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REZENSION/508: Donella H. Meadows - Die Grenzen des Denkens (Systemtheorie) (SB)


Donella H. Meadows


Die Grenzen des Denkens

Wie wir sie mit Systemen erkennen und überwinden können



Ach, wenn sich doch die ganze Welt als ein vom Menschenverstand ersonnenes System beschreiben ließe, dann beherrschte das Bewußtsein das Sein und letzteres würde sich niemals dem gesteuerten Zugriff des Wissenden entziehen ... So könnte man den geheimen Wunsch der Systemtheoretiker zusammenfassen. Dem Begriff System werden wahre Wunderkräfte attestiert, wie bereits der Titel das vorliegenden Buchs "Die Grenzen des Denkens. Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können" von Donella H. Meadows zeigt. Hier wird die uralte Frage der Philosophie, ob sich der gefesselte Geist erkennen und selbst befreien kann, positiv beantwortet: In Systemen zu denken soll das Denken überwinden. Das geht zwar nicht aus dem amerikanischen Originaltitel "Thinking in Systems. A Primer" hervor, sehr wohl trifft es die Vorstellungen Meadows' recht genau.

Wer die Meßlatte derart hoch hängt, muß allerdings damit rechnen, daß ihm entsprechend auf den Zahn gefühlt wird und dabei die eine oder andere hohle Stelle zutage tritt. Beispielsweise hat der Rezensent den Eindruck gewonnen, daß gewöhnliche Menschen manchmal als besonders dumm dargestellt werden, damit die Systemtheoretiker sich von ihnen abheben können (so wie dem vermeintlich schlauen Sherlock Holmes, um ihn genial aussehen zu lassen, ein geistig nicht sonderlich beweglicher Dr. Watson zur Seite gestellt wurde). Untermauert wird dieser Eindruck durch das von Meadows eingeflochtene "Zwischenspiel" einer Sufi-Geschichte, nach der die blinden Bewohner einer Stadt "jenseits von Ghor" zum ersten Mal einem Elefanten begegnen und ihn aufgeregt abtasten. Jeder von ihnen würde das Tier anders beschreiben, je nachdem welches Körperteil er gerade befühlte. Die Lehre: "Das Verhalten eines Systems erschließt sich nicht allein durch die Kenntnis der Einzelteile, aus denen es besteht." (S. 23)

Kann eine übergreifende Sicht auf das Erkennen der Einzelteile verzichten? Sicherlich nicht. Ein System erfordert formallogisch die Existenz von Einzelteilen, ebenso wie Einzelteile nicht ohne die Annahme von etwas Ganzem existieren können. Wir haben es hier mit einem handfesten erkenntnistheoretischen Dilemma zu tun. Jene Sufi-Parabel wird von Meadows so interpretiert, als seien sich die Blinden nicht darüber im klaren, daß sie nur einen Teil von etwas Größerem befühlen. Kein Blinder wäre so dumm, daß er glaubt, nur weil er einen Rüssel betastet, der ganze Elefant sei ein Rüssel; ebensowenig wie er das Verhalten des Elefanten allein auf das Verhalten des Rüssels reduzieren würde.

Warum stellen wir diese kritischen Anmerkungen an den Anfang der Rezension? Weil sich aus der Zirkelschlüssigkeit weitere Mutmaßungen, zu hinterfragende Behauptungen und Irrtümer der Autorin und der von ihr betriebenen Systemtheorie aufzeigen lassen. Und nicht zuletzt weil angesichts der auf die Menschheit zukommenden Umweltprobleme auch der heilige Gral der Ökologie, die Systemforschung, auf den Prüfstand gehört. Denn sollten sich deren Werkzeuge als stumpf erweisen, hätte das womöglich unangenehme Folgen.

Eine umfangreiche Einführung, drei Ober- und sieben Unterkapitel, mehreren Dutzend Unterpunkte und ein Anhang zeugen in den "Grenzen des Denkens" von einem formal durchdachten Aufbau, der den Leserinnen und Lesern zu einem leichtgängigen Einstieg in die Konzepte und Modelle der Systemdynamikerin, wie sich Meadows innerhalb des breiten Felds der Systemtheorien einordnet, verhilft. Anhand einfach nachzuvollziehender Alltagsbeispiele (Badewanne, Thermostat) erläutert sie zunächst simple, dann komplexere Regelkreise, Rückkopplungssysteme, Schleifen, sich selbst verstärkende Systeme, etc. und bemüht sich außerdem um Bezüge zur Umweltforschung wie die Nutzung und Übernutzung von Ressourcen (Erdöl, Fische). Unverkennbar fühlt man sich an die Co-Autorin des weltberühmten Bestsellers "Die Grenzen des Wachstum" (1972) erinnert. Ihr aktuelles Buch, dessen erster Entwurf auf das Jahr 1993 zurückgeht und das die 2001 verstorbene Autorin nicht mehr abschließen konnte, wurde 2008 von Diana Wright vom Sustainabilty Institute aufgearbeitet und zu Ende gebracht.

Daß die Ausführungen in "Die Grenzen des Denkens" an einigen Stellen ein wenig aus einer anderen Zeit herüberwehen, wird an Meadows kritischer Einschätzung der geplanten Bestimmungen der Welthandelsorganisation WTO, die 1995 das GATT-Abkommen abgelöst hat, deutlich. Heute ringen die Mitglieder der WTO längst um eine Reform ihrer Institution und der rechtlichen Voraussetzungen, nach denen der Welthandel gestaltet werden soll. Da aber der Konflikt zwischen einflußreichen und -armen Staaten heute kein anderer ist als der vor rund eineinhalb Jahrzehnten, macht es tatsächlich nichts aus, daß das Buch nicht auf dem neuesten Stand ist. So kann man Wright beipflichten, wenn sie in ihrem Vorwort schreibt, daß Meadows Lehren "heute genauso relevant (...) wie damals" sind. (S. 10)

Die Autorin hat viele Jahre lang einen ökologischen Bauernhof betrieben, ein Öko-Dorf sowie das Sustainability Institute gegründet und war somit in Theorie und Praxis zu Hause. Eine zentrale Bedeutung für das vorliegende Buch kommt sogenannten "Hebelpunkten" zu, anhand derer Veränderungen von Systemen (S. 172ff) erzielbar seien. In der konkreten Beschreibung der von ihr aufgestellten zwölf Hebelpunkte macht Meadows zwar wieder einen Rückzieher, indem sie abstrakt bleibt, wo Konkretes gefragt ist, und die Hebelpunkte pauschal als vorläufig bezeichnet, aber wenn man die Autorin ernst nimmt, dann betreibt sie mit der Auflistung solcher Hebelpunkte eine Form der Vereinfachung, vor der sie an andere Stelle warnt. Deshalb klingt es wie eine Beschwörung, wenn die Autorin schreibt: "Wir wollen nicht nur daran glauben, dass es solche Hebelpunkte gibt, sondern auch wissen, wo sie sich befinden und wie wir sie bedienen können." (S. 170) Denn: "Hebelpunkte sind Schaltstellen der Macht."

Träumen nicht Wissenschaftler von Alters her davon, Hebel zu bedienen, mit denen sie die Welt aus den Angeln heben können? Merkwürdig nur, daß die Systemtheoretikerin wiederholt dem Intuitiven das Wort redet. Über ihren Lehrer Jay Forrester vom MIT schreibt sie, dieser habe einmal gesagt, daß die mit einem System vertrauten Menschen "oft intuitiv wüssten, wo die Hebelpunkte zu finden seien", allerdings eine Bewegung trotzdem in die "falsche" Richtung anstießen. (S. 171).

Bereits in ihren einleitenden Worten erklärt Meadows: "Hunger, Armut, Umweltzerstörung, wirtschaftliche Instabilität, Arbeitslosigkeit, chronische Erkrankungen, Drogensucht und Krieg beispielsweise bestehen weiterhin trotz aller analytischen Kompetenz und technischen Brillanz, die auf ihre Ausmerzung gerichtet worden ist. (...) Sie werden nur dann verschwinden, wenn wir uns wieder auf unsere Intuition besinnen, mit den Schuldzuweisungen aufhören, das System als Quelle seiner eigenen Probleme erkennen und den Mut und die Weisheit finden, es neu zu gestalten." (S. 19) Während sie an anderer Stelle der Intuition eine Absage erteilt, indem sie schreibt, daß "Hebelpunkte oft nicht intuitiv erfassbar" sind (S. 172), behauptet sie später: "Systemisches Denken hat mir beigebracht, mehr auf meine Intuition und weniger auf meinen forschenden Verstand zu vertrauen." (S. 207) An einer weiteren Stelle wird auch schon mal der Instinkt beschworen: "... Ein anderer Teil von uns erkennt instinktiv, dass die Natur die Welt in Fraktalen gestaltet, in faszinierenden Details auf jeder Skala vom Mikroskopischen zum Makroskopischen." (S. 209)

Offenbar wird mit der Betonung des Intuitiven die Unzulänglichkeit des Systemdenkens verschleiert. Mit einiger Berechtigung darf gemutmaßt werden, daß jemand, der einen Bauernhof bewirtschaftet und sich bemüht, ökologisches Denken anzuwenden, kein lupenreiner Vertreter einer Systemtheorie sein kann, da er vieles "aus dem Bauch heraus" entscheiden muß. Was am Beispiel des einfachen kybernetischen Regelkreises des Thermostats nachvollziehbar erscheint, läßt sich nicht so ohne weiteres prognostisch auf Umweltfragen anwenden.

In der Regel können Wissenschaftler erst im nachhinein behaupten, eine Wirkung sei regelhaft und Bestandteil eines Systems. Griffig formuliert könnte man sagen, der Mensch erkennt nur das, was er schon kennt. Allein daß die rapide wachsende Menschheit die Erdatmosphäre in ein unreguliertes Endlager für Treibhausgase verwandelt hat, wird in Form der globalen Erwärmung negativ auf sie zurückschlagen - ein Paradebeispiel für systemisches Denken. ABER: Das System wird erst aus der Rückschau beschrieben! Der Schaden ist angerichtet, die Erde erwärmt sich. Die Messungen laufen den längst eingetretenen Wirkungen hinterher.

Ein weiteres Beispiel: Einer der größten Erfolge internationaler Vereinbarungen zum Umweltschutz, das Montrealer Abkommen zum Schutz der Ozonschicht, wurde erst abgeschlossen, nachdem erkannt wurde, daß FCKWs das Ozon in der Stratosphäre abbauen, wodurch vermehrt gefährliche UV-Strahlung bis zur Erdoberfläche vordringt. Im nachhinein erscheint es als System mit In- und Outputs, Rückkopplungschleifen, sich selbst verstärkenden Effekten, etc. Doch erst, als der Schaden angerichtet war, vermochten Forscher zu sagen, welche Parameter vernachlässigbar und welche systemrelevant waren.

Demgegenüber erweist sich die Hoffnung, durch die Bestimmung systemischer Koordinaten vorweggreifen zu können, in vielen Fällen als vergeblich. Der Anspruch der Systemtheorie, auf das, was dem Menschen als überwältigende Wirklichkeit entgegenschlägt, mittels des Aufstellens von Gesetzmäßigkeiten, Regelkreisläufen und anderen Ordnungskonzepten die Wirkung zu nehmen und umgekehrt Wirklichkeit zielgenau zu gestalten, erweist sich als unhaltbar. So wurden zwar dank wissenschaftlicher Studien über die Ozonschicht FCKWs nur noch in sehr begrenzter Menge produziert, aber auch manche Ersatzstoffe (Tetrafluorethan, Stickstofftrifluorid) stellten sich als problematisch heraus, da sie als Treibhausgas wirksam sind. Und eine "reparierte" Ozonschicht schützt zwar dankenswerterweise vor der harten UV-Strahlung, trägt aber auch zum Treibhauseffekt bei.

Die Bezeichnung System spiegelt immer nur die Sichtweise des Betrachters wider, man könnte auch sagen, sein Nutzungsinteresse wird deutlich. Sand, "der völlig zufällig auf der Straße verstreut liegt" (S. 27), sei kein System, behauptet Meadows. Aber wie kommt sie darauf, daß Sand "zufällig" auf der Straße liegt? Beim genaueren Betrachten von Sand auf der Straße können durchaus Regelmäßigkeiten auffallen. Es kann sich eine Ordnung abzeichnen, denn der Sand kommt auf den wenig befahrenen Randbereichen zum Liegen. Oder er wird aus Windschneisen verweht und sammelt sich in Windlücken an; Sand wird manchmal absichtlich auf die Straße gestreut, um die Wirkung von Glatteis zu verringern, und zwar breitflächig verteilt, damit die Reifen greifen, und nicht als Sandhaufen, mit dem die Autos kollidieren. Daß Meadows Sand auf der Straße als Beispiel für etwas, das keinem System unterliegt, genommen hat, macht deutlich, daß das Aufstellen von Systemen allein vom Interesse und Standpunkt des oder der Beschreibenden abhängig ist.

Auch gegen verklärende Glaubenssätze scheint die Systemtheorie nicht gefeit. Als ein Beispiel für die Fähigkeit der "Selbstorganisation" schreibt Meadows: "Es ist die Fähigkeit einer einzelnen befruchteten Eizelle, aus sich selbst heraus die unglaubliche Komplexität eines erwachsenen Frosches, eines Huhns oder eines Menschen hervorzubringen." (S. 98) Dem ist entschieden zu widersprechen. Ohne eine spezifische Umgebung würde eine befruchtete Eizelle verkümmern - wo also wäre da das "Selbst" zu verorten? Das mag spitzfindig klingen, doch gemessen an dem Anspruch, der von der Systemtheorie hochgehalten wird, scheint es nur angebracht, ihre vermeintlichen Lösungen oder gar Lebensbewältigungsstrategien genau zu prüfen.

Der Vorschlag Meadows', sich die "richtigen Ziele" zu setzen (S. 166), kann man getrost in die Kategorie "Theorie" stecken, denn was richtige und was falsche Ziele sind, dürfte der Zielsetzende erst wissen, wenn ein Schaden entstanden oder nicht entstanden ist. Kein Mensch wird sich absichtlich "falsche" Ziele setzen. Diese Kategorisierung kann immer nur in der rückwärtsgewandten Betrachtung getroffen werden. Gleiches gilt für den Rat, "auf das wirklich Wichtige" zu achten. (S. 203)

Nicht unproblematisch mit Blick auf gesellschaftliche Fragen ist Meadows' Behauptung, das Universum sei in Hierarchien geordnet. (S. 102f) Denn aus dieser Sichtweise könnte eine hierarchische Gesellschaft quasi naturgesetzlich begründet werden. Damit soll Meadows nicht unterstellt werden, sie befördere wissentlich chauvinistisches Denken, aber angesichts der immer unverhohleneren Verbreitung sozialrassistischer Vorstellungen und Konzepte, wie sie in Deutschland von einem Berliner Ex-Senator und heutigen Bankmanager, einem Karlsruher Philosophen sowie Politikern und Vertretern des Wissenschaftsbetriebs verbreitet werden, sollten auch unbeabsichtigte Steigbügelhilfen für deren Denkweise zumindest kenntlich gemacht werden.

Zumal Meadows' Ausführungen zum Thema Leistung jenen Vertretern durchaus zupaß kämen. Die Autorin beschreibt das Postulat des Leistungsschwunds als Falle und bietet als Ausweg an: "Leistungsstandards konstant halten. Noch besser: dafür sorgen, dass die Standards entsprechend den besten tatsächlichen Leistungen angehoben werden, anstatt von den schlechtesten heruntergezogen zu werden. Mit der gleichen Systemstruktur lässt sich auf diese Weise eine Leistungssteigerung erreichen!" (S. 147)

Welchen Nutzen könnte dieses Buch haben? Es verhilft sicherlich zu einem Einstieg in die Begriffswelt und das Vorstellungsgebäude der Systemtheorie, wie sie Meadows gelernt und gelehrt hat. Für umweltpolitisch interessierte Leserinnen und Leser dürfte allerdings vieles, was hier in abstrakter Form zu Abhängigkeiten und sich gegenseitig beeinflussenden Größen gesagt wird, selbstverständlich sein. Manches wirkt gar etwas altbacken. Zusammenfassend könnte man sagen, daß der Titel "Die Grenzen des Denkens" recht schön getroffen ist ... nur an der Überwindung der Grenzen muß wohl noch gearbeitet werden.

7. April 2010


Donella H. Meadows
Sustainability Institute, neu bearbeitet von Diana Wright
Die Grenzen des Denkens
Wie wir sie mit Systemen erkennen und überwinden können
übersetzt von Karen Bossel und Hartmut Bossel, unter Mitwirkung von
Stephanie Weis-Gerhardt
oekom-Verlag, München 2010
238 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-86581-199-8