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REZENSION/625: Christian Meier - Nano. Wie winzige Technik unser Leben verändert (Physik) (SB)


Dr. Christian Meier


Nano

Wie winzige Technik unser Leben verändert



"Sind Nanotechnologien Fluch oder Segen? Was steckt hinter den 'Technologien des 21. Jahrhunderts'? Was ist heute möglich und was zukünftig zu erwarten? Christian J. Meier lichtet den Nebel und zeichnet ein aktuelles und realistisches Bild von den Möglichkeiten und Gefahren", heißt es im Klappentext des im Primus Verlag erschienenen Buchs, "[...] wobei er versucht, faszinierende neue Forschung, deren zukünftige Anwendungen den Alltag der Menschen gravierend verändern werden, leicht verständlich darzustellen."

Das dem so ist, kann die bis dahin völlig ahnungslose, jedoch am Thema interessierte Rezensentin bestätigen und möchte dem ergänzend hinzufügen: Der Autor nimmt den Leser mit hinein in die Welt der Nanotechnologien, begleitet ihn und gibt ihm das nötige Werkzeug an die Hand, sich in dem nebulösen Durcheinander zurechtzufinden. Dank der systematischen Herangehensweise Christian Meiers kann auch ein Laie dieses Buch nicht nur lesen und verstehen; es wird sich vielmehr bei jedem aufmerksamen Leser ein Davor und ein Danach herausstellen, was die Fähigkeit einer Einschätzung dieser Technologie, wo auch immer sie einem begegnet, betrifft.

Teil I des 223 Seiten umfassenden Buchs behandelt den praktischen Aspekt: "Wie das Kleine neuen Nutzen und gleichzeitig Riskantes schafft".

Teil II thematisiert "Die Vernebelung der Nanowelt: Wie Unternehmen, Forscher, Medien, Umweltschützer und Politiker die Öffentlichkeit in Sachen 'Nano' für dumm verkaufen".

Die beiden Teile umfassen fünf beziehungsweise sechs klar durchstrukturierte, aufeinander aufbauende und verweisende Kapitel.

Zugegeben, der erste Teil hat's für denjenigen, der hiermit Neuland betritt, an einigen Stellen in sich und man muß sich der einen oder anderen Herausforderung stellen. Etwa wenn der Autor und begeisterte Physiker voller Faszination auf die Verwendung der Gesetze der Quantenmechanik verweist:

Da Atome und Moleküle den Gesetzen der Quantenphysik gehorchen und die Nanoskala nur wenig über der Größe einzelner Atome und Moleküle beginnt (ein Atom hat typischerweise einen Durchmesser von etwa 0,1 Nanometern), wirken sich diese oft bizarr anmutenden Gesetze auf viele Nanomaterialien aus. Nanotechnologie kann sich also die Gesetze der Quantenmechanik nutzbar machen. (S. 25) 

Aber selbst wenn einem die Quantenphysik nicht geläufig ist und man auch sonst nicht alles auf Anhieb zu verstehen meint, bleibt doch schon beim ersten Durchlesen mehr hängen, als man anfangs für möglich gehalten hat. Wohl auch aufgrund der allgemeinverständlichen Sprache und der vielen Bilder, die der Autor verwendet. Die Auseinandersetzung mit der Lektüre des ersten Teils ist in jedem Fall eine Bereicherung und schafft vor allem eine solide Grundlage für das bessere Verstehen des zweiten Teils des Buchs.


Was ist Nanotechnologie? Mit dem Bemühen, diese Frage zu klären, wird der Leser an das Thema herangeführt. Nanotechnologie ist ein Ausdruck des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Oft wird auch von einer Querschnittstechnologie gesprochen, die unser Leben längst auf breiter Front durchdringt und beeinflußt. Sie findet sich in Produkten wie Autos, Waschmaschinen, Laserdruckern, Handys, Brillengläsern, Lacken, Medikamenten, Textilien, Kosmetik, Verpackungen und vielem mehr.

Eine offizielle Begriffserklärung gibt es nicht, wohl aber einige von Experten (für Experten) wohldurchdachte Definitionsversuche verschiedener Organisationen, die sich jedoch nicht im wesentlichen voneinander unterscheiden. Die Internationale Organisation für Normung (ISO) beispielsweise hat sich auf diese Version festgelegt:

Nanotechnologie ist die Anwendung von Wissenschaft, um Materie in der Nanoskala zu manipulieren und zu kontrollieren mit dem Ziel, größen- und strukturabhängige Eigenschaften und Phänomene zu nutzen, die sich klar von denen einzelner Atome oder Moleküle aber auch von denen des Rohmaterials unterscheiden. (S. 34) 

Als Verrücktheit bezeichnet Christian Meier die Erfindung des Wortes Nanotechnologie, denn niemand würde vergleichsweise auf die Idee kommen, Objekte wie einen Schlagbohrer, einen Kochtopf oder einen Gartenzwerg unter der Überschrift 'Zentimetertechnologie' zusammenzufassen, nur weil diese drei Gegenstände 20 bis 40 cm groß sind. Die Vorsilbe 'Nano' bedeutet zunächst einmal nur 'winzig klein' und wird als breiter Überbegriff für alles mögliche und sehr beliebig verwendet; denn bis heute gibt es, bis auf wenige Anwendungsbereiche, keine einheitlichen Festlegungen, keine rechtlich verbindlichen Grenzziehungen, Kennzeichungen, Richtlinien oder Maßstäbe.


Ein Paradebeispiel dafür, wie sehr es auf die Größe ankommt, ist Gold. Gold gilt im allgemeinen als chemisch absolut träge, es will mit anderen Stoffen sozusagen nichts zu tun haben. Aber:

Gold-Nanopartikel benehmen sich völlig anders. Sie binden Sauerstoff- und Wasserstoffmoleküle nicht nur an ihre Oberfläche, sondern helfen ihnen auch noch dabei, sich emsig zu Wasserstoffperoxid zu verknüpfen. Sie wirken quasi als chemische Partnervermittlung, die Stoffe zusammenzubringen. Chemiker nennen so ein Kuppler-Material 'Katalysator'. Heute wollen Forscher mithilfe von Gold-Nanopartikeln aus Biomasse großtechnische Produkte für die chemische Industrie erzeugen. (S. 19) 

Und nicht nur Gold ändert seine Eigenschaften dramatisch, wenn es in Form von Nanopartikeln vorliegt, sondern viele andere Stoffe auch. Die eine Nanotechnologie gibt es nicht. Vielmehr existieren nahezu unendlich viele Spielarten.

Grob zusammengefaßt steht Nanotechnologie dafür, daß der Mensch lernen möchte, Materie bis an die Grenzen der Kleinheit zu kontrollieren, zu beherrschen und schließlich seine Erkenntnisse über den Nanokosmos gezielt für technische Anwendungen zu nutzen. Aber von Kontrolle, Beherrschbarkeit und gezielter Anwendung kann trotz jahrelanger, kostspieliger Forschung - der Nanohype wird um die 1990er Jahre angesiedelt - nicht die Rede sein. Zudem verläuft die Entwicklung alles andere als konfliktarm.

Und an diesen Punkt knüpft Teil II des Buches an. Der Konflikt ist für Meier die wichtigste Zutat für einen spannungsreichen Wissenschaftsjournalismus, und er versteht sein Handwerk. Dabei geht der Autor sehr gründlich vor, nennt die Dinge beim Namen und scheut keinen Streit.

Die Unüberschaubarkeit der Nanotechnologien ist kein Zufall der Ereignisse und soll allem Anschein nach auch beibehalten werden, weil sich die rivalisierenden Interessensgruppen wie die Politik, Industrie, Unternehmen, Forschungsinstitute, Medien oder Umweltverbände zumindest darin einig sind, daß eine koordinierte Zusammenarbeit ihre jeweiligen Existenzberechtigungen und Verdienstmöglichkeiten beschränken oder sogar beenden könnten.

Um nur einige Beispiele zu nennen: Nanoprodukthersteller verweisen allen Ernstes auf Zertifikate und Gütesiegel, bei denen Nanopartikel gar nicht zum Repertoire der zu prüfenden Substanzen gehören. Oder aber, es wird festgestellt, daß ein Nanopartikel X fest in ein Polymernetzwerk Y verankert ist, also kein Gesundheitsrisiko besteht; ein mögliches Herauslösen durch beispielsweise Abrieb eines Tennisschlägers, häufiges Waschen eines Textils, Wind und Wetter bei Fassadenfarben oder Zersetzung eines Kunststoffs durch UV-Strahlung jedoch wird gar nicht oder nur unzureichend überprüft. Ähnliches findet man bei Streuhilfen in Lebensmitteln in Form von pulverförmigem Siliziumdioxid vor. Die Partikel in dem jeweiligen Pulver sind deutlich größer als 100 Nanometer, liegen also außerhalb des festgelegten Risikobereichs. Gibt man aber zum Beispiel Kaffeeweißer in einen Kaffee, wofür das Produkt ja unzweideutig vorgesehen ist, vergrößert sich die Anzahl der Partikel erheblich und auch der Grenzwert von 100 Nanometern wird gravierend unterschritten.

Was nun im nächsten Schritt Aufgabe der sogenannten Nanotoxikologie wäre, läßt gleichermaßen zu wünschen übrig, wie man im Kapitel 8 erfährt. Christian Meier fasst dieses Thema wie folgt zusammen:

Schon der Begriff 'Nanotoxikologie' an sich erscheint wie ein Etikettenschwindel. Denn er gaukelt eine systematische Untersuchung der Giftigkeit von Materialien vor, auf deren Basis Grenzwerte zum Schutz von Mensch und Umwelt erlassen werden. Von dieser klassischen Aufgabe der regulatorischen Toxikologie ist die 'Nanotoxikologie' denkbar weit entfernt. (S. 178) 

Und so reiht sich bei näherer Betrachtung ein Widerspruch an den nächsten und es gäbe unglaublich viel zu tun, diesen ganzen nebulösen Wust an Beliebigkeiten jemals unter Kontrolle zu bringen.

Auf welcher Seite steht der Autor denn nun eigentlich, fragt sich die Rezensentin an mancher Stelle - schließlich hat auch er in dieser Gemengelage eine Zunft zu vertreten - und ertappt sich doch immer wieder selbst dabei, die Welt in schwarz und weiß einteilen zu wollen. So einfach ist es eben nicht. 'Nano' ist weder richtig noch falsch, weder Himmel noch Hölle. Darum geht es nicht. Die Wirklichkeit ist komplexer und die Konflikterforschung erfordert einen wachen Geist sowie eine fortlaufende Bereitschaft zum Mitdenken. Christian Meier wünscht sich eine kritische, technologiemündige Öffentlichkeit, die imstande ist, sich einzumischen. Die Saat hierfür ist mit diesem Buch gelegt.

20. Juni 2014


Christian J. Meier
Nano
Wie winzige Technik unser Leben verändert
Primus Verlag, März 2014
Der Primus Verlag ist ein Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WGB), Darmstadt
Hardcover
223 Seiten, 24,95 Euro
ISBN 978-3-86312-036-8