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REZENSION/579: Annette Jensen - Wir steigern das Bruttosozialglück (SB)


Annette Jensen


Wir steigern das Bruttosozialglück

Von Menschen, die anders wirtschaften und besser leben



In den letzten Jahren wird der zentrale Indikator für Wohlstand, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), zunehmend kritischer gesehen. Es stellt sich die Frage, warum Katastrophen - wie beispielsweise aktuell in Japan durch Erdbeben, Tsunami und Super-GAU im Akw Fukushima Daiichi - positiv zu Buche schlagen, da ihre Bewältigung das Wirtschaftswachstum fördert, wohingegen zum Beispiel die Bewahrung eines Waldes in der Sichtweise der Wirtschaftsstatistiker faktisch nicht stattfindet, weil damit kein oder kaum Umsatz gemacht wird. Um welche Dimensionen es gerade bei Wald gehen kann, läßt sich anhand des kürzlich vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen vorgestellten Welt-Umweltbericht "Geo 5" veranschaulichen. Darin heißt es: "Die Verluste durch Vernichtung und Übernutzung von Wäldern sind höher als diejenigen, die die Weltwirtschaft durch die Finanzkrise 2008 erlitten hat." [1] Offenbar werden erst in der Zerstörung von etwas Bestehendem rechenbare Werte geschaffen - aber müßte dann nicht umgekehrt der Bewahrung des Bestehenden der gleiche Wert beigemessen werden?

Wirtschaftswachstum findet bislang auf Kosten der natürlichen Ressourcen und der Ökosysteme statt. Doch je höher das BIP, so müßte man eigentlich annehmen, desto besser geht es der Gesellschaft. Solche und ähnliche Widersprüche bzw. Fragen sind sogar Gegenstand der am 23. November 2010 vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität". Deren Projektgruppe 2 hat am 5. März dieses Jahres einen Zwischenbericht zum Stand ihrer Arbeit vorgelegt, bei der Faktoren wie "subjektives Wohlergehen" und "Lebensglück" mit objektiv meßbaren Daten verbunden werden sollen, um "eine geeignete Grundlage zur Bewertung politischer Entscheidungen" zu schaffen. Das BIP dagegen werde "der Rolle als Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikator" nicht gerecht, heißt es in dem Entwurf [2].

Dieses Beispiel und viele weitere zeigen, daß Annette Jensen mit ihrem Buch "Wir steigern das Bruttosozialglück" voll im Trend liegt. Zwar beteiligt sich die Autorin nicht am BIP-Diskurs oder an der sogenannten Glücksforschung, sondern zieht es vor, von Menschen zu schreiben, "die anders wirtschaften und besser leben". Aber daß die frühere taz-Mitarbeiterin, die dort das Ressort Wirtschaft und Umwelt mitgegründet hat, von den intensiven Bemühungen des Politikbetriebs um einen Ersatz für das BIP weiß, kann man voraussetzen. Wenn Jensen allerdings in ihrer zweiseitigen Einführung erklärt, daß "Politiker aller Couleur" noch immer annehmen, "dass Wirtschaftswachstum der zentrale Schlüssel zur Zufriedenheit der Bürger ist" (S. 10), verschweigt sie den unbedarften Leserinnern und Lesern, daß jene Debatte geführt wird. Man kann vermuten, daß die Autorin dem Wunsch, auf diese Weise ihre eigene Zusammenstellung von Fallbeispielen zum Stichwort "Bruttosozialglück" ein wenig aufzuwerten, nicht widerstehen konnte.

Mit dem Buchtitel lehnt sie sich an eine auch von ihr erwähnte Entwicklung im Himalaya-Staat Bhutan an, wo die Regierung die Bevölkerung nach ihrer Zufriedenheit befragt und regelmäßig Berichte zum Bruttosozialglück veröffentlicht. Das mache man, so sagte es vor knapp zwei Jahren Premierminister Jigmi Y. Thinley, da es immer deutlicher werde, "dass das vom quantitativen Wachstum geleitete Entwicklungsmodell gescheitert ist". Diese Einsicht sei "nicht mehr begrenzt auf einige Nischen der Gesellschaft oder einige wenige Länder", sondern müsse sich weltweit durchsetzen, weil "das Überleben der Menschheit" davon abhänge [3].

Jensen hat ihre mehrere Dutzend Schilderungen von Menschen, die "einfach schon mal anfangen" (S. 9), die Gesellschaft zu verändern, thematisch in fünf Kapitel (Energie, Verkehr, Produktion, Landwirtschaft, Banken) unterteilt. Diese vorwiegend deskriptiven Ausführungen schließt sie mit einem zusammenfassenden, eher analytisch-bewertenden Kapitel unter dem Titel "Viele Wege führen in die Zukunft" ab.

In dem vorliegenden Buch erfahren wir von einem Studenten, der sich ein Windrad gekauft und anschließend gemeinsam mit einem Partner eine Firma gegründet hat - bis Ende 2010 besaßen die beiden rund 1000 Angestellte, davon ein knappes Drittel im Ausland (S. 31ff); wir erfahren von der niedersächsischen Stadt Bohmte, die sämtliche Ampeln und Verkehrsschilder aus dem Zentrum entfernt und eine einst vielbefahrene Kreuzung in eine Art Dorfplatz umgewandelt hat, wobei die Verkehrsunfälle in der entschleunigten Stadt nicht zu-, sondern abgenommen haben (S. 86 ff); und wir erfahren von einer Braunschweiger Chemiefabrik, die Reinigungsmittel auf pflanzlicher Basis herstellt (S. 107ff), sowie daß im Berchtesgardener Land inzwischen neben dem Euro auch mit Sterntalern bezahlt wird (S. 193ff). Der Erfinder dieser Regionalwährung wollte anscheinend der leidigen Kapitalakkumulation ein Schnippchen schlagen, indem er einen zweiprozentigen Wertverlust pro Halbjahr in die Währung eingebaut hat.

Und, und, und ... "Wir steigern das Bruttosozialglück" ist ein Buch prall gefüllt mit Beispielen von "Machern". Allerdings wird leicht übersehen, daß es sich bei ihnen um die Erfolgreichen handelt, um die, die sich auf welche Weise auch immer durchgesetzt haben, wohingegen wir nichts erfahren von den vielen anderen, die mit keinem geringeren Enthusiasmus angefangen, in die Hände gespuckt und versucht haben, etwas auf die Beine zu stellen, aber an exakt den gleichen gesellschaftlichen Umständen gescheitert sind, durch die die Erfolgreichen nach oben gespült wurden.

Jensen zeigt sich skeptisch gegenüber der Desertec-Initiative, bei der die deutsche Wirtschaft bis 2050 rund 400 Milliarden Euro in den Bau von solarthermischen Kraftwerken und Windrädern in Nordafrika und den arabischen Raum investieren will, um "Strom aus der Wüste" zu gewinnen und ihn per Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen nach Europa zu befördern (S. 43ff). Auch den Bau von Offshore-Windparks an der deutschen Nord- und Ostseeküste, der nur von Großinvestoren zu leisten sei, betrachtet die Autorin mit Argwohn und moniert zurecht, daß die Großen von der Bundesregierung hohe Subventionen erhalten, während demgegenüber der von Bürgern geplante Bau des Windparks "Butendiek" keine staatliche Bürgschaft bekam und schon im Ansatz gescheitert sei (S. 45).

Ist dieses Beispiel noch plausibel, weil hieran deutlich wird, daß, wenn Bürger initiativ werden, dies noch lange nicht bedeutet, daß der Staat sie darin unterstützt, läßt Jensen offen, warum sie einerseits Konzernstrukturen ablehnt, wohingegen der erfolgreiche Kleinunternehmer oder Mittelständler als leuchtendes Beispiel präsentiert wird. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die Autorin ihre Kriterien transparent gemacht hätte, nach denen sie beurteilt, welche wirtschaftlichen Aktivitäten von ihr gutheißen und welche abgelehnt werden. Ein Green New Deal "von unten" erzeugt vielleicht keine oligopolen Konzernstrukturen, wie sie in der Energiebranche mit der "Vierbande" entstanden sind, aber zweifellos schreibt er das bestehende Verwertungssystem fort. Denn auch der Öko-Bauer muß nach Profiten streben, um am Markt zu bestehen, und wer weiß, ob aus dem erfolgreichen Öko-Bauern nicht irgendwann der Besitzer einer global auftretenden Öko-Kette wird, der in seiner Branche genauso knallharte Geschäftspraktiken an den Tag legt wie, sagen wir, die Chefetage von Monsanto beim Vertrieb streng lizenzierter Gentech-Saat.

Deutlichen Klärungsbedarf gibt es auch hinsichtlich des Naturbegriffs. Will man es nicht beim unreflektierten Alltagsgebrauch von "Natur" belassen, sollte man der Leserschaft schon Klarheit darüber verschaffen, wie man den Begriff versteht. So wendet sich Jensen gegen die kaum erforschte Nanotechnologie und warnt : "Derartige Dinge einfach auf den Markt zu werfen und abzuwarten, ob etwas Schlimmes passiert", sei einfach zu riskant. "Statt dauernd etwas in die Welt zu setzen, das die Natur überwindet, wäre es deutlich sicherer, sich an der Natur und ihrer Wirtschaftsweise zu orientieren." (S. 211)

Wieso mit der Nanotechnologie Natur "überwunden" wird, nicht aber beispielsweise mit dem Anbau von Pflanzen für Reinigungsmittel, bleibt ebenso unklar wie umgekehrt die Frage, warum es keine Orientierung an der Natur sein soll, wenn ein Chemiekonzern Substanzen mischt und zu nanometerfeinen Materialien verarbeitet.

Ist nicht "Natur" eine rein menschliche Erfindung, wohl zum Zwecke der Verfügbarmachung des mit diesem Begriff Beschriebenen? Indem Jensen den vorherrschenden Sprachgebrauch anscheinend unreflektiert adaptiert, spricht sie die gleiche Sprache wie jene (Chemieriesen, Energiekonzerne, Bergbauunternehmen), zu denen sie eigentlich Alternativen aufzeigen will. Daß das keine Nebensache sein kann, sollte gerade ihr, die warnt, daß die Zeit zum Umbau der Gesellschaft dränge und "bedrohliche Entwicklungen wie der Klimawandel (...) schnelle und grundlegende Veränderungen" erforderten, klar sein.

Es hat sicherlich etwas Sympathisches, wenn die Autorin in der kleinteiligen Graswurzelbewegung eine Chance dafür sieht, daß bestehende Machtstrukturen wie durch einen Schwarm "von mehreren Seiten" angeknabbert werden. Doch ist nicht von der Biologie her bekannt, daß sich der Schwarm aus der Sicht des größeren Räubers eher wie ein reich gedeckter Essenstisch ausnimmt denn als eine Gefahr für seine Existenz? Vielleicht ist Jensens etwas schwärmerische Vorstellung Grund für ihre Fehleinschätzung, wenn sie jene "gewachsenen Machtstrukturen" durch den Widerstand gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 "mehr als nur ein bisschen" angekratzt sieht (S. 221). Dieses Projekt "gegen den Willen von 'Wutbürgern' ... einfach durchzuziehen" sei heute ausgeschlossen, meint die Autorin und sie hat recht: S21 wird nicht "gegen" den Willen der Bürger gebaut, sondern mit ihm. Der Schwarm hat gesprochen. Und ausgerechnet der erste grüne "Landesvater" Deutschlands, Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg, zieht das Projekt durch.

Bücher zu Öko-Themen, häufig verknüpft mit der Frage nach Wohlbefinden und Lebensglück, gibt es in vielfachen Variationen zuhauf. Annette Jensens "Wir steigern das Bruttosozialprodukt" ist unter ihnen nicht das schlechteste. Es verschafft allen Leserinnen und Lesern, die sich nicht für theorielastige Ausarbeitungen interessieren, einen flott lesbaren Schnupperausflug in Sachen Nachhaltigkeit und Lebensgefühl der Generation der Lohas.



Fußnoten:

[1] "GEO5 - Global Environment Outlook. Summary for Policy Makers", United Nations Environment Programme, 31. Januar 2012
http://www.unep.org/geo/pdfs/GEO5_SPM_English.pdf

[2] "Enquete Projektgruppe 2 - Arbeitsbericht - Stand 05.03.2012"; Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität; Kommissionsdrucksache 17(26)72, 5. März 2012
http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/gremien/enquete/wachstum/oeffentlich/17_sitzung/17_26_72_zwischenbericht.pdf

[3] "Bhutan misst das Bruttosozialglück. Interview mit Bhutans Premierminister Jigmi Y. Thinley", 17. Juni 2010
http://www.suedasien.info/interviews/2891

19. März 2012


Annette Jensen
Wir steigern das Bruttosozialglück
Von Menschen, die anders wirtschaften und besser leben
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2011
242 Seiten, 16,95 Euro
ISBN 978-3-451-30404-0