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REZENSION/633: Gary Snyder - Lektionen der Wildnis (SB)


Gary Snyder


Lektionen der Wildnis



Die Philosophie des Jägers
oder Warum man aus Jäger und Wild ein harmonisches Miteinander konstruiert.

Wildnis - der Begriff löst eine Menge von Assoziationen aus: Wildnis verspricht Abenteuer. Wild ist ein Leben abseits der Zivilisation, das keine Grenzen kennt und das der Mensch vielleicht früher einmal führte. Wildnis ist das Andere und Fremde, das man sich wünscht, wenn man den Zwängen des Alltags zu entkommen sucht. Und sie ist gefährlich, weil die gewohnten Regeln nicht gelten, die Ordnung versagt und Unabsehbarkeit einkehrt. Sie ist das, was der vernünftige, zivilisierte Mensch meidet, weil sie sein scheinbar gesichertes Leben in Gefahr zu bringen droht. Und sie ist das, wovon er heimlich träumt. Wildnis ist ohne Zivilisation nicht denkbar. Und mehr noch als ein Name für etwas, das uns fremd ist, ist der Begriff als Konzept zu verstehen, mit dem wir die von uns erlebte Wirklichkeit zu fassen, zu beschreiben und handhabbar zu machen suchen.

Unter dem Titel 'Lektionen der Wildnis'[1] ist 2012 ein Buch mit neun Essays von Gary Snyder [2] erstmals in deutscher Sprache erschienen, mit dem sich der Autor gewissermaßen auf Schatzsuche begibt und einige grundlegende Überlegungen zu Fragen gesellschaftlicher Alternativen und des Umgangs mit unserer natürlichen Umgebung vorlegt, die er aus seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Thema Mensch und Wildnis ableitet. In loser Zusammenstellung sind hier Erfahrungen, Diskussionen und Schlußfolgerungen aus den 70er und 80er Jahren zu finden; die einzelnen Essays sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und wurden erst später zusammengefaßt. Snyder spannt insgesamt einen weiten Bogen vom frühen Europa über indianische Denkweisen, westliche Philosophie und Inuit-Kultur bis zum (Zen-)Buddhismus. Dazu gehören auch ausführliche Beschreibungen von Bergtouren und Landschaftsformationen. Nicht zuletzt, weil diese in teils tagebuchartiger Form erscheinenden Texte ursprünglich für ein US-amerikanisches Publikum verfaßt wurden, bleibt die präsentierte Erfahrungswelt Snyders auch dem aufmerksamen deutschen Leser mitunter fremd. Im folgenden sollen - als Faden und Lektürehilfe - Snyders Kernthesen und seine Motivation, diese vorzulegen, anhand einiger Beispiele beleuchtet werden.

Im ersten Essay, dessen englischer Originaltitel "The Etiquette of Freedom" in der deutschen Ausgabe mit "Lektionen der Wildnis" überschrieben wurde, und der als Einstieg in das Thema verstanden werden kann, unternimmt Snyder den Versuch einer umfänglichen Klärung von 'Natur', 'natürlich', 'Wildnis' und 'wild'. Leider entufert diese, etymologisch unterstützt, in bekannte Klischees und Vorstellungen, weil er die Begriffe nicht auf ihre Widersprüchlichkeit und Funktion hin abklopft, sondern alles sammelt und plausibel findet, was ihm dazu über den Weg läuft. Weder eine eindeutige Definition, noch eine Abgrenzung der Begriffe voneinander gelingt, so daß der Leser, der sich ein wenig Eindeutigkeit und Aufklärung von berufener Seite erhofft hatte, enttäuscht wird. Das Bemühen um Vollständigkeit ist eben kein Ersatz für präzise Aussagen. Der Autor bleibt danach bei der bekannten wechselnden und unscharfen Verwendung dieser Begriffe und weiß der Verwirrung gar noch etwas hinzuzufügen:

Die Naturwissenschaften und einige Spielarten der Mystik nehmen zu Recht an, alles sei natürlich. In diesem Licht besehen ist nichts an New York City, an Giftmüll oder an Atomenergie unnatürlich, und nichts - qua definitionem - von dem, was wir in unserem Leben tun und was uns passiert, ist »unnatürlich«. (Lektionen der Wildnis, S. 14) 

Demnach ist also alles natürlich. Hier vermißt man als Leser eine kritische Auseinandersetzung mit den Konsequenzen, die diese Feststellung hat. Statt dessen steht an ihrer Stelle der Kompromiß mit schicksalhaft vorgegebenen Mißständen oder ein Arrangement damit. So geht es für Snyder letztlich um das unausgesprochene Problem: Wie erkläre ich mir die Welt, damit ich sie akzeptieren kann? Auch das folgende Beispiel deutet in diese Richtung.

Nach seinen Begriffserkundungen geht Snyder in diesem ersten Essay weit in die Geschichte zurück. Er schildert die wachsende Zerstörung ursprünglicher Vegetation und die ökologische Verarmung der Erde - namentlich Europas - seit dem 16. Jahrhundert durch Intensivierung von Ackerbau und Weidewirtschaft und eine damit einhergehende Entfremdung der Menschen von einem Leben in und mit der Natur (Tiere, Pflanzen, Landschaft). Diese Entwicklung wurde in Form von Raubzügen in die Neue Welt gebracht; Menschen und Tiere, die dort lebten, fielen ihr zum Opfer. Es gelingt ihm, diese Vorgänge soweit zu verklären, daß er hierin sogar noch einen positiven Sinn, gar ein Potential auszumachen vermag: Mit dem Raub war der Weiße Mann auch gezwungen, sich mit der Frage zu konfrontieren, ob Ruhm, Ehre oder Gold den Einsatz des eigenen Lebens wirklich lohnten. Der Eroberer Mexikos endete als Bettler, andere "verloren den Verstand und wurden zu Sadisten", Alvar Núñez Cabeza de Vaca wurde dort zu einem einfachen Menschen.

Und eine weitere Person hat die Noh-Bühne [3] der Geschichte der Schildkröteninsel [4] betreten, um Alvar Núñez Cabeza de Vaca am anderen Ende des Transformationsprozesses die Hand zu reichen: Ishi der Yahi [5], der in die Zivilisation mit ebenso großer Verzweiflung hineinschritt, wie Núñez aus ihr herauswanderte. (ebd. S. 21) 

Und hier begegneten sich laut Snyder die Alte und die Neue Welt: Der Europäer wandelt sich zum Eingeborenen und der Eingeborene verläßt seine Welt.

Was zwischen diesen beiden Eckpfeilern steht, ist nicht vorbei und vergessen. Es schlummert permanent in uns, wie ein Samenkorn mit harter Schale, das auf die Überschwemmung oder das Feuer wartet, von denen es schließlich erweckt wird. (ebd. S. 21) 


Gary Snyder ist auf einer kleinen Farm in und mit der Natur groß geworden und hat sich nie in dem Maße vom natürlich gewachsenen Wald, den Bergen, dem Wasser, ihrem Leben und ihren Lebewesen entfremdet wie die Mehrzahl der Menschen heute. In seinem Essay "Uralte Wälder des Westens" berichtet er von seiner Kindheit und Jugend, seinem frühen Engagement für die Wälder seiner Heimat, die heute nicht mehr existieren, von seinen Erfahrungen und seiner Arbeit als Holzfäller, die ihm in frühen Jahren half, sich über Wasser zu halten, und die aus seiner Sicht damals bis in die 50er Jahre hinein noch mit einem Ethos und dem Bemühen, die Wälder zu erhalten, verbunden war. Er weiß detailreich aus dieser Zeit zu erzählen und wirft gleichzeitig einen Blick auf die Geschichte. "Rückblickend" seien "dies die letzten Jahre einer rechtschaffenen Forstwirtschaft" gewesen. Die Verantwortung für diese Entwicklung verortet er, seiner Herkunft treu geblieben, nicht bei dem einzelnen Holzarbeiter oder dem Bauern, der ein Stück Land für sich rodet:

Und unsere moralische Empörung als Umwelt- und Naturschützer richtet sich (in ihrer Frustriertheit) oft gegen die Holzfäller und die Bauern, während die wirkliche Macht in den Händen von Leuten liegt, die horrende Geldsummen scheffeln, es sind Leute, die - Männer wie auch Frauen - tadellos gekleidet sind, an den besten Universitäten hervorragend ausgebildet wurden, die sich von ausgesuchten, guten Lebensmitteln ernähren und erstklassige Literatur lesen, während sie andererseits jene Gesetzgebung und Investitionen auf den Weg bringen, die dazu führen, dass die Welt zugrunde gerichtet wird. (ebd. S.165) 

Der Autor plädiert für örtlich organisierte Gemeinschaften in Stadt und Land, ein Gleichgewicht zwischen Globalisierung und lokalem Bewußtsein, ohne in einen aus seiner Sicht schädlichen Nationalismus zu verfallen. Er sieht Chancen in einer Regionalisierung, weil sich aus der Region eine Macht entwickle, die sich gegen jedes Regime richte, weil sie wild und am Ort verwurzelt sei, und referiert über Allmende. Diese Ansätze waren damals, als die den Essays zugrundeliegenden Diskussionen stattfanden, nicht neu und sind es auch jetzt nicht, gleichwohl machen sie das Buch auch heute noch für breite Teile der Ökobewegung hierzulande und möglicherweise für den einen oder anderen Umweltinteressierten als Fundgrube darüber hinaus interessant. Katastrophale Aussichten hinsichtlich Umwelt, Klima und Ernährungslage sowie Zuspitzung gesellschaftlicher Widerspruchslagen im Rahmen derer soziale Verantwortung von politischer Seite zunehmend an den einzelnen zurückverwiesen wird, führen dazu, daß man sich auf Überlebensregeln der Vormütter und -väter besinnt.

Snyders erklärter Wunsch, das Geschehen um ihn herum soweit zu verstehen, daß er in die Lage versetzt wird, den aktuellen, nicht nur das menschliche Leben auf der Erde bedrohenden Entwicklungen, ein Ende zu bereiten, ist nachvollziehbar. Daran, daß ihm an dem liegt, was er als ursprünglich erlebt hat, kommt bei der Lektüre dieses Buches kein Zweifel auf. Und viel deutlicher als durch seine in der Masse zerlaufenden Definitionsbemühungen wird durch seine Erlebnisberichte und -deutungen klar, was der Autor unter Wildnis und einem ihr angemessenen und dadurch erfüllten Leben für uns Menschen versteht.

Die Wildnis, die von "zivilisierten" Denkern oft als barbarisch und chaotisch geschildert wird, ist in Wirklichkeit unvoreingenommen, unerbittlich und auf schöne Weise formal und frei. Ihre Erscheinungsformen - der Reichtum des Pflanzen- und Tierlebens auf dem Globus, uns eingeschlossen, die Regenschauer und Stürme und der ruhige Frühlingsmorgen - sind die wirkliche Welt, zu der wir gehören.
(Aus dem Vorwort der amerikanischen Neuausgabe von 2011, Counterpoint Press - Übersetzung: SB-Redaktion)

Sein ökologisches Engagement, seine buddhistischen Studien im Ausland sowie seine Lehr- und Forschungstätigkeit erklärt Snyder als das Bemühen, wieder Anschluß an "die Wildnis" zu finden und ein ursprüngliches Leben im Einklang mit deren Regeln zu führen. Snyders Wildnis ist keinesfalls wild im Sinne einer grundsätzlichen Unabsehbarkeit, sondern beruht auf - ihr eigenen - Regeln und Gesetzen. Wenn der Mensch sich nicht mehr an diese hält, ist er von sich und seiner Umwelt auf zerstörerische Weise entfremdet. Es gelte, die Zweiteilung zwischen Zivilisation und Wildem zu überwinden, um in gewissem Sinne zurück nach Hause finden. Zu dieser Sicht paßt auch Snyders Freiheitsbegriff. Freiheit ist für ihn immer an Regeln, an einen bestimmten Rahmen gebunden. Auch hier wird seine Neigung, sich grundsätzliche Probleme schönzuerklären wieder deutlich: frei ist, wer die Gegebenheiten akzeptiert, nicht, wer sich gegen sie stellt.

Um wirklich frei zu sein, muss man die grundlegenden Gegebenheiten hinnehmen, wie sie sind - schmerzhaft, unbeständig, offen, unvollkommen -, und dann dankbar sein für die Unbeständigkeit und Freiheit, die sie uns erlauben. (ebd. S. 9) 

Wildnis ist für Snyder ein Reich anderer Gesetzmäßigkeiten, die einen harmonischen Kreislauf ermöglichen und steht für ihn synonym für ein 'anderes' Leben. Für das, was dieses andere Leben seiner Meinung nach ausmacht, gibt es in den vorliegenden Essays genügend Anhaltspunkte, auf die im folgenden noch einmal eingegangen werden soll.

Er idealisiert das aus seiner Sicht weitgehend verlorene, ursprüngliche Leben auf der Erde als ein Gefüge ineinandergreifender, aufeinander abgestimmter ökologischer Gemeinschaften einer sich immer wieder neu erschaffenden, wilden Welt des Gebens und Nehmens. Dieses harmonische Gefüge werde nach wie vor von einer herrschenden Minderheit der Menschen durch ihre gegen die Natur gerichtete Denk- und Lebensweise der Zerstörung anheimgegeben, während die Mehrheit der Menschen aus Snyders Sicht eine andere, naturgemäßere Richtung verfolgt. Diese Mehrheit füge sich verständig in das ökologische Ganze.

Das heißt, sie haben das Spiel der wahren Welt mit all ihrem Leid begriffen - nicht bloß im Sinne eines »nature red in tooth and claw«* (Natur, rot zwischen Reißzähnen und Krallen), sondern auch als feierliches gegenseitiges Beschenken, Nehmen und Geben. »An was für einem riesigen potlach-Fest nehmen wir doch alle teil!« Die Tatsache anzuerkennen, dass jeder Teilnehmer an diesem Festessen möglicherweise selbst Teil der Mahlzeit wird, ist nicht bloß »realistisch«. Es gestattet dem Heiligen den Zutritt und akzeptiert den sakramentalen Charakter unseres unsicheren und zeitlich begrenzten persönlichen Seins. (ebd. S. 29) 

Für Snyder ist es selbstverständlich, daß das eine Tier - der Mensch inbegriffen - das andere jagt und verzehrt. Der Schmerz des Verzehrten und auch der des Verzehrenden wird verklärt, als wäre der Gedanke daran für ihn zu furchtbar, um ihn zu ertragen. So spricht er von einer Abmachung zwischen Jäger und Beute, von der auch letztere nicht abweicht. Man spielt die im großen Gefüge vorgesehene Rolle zum Erhalt des Ganzen. Das ist Natur, und das macht für ihn Sinn. Die - entfremdete - Menschheit krankt derzeit an ihrem zutiefst unethischen Umgang mit Pflanzen und Tieren. Man solle sich, meint Snyder, an die Regeln halten und ein Leben nicht ohne Not nehmen. Die Beute hätte nichts dagegen, als Nahrung zu dienen, erwartete jedoch den gebotenen Respekt. Diese Sicht ist nicht neu und klingt noch immer wie eine Ausrede. Sie mischt sich mit der wehmütigen Klage des alt gewordenen Jägers um das verlorene Reich seiner Kindheit.

Falls unter uns das Kind ist, das weiß, wo sich das Herz dieses Ungeheuers versteckt, bitte lasst es uns berichten, wohinein wir den Pfeil schießen müssen, um dieses Monstrum aufzuhalten. Und auch wenn dieses geheime Herz verborgen bleibt und unsere Arbeit nicht leichter wird - ich jedenfalls werde weiter für die Wildnis arbeiten, Tag für Tag. (ebd. S. 9) 

Fußnoten:

[1] erstveröffentlicht im Jahr 1990 bei North Point Press, USA

[2] Gary Snyder: Umweltaktivist und einer der führenden US-Literaten, Vertreter der Beat-Protestbewegung, der es gelang, wieder ein breites Publikum für Lyrik und Lyriklesungen zu mobilisieren. Geboren 1930 in San Francisco, aufgewachsen auf einer kleinen Farm in den Puget Sounds, einer weitverzweigten, ins Inland reichenden Bucht mit Inseln und Halbinseln, reichen Fischgründen und großen Waldgebieten im Bundesstaat Washington. Studierte Anthropologie, orientalische Sprachen (chinesisch, japanisch), lebte 1956-64 in Japan und widmete sich später dort buddhistischen Studien. Lehrt seit 1985 an verschiedenen Universitäten Literatur und Schreiben, derzeit Literatur und "Wildnis-Denken" (Wilderness-Thought) an der University of California in Davis. 2012 erhielt er - in einer langen Reihe früherer Ehrungen, u.a. dem Pulitzer Preis für Dichtung - den Wallace Stevens Award der Academy of American Poets für sein Lebenswerk.

[3] Noh-Theater: traditionelle japanische Theaterform

[4] Schildkröteninsel: hier der amerikanische Kontinent

[5] Ishi der Yahi: hat mit japanischem Theater nichts zu tun. Er war der letzte Überlebende seines Volkes, der sich 1911 in die Hände der Eroberer begab. Bis 1916 lebte er im Anthropologischen Museum in San Francisco, wo er der Lesart der Weißen zufolge freiwillig als Vermittler und Berichterstatter seiner Kultur lebte. Er starb an Tuberkulose.

25. August 2014


Gary Snyder
Lektionen der Wildnis
Aus dem amerikanischen Englisch
von Hanfried Blume
Matthes & Seitz Berlin, 2011
263 Seiten, 26,90 Euro
ISBN 978-3-88221-657-8


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