Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/454: Jürgen Elsässer - Terrorziel Europa (SB)


Jürgen Elsässer


Terrorziel Europa

Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste



Demnächst sollen sich vor Gericht jene drei jungen Männer verantworten, die nach offiziellen Angaben durch die medienwirksame Festnahme im September 2007 im sauerländischen Oberschledorn gerade noch rechtzeitig daran gehindert wurden, auf deutschem Territorium den schlimmsten Terroranschlag seit den Flugzeugangriffen in den USA vor sieben Jahren durchzuführen. Jürgen Elsässer sieht die Dinge anders. Für den Autor sind die drei Moslems, Fritz Gelowicz, Daniel Schneider und Adem Yilmaz, "nützliche Idioten" bestimmter Elemente der deutschen Politelite, die den transatlantischen Schulterschluß mit den USA in Sachen "Antiterrorkrieg" suchen und zu diesem Zweck bereit sind, die Bundesrepublik von einem Rechtsstaat in eine Notstandsdiktatur zu verwandeln. Wegen demokratie- und verfassungsfeindlicher Umtriebe hat Elsässer deshalb bei der Präsentation seines Buchs am 5. September in Berlin den Rücktritt von Innenminister Wolfgang Schäuble, dem profiliertesten Verfechter einer neuen "Sicherheitsarchitektur" für Deutschland, gefordert.

Daß Elsässer mit einem so drastischen Ansinnen eine Minderheitenposition vertritt, dürfte für niemanden eine Überraschung sein. Dennoch ist diese Position einschließlich der dringlichen Warnung vor weiteren Inszenierungen im "Antiterrorkampf" unter Inkaufnahme von Toten und Verletzten gut begründet. Bereits in seinem 2005 erschienenen Buch "Wie der Dschihad nach Europa kam - Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan" ging Elsässer den zahlreichen Spuren nach, die auf eine perfide Zusammenarbeit bei der Zerschlagung des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien zwischen westlichen Sicherheitsapparatschicks und denjenigen muslimischen Söldnern/Dschihadisten hinwiesen, die sich beim Kampf gegen die Sowjetarmee in Afghanistan in den achtziger Jahren einen Namen gemacht und seitdem mit spektakulären Aktionen gegen amerikanische Ziele - 1993 gegen das New Yorker World Trade Center, 1998 gegen die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam, 2000 gegen den US-Lenkwaffenzerstörer Cole im jemenitischen Hafen Aden und schließlich am 11. September 2001 gegen die Zwillingstürme in New York und das Pentagon in Arlington - globale Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. In seinem neusten Buch "Terrorziel Europa - Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste" geht der umtriebige Journalist weiter denselben Spuren nach und fördert jede Menge beunruhigende Erkenntnisse zutage.

Was die Sauerland-Bomber betrifft, so stellt Elsässer fest, daß Terror-Fritz und seine beiden Kumpane monatelang im Rahmen einer großangelegten "Operation Alberich" unter engster Beobachtung der deutschen Sicherheitsbehörden standen. Offenbar wußte das Trio dies und hat sich trotzdem mehr als auffällig verhalten. Nach Einschätzung Elsässers wäre von den drei Desperados kaum eine Gefahr ausgegangen, hätten nicht die beiden Geheimdienstspitzel und Bosnienkriegsveteranen Yehia Yussif und Reda Seyam sie bei der Hand genommen und zu was auch immer animiert. Aus offiziellen Dokumenten, an die Elsässer herangekommen ist, geht hervor, daß Yussif im Raum Ulm jahrelang als inoffizieller Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg tätig war. Rechtzeitig vor der Festnahme seiner drei Schützlinge hat sich Yussif nach Saudi-Arabien abgesetzt. Bis heute haben die deutschen Behörden keinen Auslieferungsantrag für den Terror-Drahtzieher gestellt.

Laut Elsässer hat das Bundeskriminalamt Seyam 2003 aus einem Gefängnis in Jakarta geholt, wo er sich als mutmaßlicher Anstifter des blutigen Anschlags auf der indonesischen Ferieninsel Bali, der im Jahr davor fast 200 Menschen das Leben gekostet hatte, in Untersuchungshaft befand, und diesen gegen seinen Willen nach Ulm gebracht, damit er zusammen mit Yussif, seinem Kameraden aus gemeinsamen Tagen im Kampf gegen Serben und Kroaten, den "terroristischen Untergrund" in Süddeutschland beackere. Trotz bzw. gerade wegen seiner Involvierung in den großen "Terrorkomplott" der drei von ihm und Yussif angeblich "radikalisierten" Angehörigen der muslimischen Gemeinde Deutschlands lebt Seyam heute völlig unbehelligt in Berlin. Als Kontaktpersonen Seyams listet Elsässer unter anderem auf: Ramsi Binalschibh, der als Organisator der 9/11-Operation gilt und derzeit im US-Militärgefängnis Guantánamo Bay auf Kuba sitzen soll; Louai Sakra, der gleichzeitig zum Führungskader von Osama Bin Ladens Al Kaida gehört haben und Agent der Geheimdienste Syriens, der Türkei und der USA gewesen sein soll und der wegen der Anschläge 2003 in Istanbul eine langjährige Freiheitsstrafe in einem türkischen Gefängnis absitzt; und Abu Hamza, der berühmt-berüchtigte Leiter der Finsbury-Moschee in London, in der sich unter anderem der englische Schuhbomber Richard Reid, Zacarias Moussaoui, der französisch-marokkanische "20. Hijacker" des 11. September, und der Pakistaner Ahmed Omar Saeed Scheich die Klinke in die Hand gegeben haben sollen.

Scheich ist eine äußerst mysteriöse Figur, weshalb sich Elsässer eingehend mit seinem Fall befaßt. Der Sohn aus gutem Hause, dessen pakistanische Einwanderereltern ihn auf eine Eliteschule schickten, soll bereits an der Universität vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6 zur Unterwanderung islamistischer Gruppierungen auf der Insel angeworben worden sein. Scheich hat sich zur Jahrhundertwende an Anschlägen muslimischer Extremistengruppen in Indien beteiligt und gilt als derjenige, der im Sommer 2001 im Auftrag General Mahmud Ahmeds, des damaligen Chefs des pakistanischen Militärgeheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI), von Dubai aus 100.000 Dollar an Mohammed Atta, den zu diesem Zeitpunkt in den USA weilenden, mutmaßlichen Kopf der 9/11-Flugzeugattentäter, überwies.

Anfang 2002 soll Scheich eine wichtige Rolle bei der Verschleppung und Ermordung des Wall-Street-Journal-Reporters Daniel Pearl gespielt haben, von dem es seitens des damaligen pakistanischen Präsidenten General Pervez Musharraf hieß, er habe seine Nase zu tief in Angelegenheiten hineingesteckt, die ihn nichts angingen. Heute soll Scheich in einer pakistanischen Gefängniszelle auf die Vollstreckung seines Todesurteils wegen der Ermordung Pearls warten. Doch möglicherweise befindet er sich im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms unter einer neuen Identität auf freiem Fuß - ähnlich dem ehemaligen US-Elitesoldaten Ali Mohamed, dem früheren Leibwächter Osama Bin Ladens, der nachweislich am ersten WTC-Anschlag beteiligt war sowie bei den Bombenangriffen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania die Führung innehatte.

Jedenfalls ist der Kreis der wirklich gefährlichen muslimischen "Terroristen" in Europa relativ klein - was ihn für die Geheimdienste überschaubar macht -, jedoch gleichzeitig ziemlich inzestuös. Es ist das Verdienst Elsässers, dieses enorm komplizierte Dickicht an Beziehungen und Komplizenschaften für den Leser begehbar gemacht zu haben. Wichtige, zum größten Teil undurchsichtige Ereignisse im Antiterrorkrieg der letzten Jahre wie die "extraordinary rendition" des vermeintlichen "Haßpredigers" Abu Omar am hellichten Tag in Mailand 2003 durch die CIA, die Anschläge von Madrid 2004 und London 2005, die Verschleppung des Bundesbürgers libanesischer Herkunft Khalid al Masri Anfang 2004 von Mazedonien nach Afghanistan und dessen überraschende Freilassung nach einem mehrmonatigen Martyrium im US-Sondergefängnis Bagram werden von Elsässer ausführlich geschildert. Seine Deutung dieser bekannten Fälle hat zwar mit den offiziellen Versionen wenig gemein, weist aber dennoch einen recht hohen Plausibilitätsgrad auf. Hier kommt Elsässer seine Tätigkeit der letzten Jahre als Mitarbeiter des Geheimdienstausschusses des Deutschen Bundestags zugute, bei der er einen Blick hinter die Kulissen und hilfreiche Quellen im Sicherheitsapparat hat gewinnen können. Elsässer hofft, daß eine informierte Gegenbewegung die von den Transatlantikern angestrebte Verwandlung Deutschlands in eine "Überwachungsgesellschaft" à la George W. Bush noch aufhalten kann. Es steht leider zu befürchten, daß sich diese Hoffnung als trügerisch erweist.

24. September 2008


Jürgen Elsässer
Terrorziel Europa
Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste
Residenz Verlag, St. Pölten - Salzburg, 2008
343 Seiten
ISBN: 978-3-7017-3100-8