Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/560: Alena Thiem - Zwischen Traum und Trauma (Abschiebehaft) (SB)


Alena Thiem


Zwischen Traum und Trauma

Innen-Ansichten aus der Abschiebungshaft in Ingelheim



Im Sommer 2009 wurde die mediale Mauer des Schweigens über Menschen in Abschiebungshaft kurzfristig und punktuell durchbrochen. 20 Insassen des rheinland-pfälzischen Abschiebegefängnisses Ingelheim hatten sich am 13. Juli 2009 in ihrem Trakt aus Anlaß der versuchten Abschiebung eines Marokkaners verbarrikadiert. Der junge Marokkaner hatte sich nach Angaben der Polizei gegen den Transport gewehrt. [1] Es ist äußerst selten und vermeintlichen Ausnahmefällen und Extremsituationen geschuldet, wenn die tagtägliche Not eingesperrter Menschen der Erwähnung und Berichterstattung für wert befunden wird. Dies gilt für Straf- und Untersuchungshaftgefangene ebenso wie für all die Menschen, die einzig ihrer Freiheit beraubt werden, um die ihnen bevorstehende, aber aus verwaltungstechnischen oder juristischen Gründen zur Zeit noch nicht durchführbare Abschiebung zum Zeitpunkt X vornehmen zu können. Diesen Menschen wird keine Straftat oder sonstige Verfehlung zum Vorwurf gemacht; sie sollen, so heißt es, nicht bestraft werden. Sie befinden sich auch nicht in Polizei- oder Präventivhaft, worunter zu verstehen wäre, daß von ihnen eine Gefahr ausgeht oder ausgehen könnte, vor der die Gesellschaft geschützt werden müßte.

Nein, sie befinden sich, dies kann nicht deutlich genug betont werden, einzig und allein im Gefängnis, damit die zuständigen Ausländerbehörden und Gerichte über sie verfügen können und sie, sobald die letzten fehlenden Formalitäten erledigt oder juristischen Hürden genommen worden sind, abgeschoben werden können. Die Abschiebehaft wird also einzig und allein verhängt, um der theoretischen Möglichkeit, die Betroffenen könnten sich durch eine Flucht der ihnen drohenden Abschiebung entziehen, durch ihre Inhaftierung zuvorzukommen. Würden sie tatsächlich untertauchen, würden sie zu dem großen Heer illegalisiert in der Bundesrepublik Deutschland lebender Menschen hinzustoßen in der ständigen Angst vor Entdeckung, erneuter Inhaftierung und Abschiebung. Einen sicheren Ort gäbe es für sie nicht, und so ist damit zu rechnen, daß sie sich früher oder später wieder im Netz polizeilicher Fahndungen oder ausländerbehördlichen Kontrollen verfangen würden.

Menschen in Abschiebehaft haben keine (öffentliche) Stimme, sie finden kein Gehör. Sie befinden sich in einer Situation völliger Rechtlosigkeit, sie sind der Willkür der Behörden ebenso wehr- und schutzlos ausgeliefert wie dem Staat, auf dessen Territorium sie sich begeben haben. Diese Sätze mögen formaljuristisch unzutreffend sein und sind doch weitaus besser geeignet, das tatsächliche Erleben und die Sicht der Betroffenen widerzuspiegeln als das Beschwören jener Rechte, die ihnen in ihrer Situation in der Bundesrepublik Deutschland (angeblich) zustünden. Zu der traurigen Realität inhaftierter Menschen generell, aber auch insbesondere der Abschiebehäftlinge gehört die hohe Zahl versuchter und vollendeter Suizide. Diese Selbsttötungen sprechen eine eigene Sprache über eine Realität, für die sich die allerwenigsten, sich nicht betroffen wähnenden Menschen je interessieren würden und die in den meisten Medien einen extrem marginalen Stellenwert einnehmen.

Dafür gibt es konkrete Gründe. Die Vergesellschaftung des Menschen wie auch die Qualifizierung der Verfügungsgewalt des Menschen über den Menschen haben inzwischen einen Grad erreicht, der die Unterscheidung zwischen gesellschaftlich nützlichen und "wertlosen" Menschen in großem Stil nicht etwa anstrebt und vorbereitet, sondern auf leisesten Sohlen längst vollzieht. Diese Sohlen sind nicht zuletzt angesichts der historischen Erfahrung des millionenfachen Menschenmordes deshalb so leise, um Solidarisierungen und Proteste von vornherein zu unterbinden. Tag für Tag können in Deutschland Menschen in das Land ihrer Verfolger abgeschoben und ihren Häschern ausgeliefert werden, ohne daß dies, von wenigen Ausnahmen abgesehen, hierzulande zu Gegenreaktionen führen würde. Die Abschottungspolitik, die europaweit durch die Agentur Frontex inzwischen mit militärischer Präzision durchgeführt wird, verfügt über ein innenpolitisches Pendant in einer rigiden Ausländer- und Asylpolitik, der in erster und letzter Linie der Zweck innewohnt, möglichst viele Menschen ausländischer Herkunft, an denen hierzulande kein Verwertungsinteresse besteht, wieder außer Landes zu schaffen.

Dies führt zu einen Ausmaß an mit behördlicher Gründlichkeit und administrativer Kälte vollzogener Grausamkeit, für die es sehr schwer ist, überhaupt sprachliche Ausdrucksmittel zu finden. Einen bemerkenswerten Versuch in dieser Richtung unternahm Alena Thiem mit ihrem 2010 erschienenen Bildband "Zwischen Traum und Trauma - Innen-Ansichten aus der Abschiebungshaft in Ingelheim". Herausgegeben wurde dieser mit vielen großformatigen Bildern, die die architektonische Kälte eines Abschiebegefängnisses, das einem Hochsicherheitstrakt gleichkommt, ebenso veranschaulichen wie die jeder Lebensfreude abträgliche Inneneinrichtung, ausgestattete Band vom Diakonischen Werk in Hessen und Nassau e.V. sowie dem Caritasverband für die Diözese Mainz e.V. Deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben täglich Zugang zu den Abschiebehäftlingen. In der Ingelheimer Abschiebehaftanstalt oder, wie es im Behörden- und Juristendeutsch heißt, in der "Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige", unterhalten Diakonie und Caritas neben den von amnesty international geleisteten ehrenamtlichen Beratungs- und Begleitungsangeboten ein "Ökumenisches Projekt" zur Unterstützung und Rechtsberatung der Betroffenen wie auch zur Information der Öffentlichkeit.

Zu letzterem zählt die Herausgabe des vorliegenden Bandes. Wie Dr. Wolfgang Gern, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes in Hessen und Nassau, und Hans Jürgen Eberhardt, Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes für die Diözese Mainz, als Herausgeber in ihrem Vorwort klarstellten, hat die Autorin Alena Thiem ...

... im Sommer 2009 Gefangene besucht und das, was sie gehört und beim Zuhören wahrgenommen hat, aufgeschrieben. Das Ergebnis sind subjektive Geschichten von fünf Menschen auf der Suche nach gelingendem Leben; raus aus einer Welt, die ihnen keine Perspektiven zu bieten hatte oder die bedrohlich war. Motive und Beweggründe, ihr Herkunftsland zu verlassen, sind unterschiedlich. Nachvollziehbar sind sie allemal, auch wenn Fragen bleiben. Die Verzweiflung, die Angst, das Unverständnis darüber, dass sie weggesperrt werden - manche über Monate -, obwohl sie keine Straftäter sind, wird beim Lesen jeder Geschichte deutlich. Darum geht es uns mit diesem Band: Wir wollen die Menschen hinter den Mauern zeigen.
(S. 7)

Diese fünf Menschen - Mohammed Faramarzi, 1980 im Iran geboren; Didier Diallo, 1975 in Togo geboren; Samera Baffo, 1967 in Ghana geboren; Yusuf Özdemir, 1983 in der Türkei geboren und Hetima Berisha, 1956 im Kosovo geboren - haben Alena Thiem ihre Lebensgeschichten anvertraut. Inwieweit die getreulich wiedergegebenen Schicksale der tatsächlichen Not und Existenzangst der Betroffenen Ausdruck zu verleihen imstande sind oder überhaupt imstande sein können, ist jedoch eine ganz andere Frage. Wie lassen sich Wut und Verzweiflung herausschreien, wenn schon die Kraft zum noch so leisen Protest fehlt? Wie könnte in einer Situation völliger Hilflosigkeit und Abhängigkeit auch nur Anklage erhoben werden, im moralischen oder auch rechtlichen Sinne, wenn doch die Betroffenen jede sich ihnen bietende Möglichkeit nutzen müssen, um die Behörden oder die Öffentlichkeit für sie gütlich zu stimmen? Auf alle diese Fragen kann es keine schnelle Antwort geben, und vor allen Dingen können die fünf für dieses Buch interviewten Abschiebehäftlinge darauf keine Antwort geben. Und so spricht ihr Zeugnis einerseits für sich und dokumentiert zugleich durch all die Worte, die möglicherweise unausgesprochen geblieben sind und sich doch zwischen den Zeilen anzudeuten scheinen, ihr ganzes Dilemma.

Im Anschluß an die fünf auf der Basis der von Alena Thiem mit den fünf Betroffenen im Sommer 2009 geführten Interviews verfaßten Lebensberichte enthält der Band neben einem Schlußwort der Verfasserin noch Angaben über das Ökumenische Projekt in der Abschiebungshaft in Ingelheim, Zahlen und Fakten sowie ein themenbezogenes Glossar, die im Rahmen einer Fachtagung zu Seelsorge und Beratung in der Abschiebehaft formulierten "Anforderungen an die Umsetzung der europäischen Rückführungsrichtlinie" sowie einen weiteren Text, in dem Abschiebung als "Totale Institution" nach dem Konzept des US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman bewertet wird. Ungeachtet einiger Unterschiedlichkeiten ließe sich dieses Konzept angesichts der vielen Parallelen auf die Abschiebungshaft übertragen, was in dem Band folgendermaßen begründet wird:

Auch dem Gefangenen in der Abschiebungshaft droht durch die Inhaftierung der Verlust der Selbstachtung und der Identität. Er wird aus seinen gewohnten Bezügen herausgerissen und einem ihm völlig fremden System unterworfen. Darf der Strafhäftling noch auf Entlassung und Resozialisierung nach der festgesetzten Haftdauer hoffen, wird der Kranke nach überstandener Krankheit aus der Klinik entlassen, so weiß der Abschiebungshäftling zunächst überhaupt nicht, warum er eigentlich in ein Gefängnis muss und auch nicht, wie lange er dort bleiben muss.

Es ist den Menschen so gut wie nicht zu vermitteln, dass sie eingesperrt werden, ohne dass sie eine Straftat begangen haben. Viele Betroffene reagieren mit Scham und Verzweiflung, die sich im Laufe der Haftdauer regelmäßig noch verstärken. Auch der fehlende zeitliche Bezug - "Wie lange muss ich hinter Gittern sitzen?" - ist ein großer, psychischer Belastungsfaktor. Abschiebungshaft kann bis zu 18 Monate verhängt werden. Das ist für die betroffenen Personen eine Ewigkeit!
(S. 83)

Eine solche Stellungnahme schreit geradezu nach Abhilfe, und so wäre die bedingungslose Forderung nach Abschaffung der Abschiebehaft die nur zu logische Konsequenz. Diese jedoch zu erheben gliche einem Appell an eine Humanität, deren Existenz und potentielle Wirkmächtigkeit nicht nur nicht bewiesen ist, sondern die, ihre Existenz einmal unterstellt, längst vereinnahmt und instrumentalisiert wurde, werden doch, auch vom Boden der Bundesrepublik Deutschland ausgehend, längst Kriege geführt mit der Behauptung, humanitäre Pflichten zu erfüllen und andernorts verletzte Menschenrechte zu heilen. Das Problem der Abschiebehaft kann nicht gelöst werden, ohne die ihr zugrundeliegenden Absichten, Strategien und Interessen in Analyse und Gegenwehr miteinzubeziehen, was das persönliche Engagement ehrenamtlicher Helfer und Helferinnen und den auf dieser Arbeit beruhenden Versuch, mit dem Bildband "Zwischen Traum und Trauma" die (Innen-) Welt der Inhaftierten zumindest vermittelbar zu machen, selbstverständlich nicht schmälert.

Anmerkung

[1] Revolte im Abschiebeknast, junge Welt, 14.07.2009, Seite 2

9. Mai 2011


Alena Thiem
Zwischen Traum und Trauma
Innen-Ansichten aus der Abschiebungshaft in Ingelheim
Herausgeber: Diakonisches Werk in Hessen und Nassau e.V.
und Caritasverband für die Diözese Mainz e.V.
1. Auflage 2010
Großformat mit zahlreichen Fotos, kartoniert, 88 Seiten
Ein Migrationsbuch aus dem von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe
ISBN 978-3-86059-436-0