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REZENSION/442: Ilan Pappe - Die ethnische Säuberung Palästinas (SB)


Ilan Pappe


Die ethnische Säuberung Palästinas



Der 1954 geborene israelische Historiker Ilan Pappe war Professor an der Universität Haifa und lehrt nun an der Universität Exeter in England. Er gehört zur Gruppe der "Neuen israelischen Historiker", die sich kritisch mit der offiziellen Geschichtsschreibung ihres Landes befassen und aufgrund ihrer Erkenntnisse eine Revision dieses Bildes anstreben. Im vorliegenden Werk führt Pappe den Nachweis, daß die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina eine geplante und systematisch betriebene Deportation der einheimischen Bevölkerung einschloß. Indem er von einer ethnischen Säuberung Palästinas spricht, geht er einen Schritt weiter als viele andere Kritiker der Gründungsmythen Israels und verwendet eine Kategorie, die erst seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in vollem Umfang Einzug in den Diskurs internationaler Politik gehalten hat. Ethnische Säuberung bezeichnet nach heutigem Verständnis eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte, die geächtet und sanktioniert wird.

Die offizielle Geschichtsschreibung kann als Resultat uneingeschränkter Deutungshoheit im Dienst der Herrschaftssicherung nie etwas anderes sein als die spezifische Sichtweise der Sieger. Wie David Ben Gurion schon in seinen Kriegstagebüchern hervorhob, kommt es nicht auf die Authentizität historischer Bezugnahme, sondern auf deren Durchsetzung an. Diese machtbewußte Einschätzung wie auch seine unbedingte Entschlossenheit, von dieser Erkenntnis Gebrauch zu machen, trug wesentlich zu seinem Wirken als einer der wichtigsten Gründerväter des Staates Israel bei. So wie sich diese Nation nach ihren eigenen Maßgaben konstituierte, schuf sie auch einen entsprechenden Begründungszusammenhang, der in den Rang historischer Fakten erhoben wurde und alle ihm widersprechenden Auffassungen als antisemitische Lügen denunzierte.

Ilan Pappe verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff "Memorizid", um zu unterstreichen, in welchem Ausmaß nicht nur alle zivilisatorischen Spuren der vertriebenen Palästinenser vom Erdboden getilgt, sondern auch jede Erinnerung daran ausgelöscht wurde. Er faßt die Nakba nicht als große Katastrophe auf, die schicksalhaft über das palästinensische Volk gekommen ist, sondern weist auf Grundlage sorgsam recherchierten Quellenmaterials dezidiert nach, daß es sich um generalstabsmäßig geplante und durchgeführte Säuberungen handelte. Das Vorwort beginnt mit einer aufschlußreichen Aussage Ben Gurions vor der Jewish Agency im Juni 1938: "Ich bin für Zwangsumsiedlung, darin sehe ich nichts Unmoralisches." Was Wahrheit, Moral und Rechtmäßigkeit ist, bestimmen jene Kräfte, die den Besiegten nicht nur die Existenzgrundlagen, sondern darüber hinaus auch Stimme und Geschichte rauben.

Ben Gurion legte bereits 1937 und damit zehn Jahre vor dem UN-Teilungsplan dar, daß man aus pragmatischen Erwägungen einen Staat in den festgelegten Grenzen akzeptieren könne. Niemand dürfe jedoch von ihm verlangen, auf seine Vision zu verzichten. Die Grenzen der zionistischen Vision seien Sache des jüdischen Volkes, und kein äußerer Faktor könne sie beschränken. Damit gab er gewissermaßen das Leitmotiv zionistischen Strebens vor, denn in diesem Entwurf tauchen die bei der Expansion vertriebenen Völkerschaften mit keinem Wort auf. So nimmt es nicht Wunder, daß die zionistischen Führer das Ziel der ethnischen Säuberung nach dem Teilungsbeschluß der UNO 1947 mit politischen und militärischen Mitteln weiter verfolgten.

Zugleich wird deutlich, daß es sich keineswegs um Vorgänge und Planungen handelt, die allenfalls für Historiker von Interesse, doch für die aktuelle und künftige Entwicklung ohne Belang sind. Das Ende der zionistischen Vision ist nach wie vor offen, was nicht zuletzt seinen Ausdruck darin findet, daß Israel noch immer ein Staat ohne definitiv festgelegte Grenzen ist. Die ethnische Säuberung Palästinas beschreibt zwar einen klar umrissenen Zeitraum in der Vergangenheit, was jedoch keineswegs bedeutet, daß der damit dokumentierte Prozeß endgültig abgeschlossen ist.

Geschichtsforschung ist für Pappe nicht nur eine intellektuelle Betätigung, sondern weit darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit den Konflikten der Vergangenheit, die man zunächst erschließen muß, will man ein angemessenes Verständnis der Gegenwart entwickeln. Für ihn persönlich verbindet sich die berufliche Tätigkeit als Historiker mit seinem langjährigen Engagement für Frieden, Menschen- und Bürgerrechte. Zugleich legt er der israelischen Gesellschaft ans Herz, tief in die Vergangenheit zu blicken und sich nicht mit der Art und Weise abspeisen zu lassen, wie Geschichte nach Maßgabe der zionistischen Ideologie erforscht, gelehrt und vermittelt wird.

Als kritischer israelischer Historiker stieß er auf eine Geschichte von Vertreibung, Enteignung, Kolonisierung, Besatzung und Ausweisung. Dadurch konnte er sich davon überzeugen, daß es sich bei der offiziellen historischen Version der damaligen Ereignisse um einen Gründungsmythos des Staates Israel handelt. Nach vorherrschender Auffassung setzte die Flucht der Palästinenser sowohl vor als auch nach der israelischen Staatsgründung als Reaktion auf einen Aufruf der arabischen Führung ein, das Land vorübergehend zu verlassen, um dann mit den siegreichen arabischen Armeen zurückzukehren. Sie traten angeblich die Flucht trotz der Bemühungen der jüdischen Führung an, sie zum Bleiben zu veranlassen. In Wirklichkeit war jedoch das Gegenteil der Fall, denn, wie sich anhand von Quellen belegen läßt, arbeitete die politische und militärische Führung gezielt auf diese Flucht hin. Die Vertreibung der Palästinenser in die arabischen Nachbarländer war ihrer Auffassung nach unabdingbar für die zionistische Besiedlung und israelische Staatswerdung.

Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Zeitspanne von 1948 bis 1952, denn diese vier Jahre, die kurz nach der UN-Resolution über die Teilung Palästinas vom 29. November 1947 begannen, waren prägend für die weitere Entwicklung der arabisch-israelischen Beziehungen und sollten fortan das israelische Selbstverständnis bestimmen. Der Unabhängigkeitskrieg erwies sich als Schlüsselerlebnis sowohl für Juden als auch Palästinenser. Das jüdische Volk erlangte nach mehr als fünfzig Jahren intensiver zionistischer Besiedlung einen eigenen Staat, der zum Fixpunkt jüdischen Lebens auf der ganzen Welt und zu einem mächtigen politischen Faktor im Nahen Osten wurde. Die Palästinenser hingegen wurden zu einem Volk von Flüchtlingen, ihrer Heimat und jeder realistischen Hoffnung auf nationale Selbstbestimmung beraubt, wehrlos der Unterdrückung und Diskriminierung durch Juden wie Araber ausgeliefert.

Als der neugegründete Staat Israel den Krieg von 1948 gewonnen hatte, war das Schicksal der Palästinenser besiegelt. Israelische Milizen machten 537 palästinensische Ortschaften dem Erdboden gleich und vertrieben dabei 750.000 Bewohner ohne Entschädigung und Möglichkeit zurückzukehren. Anfang 1947 besaßen Juden sieben Prozent des palästinensischen Landes; drei Jahre später hatten sie 92 Prozent des Landes innerhalb des neuen Staats, einschließlich arabischer Häuser und jeglicher Art von Gebäuden erobert. Es handelte sich somit um eine hinsichtlich Ausmaß und Geschwindigkeit in der gesamten Kolonialgeschichte beispiellose Besitznahme.

Das israelische Verteidigungsministerium veröffentlichte 1982 die Kriegstagebücher Ben Gurions. Auch wurden nach und nach zuvor geheimgehaltene Dokumente freigegeben, die Rückschlüsse auf die Politik der Jewish Agency und der israelischen Regierung in der entscheidenden Phase bis zur Unterzeichnung der Waffenstillstandsverträge mit Ägypten, Jordanien, dem Libanon und Syrien 1949 zuließen. Hinzu kommt Material aus arabischen Quellen, das für gewöhnlich von seiten der israelischen Historiker fast vollständig ausgeblendet wird. In ihrer Gesamtheit legen diese Spuren den Schluß nahe, daß es der 1948 amtierenden zionistischen Führung und den späteren politischen Lenkern Israels immer nur um die Schaffung eines homogenen jüdischen Staats ging, der sich über die Gesamtheit oder doch den größten Teil Palästinas erstrecken sollte.

Akribisch und detailliert beschreibt Ilan Pappe Planung, Umsetzung und Folgen der ethnischen Säuberung, deren Greuel auf Grund der Vernichtung aller Spuren früherer palästinensischer Besiedlung und ihrer kompletten Leugnung in der bekannten Version israelischer Geschichte noch längst nicht umfassend erforscht sind. Die Generation der Zeitzeugen in den Flüchtlingslagern und besetzten Gebieten wird mundtot gemacht, bis die Erinnerung mit ihnen zu Grabe getragen ist.

Im Jahr 1948 bestand die wichtigste Aufgabe des Jewish National Fund darin, die Dörfer und Bodenflächen der enteigneten Palästinenser in jüdisches Land umzuwandeln. Damit sollte sichergestellt werden, daß Grundbesitz, Häuser und Vermögen, die man geraubt hatte, in die Hände des jüdischen Volkes übergingen und nie wieder arabisiert werden konnten. Heute versucht der JNF noch immer, den Palästinensern in der Westbank das Land zu nehmen und es den Juden zu übergeben. Mit Hilfe dieses Prozesses können neue jüdische Siedlungen errichtet und Araber vollständig aus ihnen ferngehalten werden. An diesem Beispiel wird deutlich, daß kritische Geschichtsforschung nicht nur die Kolonisierung der Vergangenheit offenlegt, sondern auch die Entsprechungen in der Gegenwart als bruchlose Fortführung derselben Bestrebungen ausweist. Obgleich die arabische Bevölkerung etwa dreimal so rasch wächst wie die israelische, ist sie in einen Raum eingezwängt, der eher kleiner als größer wird. Während seit 1948 Hunderte von neuen jüdischen Siedlungen errichtet wurden, ist keine einzige palästinensische gebaut worden.

Vor diesem Hintergrund mutet die vorgehaltene Zweistaatenlösung als Konstrukt an, die Besatzung fortzusetzen und einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu verhindern. Das Paradigma zionistischer Kolonisierung ist also noch immer am Werk: Weder soll es einen gemeinsamen Staat geben, in dem ein wesentlich rascher wachsender arabischer Bevölkerungsteil an Einfluß gewinnt, noch einen funktionsfähigen eigenen Staat der Palästinenser, der die Vision Großisraels beenden würde. Die Stoßrichtung dieses strategischen Entwurfs liegt auf der Hand: Durch Waffengewalt, Hunger, Krankheit und administrative Einschnürung macht man den Palästinensern das Leben bis hin zur physischen Vernichtung so schwer, daß sie im Ergebnis massenhaft in die Flucht wohin auch immer getrieben werden. Dann soll sich im großen Maßstab vollenden, was 1948 begonnen wurde. Kritische israelische Historiker wie Ilan Pappe tragen maßgeblich dazu bei, diesen Zusammenhang zu entschlüsseln und Sorge zu tragen, daß das Kalkül der ethnischen Säuberung nicht aufgeht.

9. Juni 2008


Ilan Pappe
Die ethnische Säuberung Palästinas
Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2007
413 S., 22,- Euro
ISBN 978-33-86156-799-8