzungsweise 300 Menschen werden in der "Blutnacht" des 17. und 18. Oktober getötet, die genauen Zahlen nie ermittelt. Erschreckend ist die Selbstverständlichkeit, mit der man wieder zur "Normalität" zurückkehrt und die "Blutnacht" sowie die Toten des algerischen Befreiungskrieges unter "Maßnahme zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit" abheftet.

Im Februar dieses Jahres schließlich wird in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, dessen Artikel 4 die Forscher und Lehrer des Landes dazu verpflichtet, in ihrem Unterricht "den positiven Beitrag der französischen Anwesenheit in Übersee, insbesondere in Nordafrika, zu würdigen"...

Sowenig wie diese Sammlung die französische Kolonialgeschichte berührt, so geringen Raum erhält auch die äußere, gesellschaftliche Situation algerischer Einwanderer und ihrer Nachkommen; die Texte beschränken sich auf die innere, häusliche Situation junger Mädchen und Frauen im Spannungsfeld islamischer und westlicher Lebensweise. Gerade im Lichte der jüngsten Unruhen in den Banlieus - die Alice Schwarzer als eine Jugendrevolte ohne Mädchen bezeichnet - und des zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Drucks auf Randständige, der sich wiederum auf die noch Schwächeren - in diesem Fall die Mädchen und Frauen - auswirkt, wäre der eine oder andere zusätzliche Hintergrund von Interesse. Viel mehr ließe sich aber auch dem voraussehbaren Argument des Herausgebers, dies sprenge den angepeilten Rahmen, nicht entgegenhalten.

Mädchen kommen in dieser "Jugendrevolte" nicht vor. Auch 1968 flogen in Paris die Pflastersteine, aber auf den Barrikaden standen Männer und Frauen. Auch wenn die Anführer männlich waren. Ziel der Revolte waren die autoritären Strukturen, aber nicht der Staat an sich; in Flammen standen Luxusläden, keine Schulen. Und der Schlachtruf gegen die "Bullen" lautete: "CRS SS!"
(Alice Schwarzer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. November 2005: "Wer verbrennt wen?")

(1) beur, beurette - 'Verlan'-Audruck für in Frankreich geborene Kinder von Nordafrikanern: arabe (Araber) -> a ra be -> be ra a -> beur

(1) Verlan - Jargon, der auf der Vertauschung von Silben beruht. Auch dieser selbst ist so entstanden: l'envers (rückwärts, verkehrt) -> len vers -> vers len -> verlan.


(2) Film zum Thema:
"Samia", von Philippe Faucon und Soraya Nini als interaktive DVD bei
Lingua-Video.com Medien GmbH, 53639 Königswinter, erschienen.


Nées en France
Jeunes musulmanes dans la société laïque
Textes et dossier
herausgegeben von Wolfgang Ader
Philipp Reclam jun. Verlag, 2005
112 Seiten, Euro 3,20
UB 9139, ISBN 3-15-009139-X