Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/344: Newth - Die Krähe, die nicht bis 5 zählen konnte (SB)


Eirik Newth


Die Krähe, die nicht bis 5 zählen konnte Geschichten aus der tollen Welt der Zahlen



Die Menschheit läßt sich grundsätzlich in zwei Arten unterteilen: Für die Mehrheit ist Mathematik ein Buch mit sieben Siegeln, für die Minderheit hingegen vollkommen logisch. Die Grauzone dazwischen ist gewiß nicht unbevölkert, aber ordnen wir sie der mathematischen Einfachheit halber der einen oder anderen Seite zu. Nun interessiert es manche Vertreter aus der zweiten Gruppe herzlich wenig, daß sie von den ersteren nicht verstanden werden, Hauptsache, sie können Mathematik betreiben. Das sind die Wissenschaftler, die dürfen das. Die werden fürs Zählen bezahlt.

Andere aus der zweiten Gruppe bemühen sich dagegen sehr, den vielen Unwissenden Mathematik beizubringen. Das sind mitunter Eltern, Freunde oder ältere Geschwister (selten), Lehrer (recht häufig) oder eben Buchautoren (hin und wieder). Und wo wir so schön beim Aufzählen, Einteilen und Vergleichen sind: Alle Personen, die anderen mathematisches Denken beizupulen versuchen, lassen sich unterscheiden in wenige, denen das gelingt, und leider sehr viele, die an dieser Aufgabe scheitern.

Zu letzteren zählt der Autor des Buchs "Die Krähe, die nicht bis 5 zählen konnte". Im Untertitel verspricht Eirik Newth "Geschichten aus der tollen Welt der Zahlen", was durchaus zutrifft, denn es wird die ein oder andere Anekdote zum besten gegeben, nur - an wen richtet sich das Buch eigentlich?

Es beginnt mit dem einfachen Abzählen, was für völlige Mathe- Anfänger nützlich sein könnte, führt aber gleich über zur Bruchrechnung (Mittelstufe) und endet mit der Beschreibung des binären Codes auf einer als Absender dienenden Plakette für Außerirdische an der Außenwand der Raumkapsel Pioneer, die das Sonnensystem verlassen hat (Lehrerfortbildungsseminar?). Dazwischen liegen Kapitel oder Abschnitte zu Primzahlen, Geheim- Codes, Dimensionen, Rationalen Zahlen, Computerviren, zur Pi- Formel, Potenzrechnung und Quadratwurzel sowie zum Dezimal- und zu anderen Zahlensystemen.

Wohlwollend formuliert: Ganz schön starker Tobak für Grundschüler! Anders gesagt: Das ist für sie eine völlige Überforderung, die nur in Frust münden kann. Und für ältere Semester stellt das Buch eine völlige Unterforderung dar, ein als albern aufgefaßter Versuch, pädagogisch auf sie einwirken zu wollen. So etwas löst bei Schülern gewöhnlich den unbedingten Abwehrreflex aus.

Alle Kapitel sind reichlich illustriert, und zwar auf eine Weise, die deutlich macht, daß sich das Buch augenscheinlich an Kinder richtet, genauer gesagt an kleine Kinder, die vermutlich noch in die Vorschule, allenfalls in die erste oder zweite Klasse gehen. In allen höheren Klassen wären die Kinder schon wieder so vernünftig und um Abgrenzung zu jenem Alter bemüht, das sie soeben erst erfolgreich hinter sich gelassen haben, daß sie auf die kindgerechten Illustrationen kaum ansprechbar sein dürften.

Erst wenn aus den Kindern Erwachsene geworden sind, die wiederum Kinder in die Welt gesetzt haben und sich nun daran erinnern, daß sie Mathematik ab einer bestimmten Klasse partout nicht mehr begriffen haben, und sich jetzt wünschen, ihren eigenen Nestlingen jenen schulischen Leidensweg ersparen zu können, indem sie ihnen ein vermeintlich sinnfälliges Mathebuch als Aufmunterung schenken, betritt die eigentliche Zielgruppe die Bühne (und den Buchladen): Die mathematisch unbewanderten, gerade mal bis sieben Siegel zählenden Eltern, die einst gehofft hatten, dem für sie nervigen Schulfach endgültig entkommen zu sein und sich nun, ratlos wie eh und je, im Leid ihres Nachwuchses erneut mit Mathe konfrontiert sehen.

Diesen Eltern sei geraten: Tun Sie sich (und Ihrem Kind) dieses Buch nicht an! Fallen Sie nicht auf das Versprechen herein, daß Mathematik ganz einfach sei! Fragen Sie eine Person ihres Vertrauens, zu welcher kindgerechten mathematischen Begleitlektüre sie Ihnen rate. Oder trauen Sie sich ein eigenes Urteil zu. In diesem Fall empfiehlt es sich, zum Beispiel (rein zufällig) Seite 41 aufzuschlagen und zu prüfen, ob Sie ernsthaft glauben, daß Ihr Sprößling das Kapitel "Die Ewigkeit in Pi" begreifen wird.

Nun sollte von einem Mathebuch, das keinen curricularen Erfordernissen genügen muß, nicht erwartet werden, daß es den üblichen Lehrstoff nur eben in leicht abgewandelter Form präsentiert. Im Gegenteil, es soll ergänzen oder Einstiegshilfen liefern, wo Schulbücher Schwächen zeigen. Es gibt durchaus nützliche und zugleich unterhaltsame Bücher zur Welt der Mathematik, die altersgerecht präsentiert werden und lehrreich sind. Aber deren Autoren, bzw. Autorinnen werben nicht damit, daß ja alles ganz einfach sei und man nur ihr Buch zu lesen brauche, um ein ganz besonderes Verständnis von Mathematik zu gewinnen. In der Ankündigung des Hanser-Verlags lesen wir dagegen: "Angst vor Mathe? Eirik Newth fegt sie einfach weg!" Dem wäre an dieser Stelle klärend hinzuzufügen: Und da liegt nun der ganze zusammengefegte Haufen Angst in irgendwelchen unzugänglichen Ecken oder unter dem Teppich, wo er ein Leben lang gemieden werden muß.

Gute Sachbuchautoren zum Thema Mathematik kommen in der Regel aus der pädagogischen Praxis, seltener - wie Newth, der Astrophysik studiert hat - aus dem Wissenschaftsbetrieb. Jemand, der selber Mathematik anwenden kann, muß noch lange kein guter Vermittler dieser abstrakten Materie sein. Und wenn jemand behauptet, daß Mathematik "ein Teil der Natur um uns herum" ist und daß auch Tiere zählen können, "weil die Mathematik überall vorkommt: in Wind und Wasser, auf Sternen und Planeten, im Gehirn von Insekten und Vögeln und sogar von Schülern, die sich in der Mathestunde langweilen" (S. 6), dann mag er damit ein Schmunzeln auslösen, aber er übersieht, daß es sich bei Mathematik um ein angelerntes und nicht natürlicherseits vorgegebenes Beschreibungssystem handelt. Deshalb ist es für die Vermittlung von Mathematik unabdingbar, daß sich jemand in den Lernenden hineinversetzen kann und weiß, welche Probleme und Fragen dieser hat. Ein Autor oder Lehrer wäre somit besser beraten, wenn er seine eigene Sichtweise von der Mathematik als Universalschlüssel zur Erklärung der Welt und einfach allem der Sichtweise des um Verstehen ringenden Schüler nachordnete.

Wahrscheinlich haben viele, die diese Zeilen lesen, selber die unangenehme Schulerfahrung machen müssen, daß sie ab einer bestimmten Stufe in der Mathematik den Anschluß verloren und ihn auch zeit ihrer schulischen Karriere nicht mehr zurückgewonnen haben. Die Betroffenen finden sich meist damit ab und halten sich eben für zu dumm, um Mathematik zu begreifen. Welcher Schüler oder Erwachsene besitzt schon so viel Selbstbewußtsein, zu behaupten, daß ein nicht unerheblicher Teil des eigenen Versagens mit der begrenzten Fähigkeit des Lehrers, den Stoff zu vermitteln, zu tun hat?

Nehmen wir zum Beispiel Newths Versuch, die Theorie der Raumdimensionen mit den Begriffen "Flachland" (zwei Dimensionen), "Raumland" (drei Dimensionen) und "Hyperland" (vier Dimensionen) zu erklären. Dazu schreibt der Autor:

Wir haben drei Dimensionen. Oder wie die Mathematiker sagen würden: Wir leben in einer dreidimensionalen Welt. Stell dir jetzt vor, es gäbe noch eine weitere Dimension. Neben Länge, Breite und Höhe eine Art "Super-Höhe". Diese vierte Dimension können wir mit dem Verstand unmöglich fassen, da wir auf einem Planeten geboren und aufgewachsen sind, auf dem nichts und niemand mehr als drei Dimensionen hat. Doch die Mathematik sagt uns, dass es die vierte Dimension dennoch gibt.
(S. 24)

Mit anderen Worten, der Leser soll sich etwas vorstellen, von dem im selben Absatz behauptet wird, daß es unvorstellbar sei. Ist es nun dumm seitens des Schülers, wenn er das nicht begreift? Oder ist es ein Zeugnis des Unvermögens seitens des Autors, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen?


Ein Mathematiker rechnet selbstverständlich mit drei, vier oder unendlich vielen Dimensionen, das ist für ihn kein Problem, solange er innerhalb des Regelwerks bleibt, auf das sich die Mathematiker geeinigt haben. Verläßt er jedoch das abgesteckte Terrain und versucht, den Eindruck zu erwecken, Mathematik sei etwas anderes als die strikte Befolgung von Rechenvorschriften, befördert er damit ein weltanschauliches Anliegen. Das dürfte bei vielen Lernenden zur Verwirrung führen, da sie damit nicht gerechnet haben.

Im übrigen ist es fraglich, ob es Sinn macht, in einem Buch, das als "Hinführung zur Mathematik" angekündigt wird, den Schülern zu empfehlen, eine einfache Multiplikation mit Hilfe des Taschenrechners nachzuprüfen (S. 31). Kurzum, Krähen, die nicht bis fünf zählen können, werden dies auch nach der Lektüre von Eirik Newths Buch nicht schaffen ...


Eirik Newth
Die Krähe, die nicht bis 5 zählen konnte.
Geschichten aus der tollen Welt der Zahlen
Carl Hanser Verlag, München, Wien 2006
Euro 12,90
ISBN-10: 3-446-20446-6
ISBN-13: 978-3-446-20446-1


Datum: 15.8.2006