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REZENSION/570: Stefan Kreutzberger, Valentin Thurn - Die Essensvernichter (SB)


Stefan Kreutzberger, Valentin Thurn


Die Essensvernichter

Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist



Wenn bis zur Hälfte der Lebensmittel nicht verzehrt, sondern auf den verschiedenen Stufen der Produktionskette vernichtet wird, aber gleichzeitig rund eine Milliarde Menschen Hunger leidet, laufe etwas ganz gehörig schief. Das gelte um so mehr, als daß bei der Herstellung der Lebensmittel eine große Menge Energie verbraucht wird, wodurch wiederum Treibhausgase freigesetzt werden, die den Klimawandel beschleunigen. So lassen sich die Kernaussagen des Buchs "Die Essensvernichter" zusammenfassen. Diese Mißstände im Detail zu benennen und Wege aufzuzeigen, sie zu beheben, sind der Autor Stefan Kreutzberger und der Regisseur Valentin Thurn angetreten. Passend dazu hat Thurn seine erfolgreiche ARD-Produktion "Frisch auf den Müll" (Erstausstrahlung Oktober 2010) auf das Format einer kinotauglichen Dokumentation gebracht. Seit dem 8. September läuft der Film unter dem Titel "Taste the Waste" in den Kinos, oftmals begleitet vom Regisseur selbst.

Thurn hat sich mit einer Reihe von Hilfsorganisationen zusammengeschlossen, die schon sehr viel länger zumindest auf Einzelaspekte der Lebensmittelvernichtung aufmerksam machen, und inzwischen eine regelrechte Kampagne losgetreten. Dazu liefert das 320 Seiten starke Buch "Die Essensvernichter" eine Fülle an Informationen, die zu vermitteln ein Fernseh- oder Kinofilm bei weitem überfordert wäre.

Die jeweils von den beiden Autoren geschriebenen Kapitel sind bereits durch ihre Schrifttypen voneinander zu unterscheiden. Darüber hinaus schildert Thurn vorwiegend Begegnungen mit Menschen und Begebenheiten, die er in seinen Filmen verarbeitet hat, Kreutzberger dagegen liefert die "harten Fakten". Eingerahmt werden die drei Oberkapitel "Konsumwahn und Wegwerfgesellschaft", "Die globalen Folgen unseres Konsumverhaltens" und "Von der Überflussgesellschaft zum verantwortlichen Konsum" durch ein Vorwort von Carlo Petrini, Vorsitzender der Organisation Slow Food International, und einem Nachwort von Brigitte Behrens, Geschäftsführerin Greenpeace e. V.

Allein in Deutschland werden Schätzungen zufolge jährlich 20 Millionen Tonnen Lebensmittel nicht ihrem eigentlichen Verwendungszweck zugeführt. Dazu zählen die bereits auf dem Feld aussortierten Kartoffeln, weil sie in keine Handelsklasse passen oder etwas verwachsen sind, dazu zählen die krummen Gurken, die zwar von der EU wieder zugelassen wurden, aber von den Supermärkten nicht angenommen werden, dazu zählen auch die Brote, die der Bäcker gezwungen ist, über den absehbaren Verbrauch hinaus zu backen, um bis Ladenschluß sein volles Sortiment anbieten zu können, damit die Kundschaft nicht zur Konkurrenz wechselt.

Vergleichbar mit Schuhen, Autos, Elektrogeräten, etc., die nicht auf eine Weise produziert werden, daß sie möglichst lange halten, weil eine solche Haltbarkeit umsatzschädigend für das Unternehmen wäre, gehen auch die Hersteller von Lebensmitteln vor. Dadurch daß sie das Mindesthaltbarkeitsdatum nach vorn verlegen, erreichen sie, daß die Ware frühzeitig aus dem Supermarktregal entfernt und neue geordert wird. Das steigert den Umsatz. Die Kosten dieser Form von Müllproduktion werden in die Ware eingepreist und somit von der Kundschaft bezahlt. Da viele Menschen nicht wissen, daß ein Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums nicht automatisch Ungenießbarkeit des Lebensmittels bedeutet, werden die vermeintlich ihre Verfallsgrenze erreichenden Produkte weggeworfen. So zahlen die Verbraucher gleich doppelt, wenn ein vollwertiges Lebensmittel aufgrund einer bloßen Datumsangabe in den Müll wandert.

Das Buch bietet eine Vielzahl an Ideen und Konzepten, wie auf der Ebene des persönlichen Verbrauchs oder der Verwendung durch Supermärkte, Restaurants und andere Betriebe die Vernichtung von Lebensmitteln verhindert oder zumindest reduziert werden kann. Das könnte zu der Vermutung verleiten, daß hier ein individualistischer Weg propagiert wird, mit dem ein gesellschaftlicher Widerspruch kompensiert werden soll. So einfach machen es sich die Autoren jedoch nicht. Unter der Überschrift "Wieso wir den Armen das Essen wegnehmen" (S. 159ff) schreiben sie, daß es "nicht nur zu wenig Nahrungsmittel" gibt, sondern daß sie "auch ungerecht verteilt" werden und "zu einem großen Teil gar nicht mehr der menschlichen Ernährung" dienen: "Über die Hälfte der Weltproduktion von Reis, Weizen und Mais wird Tieren verfüttert, zu Agrarsprit raffiniert oder verbrannt und als Biomasse zur Stromerzeugung genutzt."

Hunger, die hauptsächliche Todesursache auf unserem Planeten, sei von Menschenhand gemacht - "als Folge von Kriegen, Raubbau, Überproduktion, geplanter Verschwendung und Preisspekulationen". (S. 162) Die Autoren erinnern daran, daß das Recht auf Nahrung ein Menschenrecht ist, und sie zitieren den emeritierten Schweizer Soziologieprofessor und ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler, der in seinem im Jahr 2005 veröffentlichten Buch "Das Imperium der Schande" schreibt: "Das Massaker an Millionen Menschen durch Unterernährung und Hunger ist und bleibt der größte Skandal zu Beginn des dritten Jahrtausends." (S. 163) Und weiter: "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet." Als verantwortliche Akteure nennt Ziegler - und mit ihm die Autoren, die den streitbaren Schweizer ausführlich zu Wort kommen lassen - neue Feudalherren, die Verschuldung und Hunger als Massenvernichtungswaffen einsetzten, "um die Völker, ihre Arbeitskraft, ihre Rohstoffe und ihre Träume zu versklaven".

Auf den kanadischen Wirtschaftswissenschaftler Michel Chossudovsky beziehen sich Kreutzberger und Thurn, um darauf aufmerksam zu machen, daß seit den 1980er Jahren der Weltgetreidemarkt unter Aufsicht der Weltbank dereguliert wurde und die Getreideüberschüsse der USA "systematisch" eingesetzt worden sind, "um die Bauern zu ruinieren und die nationale Nahrungsmittelproduktion zu destabilisieren, die unter diesen Umständen viel verwundbarer gegenüber den Wechselfällen von Dürren und Umweltkrisen wird" (S. 164). Schließlich gehen die Autoren ausführlich auf den Zusammenhang zwischen Spekulationen auf Nahrungsmittel, Anstieg der Preise und Verschärfung der Hungerlage in den ärmeren Ländern ein.

Kreutzberger und Thurn fordern eine Verbesserung der Infrastruktur in den Entwicklungsländern, um die hohen Nachernteverluste zu vermeiden (S. 196), sowie eine Verbesserung der Koordination und Kommunikation der landwirtschaftlichen Produktion - also Aufklärungskampagnen für Bauern in den Entwicklungsländern - und stellen fest:

"Zum großen Teil verantwortlich für die immense Überproduktion und die Lebensmittelvernichtung sind aber einige wenige Agrar- und Chemiekonzerne, Banken und Börsenspekulanten. Nahrungsmittelspekulation, Landraub und der Export von Lebensmittelresten auf die Märkte von Entwicklungsländern gehören international geächtet und verboten. Agrarsubventionen, die nicht einer nachhaltigen Landwirtschaft dienen, sondern zur Überproduktion verleiten, müssen abgeschafft werden." (S. 197)

Die Autoren sprechen sich nicht prinzipiell gegen den großen Monokulturanbau aus, wollen diesen aber "strengen Umwelt- und Sozialauflagen" unterwerfen; auch müßten dabei "ökologische Folgekosten" eingerechnet werden. Gefordert wird zudem ein Abbau "unsinniger Qualitätsnormen" sowie eine gesetzliche Verpflichtung zur Meldung von Lebensmittelmüll, um nur einige der Anregungen für überwiegend gesetzgeberische Maßnahmen zu nennen. Kreutzberger und Thurn verlassen nicht den Boden von Konzepten einer marktwirtschaftlichen Regulation, sehen allerdings Notwendigkeiten für ein stärkeres Eingreifen des Staates. Gern setzen sie auf die Phantasie der Akteure. So wird als Vorbild der Vermeidung von Lebensmittelmüll das Beispiel eines niederländischen Supermarkts genannt, in dem die Kunden alle Waren, deren Haltbarkeitsdatum innerhalb der nächsten beiden Tage abläuft, umsonst mitnehmen dürfen. Das habe den Blick der Kundschaft von möglichst langen zu kurzen Fristen vollkommen umgedreht, schreiben sie (S. 210).

Mit "Die Essensvernichter" greift die Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung verschiedene gesellschaftliche Trends auf, beispielsweise den "fairen" Handel, durch den die Bauern in den Erzeugerländern gefördert werden sollen, die Ablehnung der industriellen Massentierhaltung hierzulande, die allgemeine Sorge um den Klimawandel, der wachsende Wunsch nach bioorganisch angebauten Agrarprodukten. Das alles bringen die Autoren letztlich auf eine griffige Zahl: Die Hälfte der Lebensmittel landet im Müll, dagegen muß etwas getan werden.

Das Autorengespann ist nicht angetreten, eine Fundamentalkritik an der Vergesellschaftung und den vorherrschenden Produktionsverhältnissen zu leisten. Hinterfragt wird nicht grundsätzlich das Streben nach Profitmaximierung, die Möglichkeit zur Kapitalakkumulation und die Fremdbestimmung der Arbeit, wie man die Lebensmittelvernichtung, die ein Aspekt der systemimmanenten Mangelproduktion ist, bewerten könnte. Kreutzberger und Thurn geht es jedoch darum, möglichst viele Leute anzusprechen und eine Bewegung freizusetzen, die zu konkreten Resultaten führt, wozu auch ein anderer Konsumstil gehört.

Wenn weniger Lebensmittel im Müll landen, ist das selbstverständlich zu begrüßen, aber sollen Resteverwerter wie zum Beispiel die Tafeln eine Dauereinrichtung bleiben? Da kann doch ebenfalls etwas nicht stimmen, wenn der Staat seine Fürsorgepflicht derart grob vernachlässigt, daß erst eine aufs Ehrenamt gestützte, privat organisierte Lebensmittelverteilung etabliert werden mußte, damit die ärmeren Menschen in Deutschland einigermaßen zu essen haben. Sollte die bessere Verwertung der Lebensmittel, wie es in "Die Essensvernichter" propagiert wird, auf eine Zwei-Klassen-Gesellschaft hinauslaufen, wie sie jetzt schon in Ansätzen existiert, wobei die Armen die Reste der Reichen aufgetischt bekommen, dann stellt sich allerdings die Frage, ob dieses gesellschaftliche Verhältnis nicht doch grundsätzlicher in Angriff genommen werden müßte, als es die Propagierung noch so plausibel erscheinender Partikularlösungen nahelegt.

27. September 2011


Stefan Kreutzberger, Valentin Thurn
Die Essensvernichter
Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür
verantwortlich ist
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1. Auflage 2011
320 Seiten, 16,99 Euro
ISBN 978-3-462-04349-5