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REZENSION/397: Der Brockhaus in drei Bänden (SB)


Der Brockhaus in drei Bänden


und eine DVD-ROM



Im Zeitalter des Internet und der sekundenschnellen Verfügbarkeit einer nicht zu ermessenden Fülle an Informationen drängt sich die Frage auf, welchen Nutzen ein Lexikon in gedruckter Form überhaupt noch hat. Muß es nicht in jeder Hinsicht gegenüber den vielfältigen Möglichkeiten der elektronischen Archive hoffnungslos zurückstecken?

Durch den faktologischen Vergleich von Printprodukten und elektronischen Lexika wird diese Frage mit einem scheinbar klaren Ja beantwortet. Während eine Suchanfrage zu einem bestimmten Begriff im Internet nur wenige Mausklicks erfordert und sich dem Nutzer in der Folge ganze Welten an Informationen eröffnen können, erfordert die Suche in einem gedruckten Lexikon zunächst einmal mühselige Handarbeit - insbesondere wenn es sich um ein so gewichtiges Werk wie den vorliegenden "Brockhaus in drei Bänden" handelt.

Jeder einzelne Band wiegt rund zwei Kilogramm, was bereits einige Stemmarbeit erfordert, noch bevor sich der Nutzer daran machen kann, den Wissensschatz zu heben. Der erweist sich dann trotz oder gerade wegen der Menge von 80.000 Stichwörtern in der Regel als recht bescheiden. Während im Internet unter Umständen seitenlang zu einem Stichwort referiert wird und vor dem Auge des Betrachters womöglich phantastische Animationen abspulen, die reizstarke Eindrücke visueller und akustischer Art liefern, wird er beim Printmedium meist mit wenigen Zeilen abgespeist und kann dankbar sein, wenn ihm in einer kargen, randläufigen Schemazeichnung beispielsweise das Funktionsprinzip einer Kupplung veranschaulicht wird.

Die Gegenüberstellung von gedrucktem und elektronischem Medium rührt an die Grundsatzfrage, welche Bedeutung Informationen zukommt. Die Antwort, daß es auf die Absicht des Anwenders ankommt, ist banal. Die bloße Existenz unendlich vieler Informationen an sich nutzt jedoch wenig, sie müssen auch verfügbar sein. Die bloße Verfügbarkeit von Informationen nutzt ebenfalls wenig, sie müssen auch zugänglich sein. Die bloße Zugänglichkeit wiederum nutzt gleichfalls wenig, da sich die Informationen auch einprägen müssen. Und da hat das schwere, vergleichsweise spärlich ausgestattete und umständlich handzuhabende Printprodukt Vorteile, an die elektronische Datensysteme nicht heranreichen: Das gedruckte Wort bleibt eher haften als sein elektronisches Pendant. Die sogenannten kognitiven Fähigkeiten des Menschen haben sich offenbar viel weniger vom ursprünglichen Begreifen, der taktilen Orientierung im Raum, entfernt, als gemeinhin angenommen.

Das bedeutet, daß die behäbige Arbeit mit dem lexikalischen Buch im Sinne der Erwartung, durch das Nachschlagen ein winzig kleines Stück zur Lebensbewältigung beitragen zu können, für manchen Nutzer sehr viel mehr bringen kann als die theoretische Verfügbarkeit von ungeheuren Datenmengen, die jedoch ewig unverknüpft bleiben - womöglich weil die betreffende Person davon ausgeht und sich innerlich darauf eingestellt hat, das Wissen jederzeit mit ein paar Klicks wieder aufrufen zu können.

Aus diesen einleitenden Anmerkungen sollte umgekehrt nicht der Schluß gezogen werden, daß es sich um einen Appell handelt, den Kalender wieder auf das Datum vor Beginn des elektronischen Zeitalters zurückzustellen. Das Internet hat seinen Platz in der Welt und es erweitert ihn ständig - aber es wäre eine Verarmung, würde deswegen auf das Printmedium verzichtet werden.

Im Unterschied zu Romanen oder Sachbüchern hat es ein Lexikon besonders schwer, sich in der heutigen Zeit zu behaupten, da es dem Nutzer häufig nur darum geht, ein Stichwort nachzuschlagen, und der Schwerpunkt liegt hier auf Schnelligkeit. Diesem Interesse hat der Brockhaus-Verlag bereits insofern Rechnung getragen, als daß er eine Hybridform herausgegeben hat: Drei Bände plus eine DVD-ROM, die unter verschiedenen Systemen (Windows, Linux, Mac OS X) installiert und durch weitere elektronisch verfügbare Bücher ergänzt und laufend aktualisiert werden kann.

Bei der Auswahl der Stichwörter wurde offensichtlich versucht, konservatives Wissen (Großes Staatswappen von Bayern) mit modernen Strömungen (Trendsportarten) zu vereinen. Zwar wird man die für viele Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt wahnsinnig wichtige Romanfigur Harry Potter vergeblich suchen, aber immerhin bleibt die Autorin Joanne K. Rowling nicht unerwähnt, und hier stößt der Suchende auch auf den besagten Adepten der Zauberkunst.

Selbstverständlich dürfen die "Halbgötter" aus Hollywood nicht unterschlagen werden, was dem Bedürfnis vieler Menschen entgegenkommt, die nicht selten sehr viel mehr über das Leben von Schauspielern wissen als über das politischer Lenker der Vergangenheit oder Gegenwart. So findet sich in einer Randspalte unterhalb der Porträts von Franz Josef Strauß, Johann Strauß, Richard Strauß und Igor Strawinsky auch ein Foto der US-Schauspielerin Meryl Streep. An anderen Stellen wird über den britischen Popmusiker Sting, den ägyptischen Schauspieler Omar Sharif oder den US-amerikanischen Komiker Walter Matthau informiert - und die unübersehbar dem Zahn der Zeit ausgesetzte Rockband "The Rolling Stones" ist mit einem Gruppenfoto aus dem Jahre 2003 vertreten. Dieses zählt zu den mehreren tausend Abbildungen, Grafiken, Bildtafeln und Karten, auf die der Verlag trotz aller Enge des Platzes zur Vertiefung der Stichwörter nicht verzichtet hat.

Als wenig zeitgemäß hat sich indes der Eintrag über die AKP-Staaten erwiesen. Diese seien mit der Europäischen Union durch die Abkommen von Lomé assoziiert, hieß es. Lomé wurde aber im Juni 2000 von dem Cotonou-Abkommen abgelöst (ebenso wie die Lomé-Abkommen die noch älteren Vereinbarungen von Yaoundé ersetzt haben). Über Einzelheiten des Cotonou-Partnerschaftsabkommens wird zwar aktuell noch weiter verhandelt, aber an anderer Stelle geht der Brockhaus ebenfalls auf noch nicht gänzlich abgeschlossene Vorgänge ein, die sehr viel jüngeren Datums sind - warum also nicht auch hier?

Wissen ist Macht, lautet ein geflügeltes Wort - an dem vorliegenden Brockhaus wird deutlich, daß Wissen gemacht wird. Kein Lexikon gibt einfach nur wieder, was an Wissen existiert, sondern es produziert auch Wissen - in der einfachsten Form durch Weglassungen. So erfährt man beispielsweise in dem dreibändigen Brockhaus nichts über Michael Collins, ein über die irische Geschichte hinausgehend bedeutender und bekannter Freiheitskämpfer und Politiker, der international als Gründungsvater des modernen Guerillakriegs gilt. Statt dessen erfährt man aber, daß es sich bei "Collins, Phil" um einen 1951 geborenen, britischen Sänger und Schlagzeuger handelt, der von 1970 - 75 Schlagzeuger bei "Genesis", dann Sänger der Gruppe war, bis er eine Solokarriere startete.

Hieran wird beispielhaft deutlich, daß eine lexikalische Wissensübermittlung alles andere als wertneutral ist, sondern Ergebnis unzähliger redaktioneller Entscheidungen, was in die Sammlung aufgenommen werden soll und was nicht. Es wundert natürlich nicht, daß Phil Collins in einem Universallexikon aus dem Jahre 1973 (dtv) noch nicht aufgeführt wird. Dort werden wir allerdings bei Michael Collins fündig. Gleiches gilt für eine Lexikonreihe aus dem Jahre 1981 (fischer).

Legt man diese Stichproben, die sicherlich nicht den Anspruch von Repräsentanz erfüllen, sondern denen lediglich exemplarischer Charakter zukommt, zugrunde, so hat eine Wissensverschiebung von einem Freiheitskämpfer und Politiker hin zu einem Popmusiker stattgefunden. Das entspricht zwar dem gegenwärtigen, kulturexportierenden Trend - viele westliche Musiker und Schauspieler sind auch in Asien, Afrika und Lateinamerika bekannt -, aber es stellt sich die Frage, ob nicht eben dieser Trend des Informationszeitalters des 21. Jahrhunderts einer der Faktoren für den generellen Interessenschwund an gedruckten Lexika darstellt.

Nun wäre es völlig überzogen, dem Brockhaus-Verlag zu unterstellen, er habe sich mit seinem dreibändigen Universallexikon und der beigefügten DVD-ROM der Flüchtigkeit, Beliebigkeit und, je nach Sichtweise, Belanglosigkeit des Lebens von Filmschauspielerin und Popmusikern unterworfen. Vielmehr bliebe zu konstatieren, daß sich hier vorsichtig um einen neuzeitlichen Anstrich bemüht wird und sich der Gesamtcharakter solch eines Lexikons ein klein wenig verändert hat. Personenbezogene Stichwörter, die für die heutigen Generation wichtig sind, werden womöglich in einer der nächsten Ausgaben des Brockhaus, so es sie denn geben wird, ebenso schnell wieder hinausgeworfen, wie sie hineingenommen wurden.

11. Juli 2007


Der Brockhaus in drei Bänden
Vierte, aktualisierte Auflage
+ DVD-ROM
F.A. Brockhaus, Leipzig 2006
Gesamtwerk: ISBN-13 978-3-7653-1504-6