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REZENSION/395: Murat Kurnaz - Fünf Jahre meines Lebens (SB)


Murat Kurnaz (mit Helmut Kuhn)


Fünf Jahre meines Lebens

Ein Bericht aus Guantanamo



Am Fall Murat Kurnaz, mit dem sich die deutsche Öffentlichkeit seit dessen Entlassung aus dem Sonderinternierungslager auf dem US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba im letzten Herbst auseinandersetzen muß, scheiden sich die Geister. Für die einen handelt es sich bei dem 1982 in Bremen geborenen Sohn türkischer Eltern um einen unschuldigen und unbescholtenen Bürger, der durch unglückliche Umstände in die Hände derjenigen geraten ist, die seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 meinen, mit allen Mitteln einen globalen Kreuzzug führen und ihre Gegner unter dem Begriff des "Terroristen" nicht mehr als Menschen behandeln zu müssen. Für die anderen ist Kurnaz der "Bremer Taliban", der im Dezember 2001 in Pakistan festgenommen wurde, bevor er sich dem Kampf gegen die zwei Monate zuvor in Afghanistan einmarschierten, westlichen Streitkräfte anschließen konnte.

In den letzten Monaten hat Kurnaz durch Interviews mit der Zeitschrift Stern und Auftritten in der ARD-Fernsehsendung Beckmann sowie vor dem Geheimdienst- und dem Verteidigungsausschuß des Bundestages in Berlin viel zur eigenen Rehabilitierung beigetragen. Wiewohl Kurnaz' Aussehen, vor allem der prächtige rote Piratenbart, gewöhnungsbedürftig ist und bei den durschnittlichen Medienkonsumenten Assoziationen mit Todfeinden des Westens wie Osama Bin Laden oder Aiman Al Zawahiri weckt, hat der heute 25jährige Deutschtürke durch die ruhige und gefaßte Art und Weise, wie er seine schrecklichen Erlebnisse schildert, viele Sympathien gewonnen und nicht wenig zur Korrektur des allgemeinen Bildes vom frommen Moslem beigetragen.

Die Aussagen von Kurnaz haben in Deutschland eine Menge politischen Staubs aufgewirbelt. Seine Behauptung, im Januar 2002 im US-Militärlager im afghanischen Kandahar von Mitgliedern des Kommandos Spezialstreitkräfte (KSK) mit dem Kopf auf den Boden geschlagen und getreten worden zu sein, hat die Bundeswehr, welche nach eigenem Selbstverständnis die Missetaten der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg niemals wiederholen sollte, derart in Erklärungsnot gebracht, daß man sich nicht anders als mit einer durchsichtigen Säuberung der betreffenden Datensätze zu helfen wußte.

Die Erkenntnis, daß bereits 2002 die Geheimdienste der USA und der BRD zu dem einhelligen Schluß gekommen waren, daß Kurnaz nichts mit den Taliban oder dem Al-Kaida-"Netzwerk" zu tun hatte und daß die damalige rot-grüne Regierung in Berlin ihn trotzdem weitere vier Jahre in Guantánamo sitzen ließ, hat zurecht einen heftigen Skandal ausgelöst, der heute noch anhält. Der damals verantwortliche Leiter des Kanzleramtes und heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier führt zur Rechtfertigung der umstrittenen Entscheidung die Unübersichtlichkeit der Post-9/11-Bedrohungslage an - wofür man ein gewisses Verständnis angesichts der schweren Verantwortung der politischen Führung für die allgemeine Sicherheit aufbringen könnte. Unerträglich dagegen ist die Uneinsichtigkeit des Ex-Innenministers Otto Schily, der trotz erdrückender, gegenteiliger Beweise nach Gutsherrn Art versucht, Zweifel an der Unschuld Kurnaz' zu wecken und diesen als mutmaßlichen islamistischen "Schläfer" darzustellen.

Folgt man der aberwitzigen Argumentation Schilys, hätten wir es bei Kurnaz mit jemandem zu tun, der seine Unschuld nur vortäuscht, entweder ein Al-Kaida-Aktivist oder -Sympathisant ist und der mit einer beispiellosen Ein-Mann-Desinformationskampagne bei den Menschen in Deutschland Zweifel an der Notwendigkeit und Richtigkeit des Kampfes gegen den "islamistischen Terrorismus" zu wecken versucht, um den Westen moralisch zu schwächen, damit in nicht allzuferner Zukunft die Nachfolger Mohammeds der ganzen Welt das Kalifat aufzwingen können. Gegen dieses absurde Szenario sprechen die detaillierten Angaben, die Kurnaz mit Hilfe von Helmut Kuhn in dem höchst empfehlenswerten Buch "Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo" macht. Darin erklärt Kurnaz dezidiert und recht plausibel, was es mit seiner Studienreise nach Pakistan im Oktober 2001 auf sich hatte, wie die Verdachtsmomente gegen ihn - die sich später als unbegründet herausstellten - zustande kamen u. v. m. Schnell wird dem Leser klar, wie leicht heutzutage der Mensch im allgemeinen, der einfache Moslem im besonderen, zum "Terroristen" abgestempelt werden kann.

Die Dauerschikanen, die Kurnaz und seine Mitgefangenen zunächst in Kandahar und später auf Guantánamo erlebten, sind zwar drastisch und brutal, gleichzeitig jedoch nur die Spitze dessen, was die Befürworter des "Antiterrorkrieges" seit nunmehr fast sechs Jahren der ganzen Menschheit zumuten. Kurnaz muß man Recht geben, wenn er meint, der Zweck Guantánamos sei nicht die Gewinnung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, sondern die Einschüchterung aller, weil unter bestimmten Umständen praktisch jeder dort als "illegaler Kombattant" landen könnte. Die Soldaten und Wärter der USA müssen praktisch die Gefangenen des "Antiterrorkrieges" und die Insassen von Guantánamo malträtieren, um sich selbst gegenüber die Lüge aufrechtzuerhalten, daß man es hier mit den "Schlimmsten der Schlimmen" zu tun habe - um die Formulierung des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld zu gebrauchen.

Kurnaz und hunderte andere arme Schlucker wurden in Pakistan und Afghanistan gegen Kopfgeld an das US-Militär verkauft, dessen Soldaten und Geheimdienstleute aus ihnen herausprügeln sollten, wo der Bösewicht Osama Bin Laden abgeblieben war. Währenddessen sorgten Bush, Rumsfeld und die US-Generäle, die den Einmarsch in Afghanistan befehligten, angeblich um Bin Laden gefangenzunehmen, dafür, daß sich der Al-Kaida-Chef mit seinen wichtigsten Vertrauensleuten von Tora Bora nach Pakistan absetzen konnte. Aus den ganzen Sprüchen nach dem 11. September, von wegen Bin Laden "tot oder lebendig" fassen, wurde schnell die Behauptung, ein Erfolg im "Antiterrorkrieg" dürfe nicht von der Verhaftung eines einzelnen Mannes abhängig gemacht werden. Natürlich nicht, wenn man seine Streitkräfte langfristig in Afghanistan stationieren will und den Irak, den Iran und eventuell andere Länder der öl- und gasreichen, strategisch gelegenen Region zwischen Mittelmeer und Hindukusch unter Verweis auf "Terrorismus" oder "Massenvernichtungswaffen" zu überfallen gedenkt.

Welche "Werte" sollen das nun sein, die der Westen angeblich verteidigt, indem er in Kandahar, Guantánamo und den berüchtigten "black sites" der CIA sogenannte "illegale Kombattanten" wochen- und monatelang körperlich und seelisch foltert, sie jahrelang von der Außenwelt abschneidet und sie im Einzelfall auch umbringt? Kurnaz hat in Kandahar selbst ansehen müssen, wie ein Mitgefangener zu Tode getreten wurde. An den hinter dem Rücken gefesselten Händen hing er selbst mehrere Tage von einer Zellendecke herab. In der Nebenzelle war ein Mitgefangener dieser bestialischen Prozedur bereits erlegen. Der Rechtsstaat, der solche Praktiken duldet oder wie im Falle der USA die in Guantánamo Bay getesteten Foltermethoden auch noch exportiert - siehe den Skandal von Abu Ghraib -, verdient diesen Namen nicht mehr. Kurnaz selbst berichtet von einzelnen amerikanischen Militärpolizisten in Guantánamo, die von ihrem Auftrag und den Verhältnissen dort angewidert waren und sie für unvereinbar mit den ursprünglichen Idealen der Vereinigten Staaten hielten.

Tatsächlich sind es US-Militäranwälte, die Mitglieder des Judge Advocate General's Corps (JAG), wie Charles Swift, die an vorderster Front versuchen, die von der Bush-Regierung explizit angeordneten, menschenunwürdigen Behandlungen der "illegalen Kombattanten" in Guantánamo juristisch zu Fall zu bringen. Es steht viel auf dem Spiel, nämlich ob die herrschende Gesellschaftsform in den westlichen Industriestaaten künftig demokratisch oder doch absolutistisch sein soll. Ein Indiz dafür, wie weit man in Deutschland in Richtung Totalitarismus bereits vorangeschritten ist, ist die jüngste, von Innenminister Wolfgang Schäuble losgetretene Diskussion, ob man nicht den verfassungsrechtlichen Rahmen für die vorbeugende Erschießung mutmaßlicher "Terroristen" schaffen sollte. Wäre Schäubles Vorstoß bereits 2001 verwirklicht worden, hätten die KSK-Helden in Kandahar Murat Kurnaz völlig "legal" umbringen können. Dies hätte den Verantwortlichen in Berlin sicherlich jede Menge Komplikationen erspart.

10. Juli 2007


Murat Kurnaz (mit Helmut Kuhn)
Fünf Jahre meines Lebens
Ein Bericht aus Guantanamo
Rowohlt — Berlin Verlag GmbH, Berlin, April 2007
288 Seiten
ISBN: 978-3-87134-589-0