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REZENSION/336: Ivan Nagel - Das Falschwörterbuch (Politik) (SB)


Ivan Nagel


Das Falschwörterbuch

Krieg und Lüge am Jahrhundertbeginn



"Das Falschwörterbuch" nennt Ivan Nagel seine Streitschrift, in der er gegen Krieg und Lüge nach dem 11. September 2001 zu Felde zieht. Er legt in einer Reihe von Einsprüchen und Analysen dar, daß jedem Krieg die Lügen vorausgehen, und deckt insbesondere die Deformation von Sprache und Denken auf, mit der die Waffengänge seither zugleich verharmlost und angeheizt wurden. So wirft er die Frage auf, ob die weltweite Hegemonie der USA weiter ausgebaut, der Widerstreit ihrer erbitterten Gegner weiter zunehmen und die Reihe von Kriegen gegen "die Achse des Bösen" unvermeidlich fortgesetzt wird. Er verweist auf die globale Ungleichheit als Quelle permanenter Kriegsgefahr, untersucht die Jahrtausende lange Geschichte der Selbstmordattentate, deckt "Falschwörter" auch bei den viel diskutierten Sozialreformen auf, kontrastiert die Darstellung und Verstellung des Kriegs und Bürgerkriegs in der Kunst.

Ivan Nagel erhebt seine Stimme, denn wie er einleitend Martin Luther King zitiert, komme die Zeit, in der Schweigen Verrat ist. Man sei gefordert, für die Schwachen zu sprechen, die keine Stimme haben, für die Opfer der eigenen Nation, die sie Feinde nennt. Seine Erwägungen, so meint der Autor, hätte jeder machen und aussprechen können. Das aber sei nicht geschehen, ja man habe seine Texte zu mutigen Stellungnahmen erklärt, als seien Wahrnehmung und Veröffentlichung des Offensichtlichen eine aussterbende Tugend.

Dieser schiefe Erfolg verlangte nach Erklärung. Dem Teppichbombardement eines fremden Volkes mit Raketen geht jedesmal das Teppichbombardement des eigenen Volkes mit Lügen voraus. Es zerstört Beobachtung, Urteil, Mitteilung in einem furchterregenden Maße. Vorkriegszeiten sind Zeiten der Ausschaltung artspezifischer, lebenserhaltender Fähigkeiten des homo sapiens. Darum gilt dann, was normal ist, schon als 'mutig'.
(S. 11)

Die Reden, Aufsätze und Briefe dieses Buches wurden ab April 2002 niedergeschrieben, doch haben sie nichts von ihrer Aktualität verloren, da die Ereignisse, auf denen sie gründen, nicht etwa das Ende, sondern erst der Anfang sind, sofern keine Gegenkraft diesem Treiben Einhalt gebietet. Alle zehn enthaltenen Schriften werden von der Frage bestimnt, auf welche Weise Krieg und Lüge eine unheilige Verbindung eingehen. Will man dem eigenen Volk einen Krieg verkaufen, empfiehlt es sich in machiavellistischer Tradition, wirksame Lügen zu erfinden. So wurden die angeblichen Massenvernichtungswaffen des Iraks zum Kriegsgrund erklärt, wie der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz berichtete:

'Im Kabinett entschieden wir uns für die einzige Sache, auf die sich alle einigen konnten, die Massenvernichtungswaffen.' Das besagt nicht, daß jeder willentlich log. Das besagt nur, dass jeder diesen Kriegsgrund, ob wahr oder erfunden, für brauchbar hielt. Gegen diese Prozedur spricht nicht nur die Qualitätskluft zwischen Wolfowitz und Machiavelli, Bush und Borgia.
(S. 13)

Nicht Heuchelei heiße die Gefahr, mit der die US-Regierung ihr eigenes Land und den Rest der Welt überziehe, sondern Lüge, die sich für die Wahrheit hält, schreibt Nagel. George W. Bush sei eine Figur, die sich nicht mehr in wissende Person und gemimte Täuschung trenne, er scheine dumm genug, um sich selbst fast alles zu glauben. Im Namen einer neuen Weltordnung spalteten diese Regierung und ihre Verbündeten den Globus in Vasallen und "Terroristen", sie drangsalierten ihr eigenes Volk mit Repression und entfachten einen weltweiten Bürgerkrieg.

Die Biographie weist Ivan Nagel, der vor wenigen Tagen seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, als einen Menschen aus, der die Leiden der Verfolgung und Emigration ebenso erlebt hat wie akademischen Rang und künstlerischen Namen auf bedeutenden Bühnen. Beides gilt ihm als Verantwortung, auch und gerade als prominente Person des kulturellen Lebens das Schweigen zu brechen, das Geschwätz der Anpassung zu entlarven und Partei zu ergreifen gegen das Lügengespinst im Kontext des Krieges. Der Autor wurde 1931 in Budapest geboren. Nach der Verfolgung während der Nazizeit emigrierte er siebzehnjährig aus Ungarn. Er studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Paris, Heidelberg, Durham, Zürich und ab 1953 Philosophie bei Adorno in Frankfurt am Main. Nagel war von 1961 bis 1969 Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele, 1971 bis 1979 Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, Begründer und Leiter der internationalen Festspiele "Theater der Welt" und Chef des Stuttgarter Schauspiels. Davor und dazwischen Theater- und Musikkritiker. Er lebte von 1981 bis 1983 in New York und war von 1989 bis 1996 Professor der Hochschule der Künste in Berlin für "Geschichte und Ästhetik der Darstellenden Künste". Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören "Autonomie und Gnade - Über Mozarts Opern" (1985), "Gedankengänge als Lebensläufe. Versuche über das 18. Jahrhundert" (1987), "Kortner Zadek Stein" (1989), "Der Künstler als Kuppler - Goyas nackte und bekleidete Maja" (1997) und "Streitschriften" (2001).

Allenfalls der Vorwurf des Antisemitismus blieb Ivan Nagel dank seiner Herkunft erspart, als er Anfang April 2002 die Einladung des israelischen Botschafters in Deutschland aus Gründen des politischen Urteils und persönlichen Gewissens ausschlug. In seinem Brief an Shimon Stein bekundete er tiefe Sympathie mit der Existenz des Staates Israel und dem Leben seiner Bewohner, doch machte er auch keinen Hehl aus seiner Überzeugung, daß das Land seit wenigen Tagen einen Krieg führe, der ungerecht und schädlich auch für die eigenen Lebensinteressen sei. Zuvor hatte die Regierung Scharon einen palästinensischen Selbstmordanschlag zum Anlaß genommen, Ramallah mit Sturmtruppen und Panzern zu besetzen, den Sitz der Autonomiebehörde zu zerstören und Präsident Jassir Arafat unter Arrest zu stellen. Verteidigungsminister Ben Eliezer kündigte einen regelrechten Krieg an, der weder geographische noch sonstige Grenzen beachten werde. Angesichts der Verfolgung der europäischen Juden, schrieb Nagel, der er in früher Kindheit ausgesetzt gewesen sei, fühle er sich außerstande, mit dem Botschafter und damit dem Vertreter eines Staates, der mit allen militärischen Mitteln eine ungerechten Krieg führe, bei Kaffee und Kuchen zusammenzusitzen.

Auf die Frage "Was lesen Sie?" antwortete Ivan Nagel ebenfalls im April 2002 mit einem Bericht über seinen Versuch zu ergründen, ob es überhaupt noch ein Völkerrecht gebe. Während allen Beobachtern klar sein mußte, daß der Angriff auf Afghanistan nur der erste in einer Kette längst geplanter Kriege war, forderte Gerhard Schröder damals im deutschen Bundestag mit groben Mitteln die sogenannte "Kanzlermehrheit" ein. Damit ließ er die vom Grundgesetz vorgesehene Entscheidung der Abgeordneten nach eigener Überzeugung und eigenem Gewissen in einer so wichtigen Frage nicht zu, sondern etablierte per Fraktionszwang die Routine der Zustimmung zum Krieg. Der Kanzler beschwor die uneingeschränkte Solidarität, deren wahrer Name Krieg ist, und Angela Merkel wünschte sich ein "Bundestruppenentsendungsgesetz", das die Beschlüsse des Bundestags zur Teilnahme an künftigen Angriffskriegen in fernen Ländern vereinfachen sollte.

Anfang 2003 zeichnete sich immer deutlicher ab, daß die US- Regierung den Irakkrieg längst beschlossen hatte. Jan Philipp Reemtsma plädierte für diesen Krieg und hielt den Vergleich Saddam Husseins mit Hitler für zulässig. Ihm erwiderte Ivan Nagel, daß das Mordverbot auch unter den Nationen gelten müsse und es zur strikten moralischen Pflicht jedes einzelnen und jedes Staates gehöre, sich einem zweifelhaften Krieg zu verweigern. Amerika zeige eine größere Verachtung der UNO und des Völkerrechts als der von ihm angeklagte Irak. Die Mehrheit der Deutschen habe die Pflicht erkannt, diesen Krieg nicht mitzumachen. Den Gegner erst unter Drohungen zu entwaffnen und dann unter dem Vorwurf zu überfallen, er habe den aufgezwungenen Rüstungsbegrenzungsvertrag nicht eingehalten, zähle zu den ältesten Mitteln des Imperialismus.

Jeder Krieg fängt, bevor er anfängt, mit Lügen an. Zwei Arten der Lüge sind zu unterscheiden: Lüge durch Verfälschung der Fakten und Lüge durch Verfälschung der Worte. Mit beiden werden wir seit anderthalb Jahren überfüttert bis zur Übelkeit.
(S. 39)

Mit diesen Worten leitete Ivan Nagel im Februar 2003 einen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung ein. Er lieferte erste Ansätze für ein Wörterbuch der Kriegslügen, indem er aufzeigte, wie "Krieg" zu "Weltfrieden", "Angriff" zu "Entwaffnung", "Kriegsgefangene" zu "feindlichen Kombattanten", "Besetzung" zu "Befreiung" oder "Regierungshandeln gegen Volksmehrheit" zum "Bündnis gegen den Terrorismus" verfälscht wird. Er erinnerte daran, daß die USA als einziges Land der Welt ABC-Waffen aller Kategorien, von der Atombombe über Agent Orange bis zu Napalm, bereits eingesetzt haben. Während dem Irak vorgeworfen wurde, die Entschließungen des Sicherheitsrats mißachtet zu haben, machten die USA und Großbritannien von vornherein klar, daß sie den Krieg auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrats führen würden, den George W. Bush verächtlich als "lahmen, irrelevanten Debattierklub" bezeichnete.

Anfang März 2003 und damit wenige Tage vor dem Angriff auf den Irak veröffentlichte Ivan Nagel eine Polemik gegen den ungarischen Romancier und politischen Essayisten György Konrad, der zu der Zeit Präsident der Akademie der Künste in Berlin war. Konrad hatte sich kurz zuvor zum Irakkrieg bekannt und dies als etwas Gesundes und Vernünftiges bezeichnet, das sich andere nicht trauten. Wie Nagel erwiderte, handle es sich keineswegs um die unterstellte "Vorliebe für die irakische Willkürherrschaft" oder "Amerikafeindlichkeit" der Deutschen und Franzosen, wenn die Bevölkerung beider Länder diesen Angriffskrieg nicht mittragen wolle. Der Vorwand eines Kriegs der USA für einen demokratischen Irak sei nicht glaubhaft, zumal Bush erst spät auf die Idee dieser Rechtfertigung verfallen sei, nachdem die Massenvernichtungswaffen und Terrorverbindungen als Erfindungen der Kriegspropaganda entlarvt worden waren. Auch könne er Konrads neue Sympathie für die Polizei nicht begreifen. Diese sei in einem Rechtsstaat dem Parlament, der Regierung und der Justiz verantwortlich. Hingegen befolge der selbsternannte Weltpolizist seit Jahren kaum einen Beschluß der UNO-Vollversammlung, handle auch gegen den Sicherheitsrat und erkenne den Internationalen Gerichtshof nicht an.

In der Süddeutschen Zeitung merkte Ivan Nagel im Mai 2003 an, daß sich das "Falschwörterbuch der Sozialreformen" nicht von dem des Krieges trennen lasse. Auch an den Lügen um die eigene Gesellschaft erprobe sich, ob Blindheit zur Gewohnheit werde oder man den Gebrauch von Augen und Verstand mühsam weiterübe. In ihrer ersten Regierungsperiode habe die Koalition aus SPD und Grünen einschneidende Maßnahmen im Sozialsystem durchgesetzt, die eine Mehrheit der Wählerschaft von einer CDU/FDP-Regierung nicht angenommen hätte. So werde eine der schroffsten Veränderungen eingeleitet, die der Bundesrepublik in fünfzig Jahren zugemutet worden seien. An dieser neoliberalen Gleichschaltung wirkten die Medien fast ausnahmslos mit, die verschleiernde Dogmen wie "Eigenverantwortung", "Anreiz für Wachstum", "Senkung der Lohnnebenkosten" oder "Flexibilisierung des Arbeitsmarkts" nahezu kritiklos propagierten. In Bushs Amerika sei in vollem Gange, was auch für die Zukunft in Deutschland befürwortet und umbenannt werde: Steuersenkungen für Unternehmen, Niedriglöhne, leichte Kündbarkeit und Senkung des Existenzminimums.

Drei Monate nach dem offiziell verkündeten Ende des Irakkriegs, dem der Kampf gegen das Besatzungsregime folgen sollte, prangerte Nagel Anfang August 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die exorbitante Ungleichheit in der Welt an. Die USA hätten es so weit gebracht, daß hunderte Millionen Menschen gewaltsamen Widerstand durch Anschläge als letztes verbliebenes Mittel gegen diese Übermacht guthießen. Im Jahr 1776 im Namen der "Selbständigkeit und Gleichheit der Völker" gegründet, wendeten die USA heute maßlose Mittel auf, um sich über die Gleichheit und Selbständigkeit aller anderen zu erheben. Präventivkrieg, uneingeschränkte Rüstung und Immunität gegen das Internationale Strafgericht schafften einen Weltpolizeistaat, in dem die US- Regierung universale Ordnungsgewalt ausübe und einen Ausnahmezustand ohne Ende verhänge.

Als Susan Sontag mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt wurde, hielt Ivan Nagel im Oktober 2003 die Laudatio in der Frankfurter Paulskirche. Aus Sorge um Israel und Amerika habe sich ihr die Parallele zwischen zwei katastrophalen Wahnideen und Wahnstrategien aufgedrängt. Beide favorisierten Militärmacht, Beherrschung und Besetzung, statt sich an den Versuch zu wagen, schärfste Ungleichheit von Macht, Reichtümern und Hoffnung zu mildern. In einer Preisrede auf israelische Soldaten, die sich weigerten, jenseits der Grenze von 1967 zu töten, sagte Sontag:

Die Wahrscheinlichkeit, daß eure Akte des Widerstands die Ungerechtigkeit nicht beenden können, erspart euch nicht so zu handeln, wie ihr es für das wahre Interesse eures Volkes haltet. Es ist nicht Israels wahres Interesse, Unterdrücker zu sein. Es ist nicht Amerikas wahres Interesse, Hypermacht zu sein, die ihren Willen jedem Land der Erde aufzwingen kann, wie es ihr beliebt.
(S. 93)

Und Ivan Nagel fügte hinzu, nur eine Wahnidee könne zwei Regierungen einflüstern, daß die Demonstration maßloser Übermacht jene selbstmörderischen Taten aufhalten werde, die eben diese Übermacht erst zum verzweifelten Impuls gemacht habe.


Ivan Nagel
Das Falschwörterbuch
Krieg und Lüge am Jahrhundertbeginn
Berliner Tachenbuch Verlag, 2004
139 Seiten, Euro 7,50
ISBN 3-8333-0105-8