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REZENSION/664: Sabine Predehl, Rolf Röhrig - Gesundheit - Ein Gut und sein Preis (SB)


Sabine Predehl/Rolf Röhrig


Gesundheit

Ein Gut und sein Preis



"Gesundheit ist keine Ware" - die in linksalternativen Kreisen wohlbekannte Parole appelliert an ein für Profitzwecke unverfügbares und als sozialer Anspruch unteilbares Menschenrecht auf körperliches Wohlbefinden. Kritik geübt wird an einem zusehends zur "Gesundheitswirtschaft" mutierenden Medizinbetrieb, der den Menschen nach seiner Zahlungsfähigkeit und nicht nach seiner Bedürftigkeit taxiert. Warum aber sollte die Behandlung von Krankheiten in der warenproduzierenden Gesellschaft einer Sonderstellung unterliegen, müssen doch die meisten Menschen die eigene Existenz dadurch sichern, daß sie ihre Lebenskraft und -zeit als Ware auf dem Arbeitsmarkt nicht einmal meistbietend, sondern mangelgetrieben verkaufen? Wird Gesundheit nicht gerade deshalb zur Ware, weil sie der Totalität des Warencharakters gegenüber als eine Naturkonstante erscheint, die außerhalb gesellschaftlicher Tausch- und Wechselverhältnisse verfügbar wäre?

Dem hier aufscheinenden Widersinn, der kalten Logik sich selbst genügender Kapitalverwertung durch karitative Assistenzfunktionen einen menschenfreundlicheren Anschein zu verleihen, haben Sabine Predehl und Rolf Röhrig ein so schmales wie gehaltvolles Buch gewidmet. Schon der Titel Gesundheit - Ein Gut und sein Preis verrät eine prosaische Herangehensweise an ein ansonsten mit viel Empathie für existentielle Notlagen bedachtes Feld gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens. Als Mittel zum Zweck gesellschaftlicher Reichtumsproduktion nehmen sie insbesondere die Notwendigkeiten und Erfordernisse der Arbeit in den Blick einer Kritik, die die Ökonomisierung des Medizinbetriebs eher randläufig als immanentes Ergebnis seiner zentralen Aufgabe behandelt, den an Physis und Psyche anfallenden Verschleiß der erwerbstätigen Bevölkerung in für die Zwecke von Staat und Kapital verträglichen Grenzen zu halten.

Bestimmt wird diese Grenze demgemäß nicht vom prinzipiellen Primat individuellen Wohlbefindens, wie in Anbetracht der Fokussierung medizinischer Diagnostik und Therapie auf den einzelnen Menschen, die sozialen und körperlichen Bedingungen seiner Krankheitsanfälligkeit vermutet werden könnte. Viel entscheidender für die Ärzteschaft und die medizinischen Wissenschaften ist die Aufrechterhaltung einer Leistungsfähigkeit, die den Menschen bei allen Einbußen, die die andauernde Belastung durch gleichförmige Tätigkeiten mit sich bringen und schließlich als Chronifizierung physischer wie psychischer Probleme manifest werden, in die Lage versetzt, so lange und effizient wie möglich für die Kosten seiner Existenz aufzukommen und dabei auch noch das gesellschaftliche Gesamtprodukt zu mehren.

Indem Predehl und Röhrig nach den Ursachen krankmachender Wirkungen fragen, anstatt letztere als Ausgangspunkt medizinischer Intervention zu akzeptieren, tritt die betriebswirtschaftliche Kalkulation des Verbrauchs- und Verschleißcharakters der Arbeit in den Vordergrund. Die produktive Vernutzung des Menschen durch krankmachende Umstände, die aus den Belastungen der Arbeitswelt und den alltäglichen Gefahren einer von ökologischer Zerstörung und räumlicher Enge gezeichneten Lebenswelt hervorgehen, wird nicht etwa bekämpft, indem diese Umstände beseitigt werden, sondern verträglich gemacht, indem die daraus resultierenden Folgeschäden medizinisch eingehegt werden. Sie werden als Nebenwirkungen gesellschaftlicher Produktion im wortwörtlichen Sinne in Kauf genommen. Gesundheitskosten, wie sie etwa als Lohnzulagen für körperlich besonders belastende Tätigkeiten anfallen, sind praktisch eingepreist in eine Produktivität, die die Wirtschaft der Bundesrepublik in den Stand versetzt, sich als Exportmacht zu den Krisengewinnern zu zählen.

Unproduktive Formen gesundheitlicher Risiken wie der Konsum von Genußgiften oder eine unzureichende Selbstfürsorge bei der Krankheitsprävention hingegen werden auf den einzelnen Beitragszahler umgeschlagen. Ihm wird die übermäßige Belastung der Solidargemeinschaft zur Last gelegt oder er wird in anderer Form einer Bezichtigungslogik ausgesetzt, die so tut, als ließen sich die krankmachenden Folgen der Arbeitsgesellschaft tatsächlich in allgemeine und individuelle Ursachenkomplexe separieren. Einer aktuellen Umfrage zufolge votiert mehr als die Hälfte der Bevölkerung für ein verhaltensbasiertes Versicherungswesen, das individuelle Gesundheitsfürsorge durch Boni belohnt und ihre Verweigerung durch höhere Krankenkassenbeiträge bestraft. Ganz offensichtlich betrachten viele Menschen ihre konkurrenzgetriebene Vergesellschaftung als persönlichen Gewinn, auch wenn sie noch so viel dabei verlieren.

So wird die sozialstaatliche Organisation gesellschaftlicher Funktionstüchtigkeit allemal als Fortschritt begrüßt. Dabei sorgt sie dafür, daß der krankmachende Charakter der Arbeit nicht im Grundsatz in Frage gestellt, sondern als vermeintlicher Sachzwang durch das zusehends unternehmerisch organisierte Gesundheitswesen bewirtschaftet wird. Zwar stellt der Staat durch die vom Lohn abgezogene Abgabe an das System der Krankenversicherung allgemein verfügbare medizinische Dienstleistungen zur Verfügung, die viele Menschen privat nicht bezahlen könnten. Er tut dies allerdings nicht aus altruistischen Gründen, sondern sichert damit die Funktionalität einer Arbeitsgesellschaft, die den Menschen mit Anforderungen konfrontiert, die ihn physisch wie psychisch verbrauchen. So werden Belastungsgrenzen überdehnt, denen durch Kürzertreten und Aussetzen zu entsprechen dem einzelnen Menschen langfristig weit mehr Wohlbefinden verschaffen, als wenn sie als permanente Begleitumstände und Verschleißpotentiale etabliert werden.

Indem die Nutzung seiner Arbeitskraft mit allen Mitteln betrieblicher Organisation so optimal wie möglich gestaltet wird, also die Ergebnisse der Arbeit maximiert und ihre Kosten minimiert werden, wird eine "Aufwands- und Ertragsrechnung" aufgemacht, die das Autorenteam als "das allgemeine Gesetz sämtlicher Formen betrieblicher Leistungsorganisation, die die Arbeitskräfte auf Dauer in so gleichförmiger Weise ruinieren" (S. 17), darstellen. Staat und Unternehmen tun viel dafür, den Aufwand zugunsten niedriger, für die Konkurrenz am Weltmarkt entscheidender Lohnstückkosten zu externalisieren. So wird im institutionalisierten Verkehr zwischen Arbeitsmedizin, staatlichen Aufsichtsbehörden, Gewerkschaften und Unternehmen von vornherein davon ausgegangen, daß unmittelbar gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen und aus Umweltgefahren wie individueller Lebensführung resultierende Krankheitsursachen nichts miteinander zu tun hätten, obwohl ökologische Zerstörung und psychosozialer Streß zumindest mittelbar Ergebnis der aus Produktionsprozessen und Verwertungsinteressen resultierenden gesamtgesellschaftlichen Belastung sind.

Predehl und Röhrig hingegen nennen die Klassengesellschaft als zentrale moderne Krankheitsursache beim Namen. Sie nötigt das Gros ihrer Insassen dazu, die eigene Gesundheit in die Lohnarbeit einzuspeisen, um die Rentabilität des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu sichern, sich unter den herrschenden Konkurrenzbedigungen psychisch aufzuzehren, in der sogenannten Freizeit neben der gesellschaftlichen Pflicht zur familiären Reproduktion die eigene Arbeitskraft durch lebenslanges Lernen zu optimieren oder den Niedriglohn durch Nebenjobs aufzubessern. Die nicht ausgelassene "Krankheitsursache 'Drittwelt'-Armut" (S. 26) schließlich wäre ein eigenes Buch wert, um das durch Produktivitätsunterschiede, Kapitalexport und die Entsorgung der ökologischen Folgen hiesigen Verbrauchs bewirtschaftete Gefälle zwischen Nord und Süd in seiner ganzen Konsequenz auszuleuchten. Über den blinden Fleck einer sozialdemokratischen Umverteilungspolitik, die keine Rechenschaft über die globalen Quellen des hierzulande erwirtschafteten Reichtums ablegt, wäre ebenso zu sprechen wie über die sozialstrategische Einbindung hochindustrialisierter Metropolengesellschaften in einen Imperialismus, der lohnabhängige Menschen zu Teilhabern an der nationalistischen und militärischen Austragung seiner Krisenkonkurrenz macht.

Indem der klinische wie wissenschaftliche Medizinbetrieb den krankmachenden Charakter der Arbeits- und Leistungsgesellschaft nicht als deren unabdingliche Voraussetzung anerkennt, was die logische Folge ihrer Überwindung auf den Plan riefe, sondern diesen lediglich als einen unter vielen pathogenen Faktoren untersucht, bleiben diagnostische Erfassung und therapeutische Einflußnahme auf den Organismus des einzelnen Menschen beschränkt. Wissenschaftlich untersucht und empirisch befestigt werden Krankheitsdispositionen aller Art, ihre erbbiologischen Voraussetzungen wie durch individuelles Fehlverhalten vermeintlich erworbenen Pathologien. Gesundheit wird mithin zu einer Norm erhoben, die nicht zu erfüllen in den Verantwortungsbereich der betroffenen Patienten verlagert werden kann, frönten diese doch allen möglichen, aus medizinischer Sicht verwerflichen Gewohnheiten, die abzustellen und durch die vom Arzt empfohlene Lebensführung zu ersetzen Mindestvoraussetzung gelingender Heilung wäre.

Wie die Menschen mit medizinischen Mitteln den Verhältnissen unterworfen werden, die sie krankmachen, und die Verweigerung dieser Anpassungsleistung ihrerseits pathologisiert und sozial stigmatisiert wird, wird in dem Buch auch anhand einzelner Krankheitsbilder und ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung geschildert. So interessant der Nachweis des integrativen Zwecks der Medizin als eines Reparaturbetriebs kapitalistischer Funktionstüchtigkeit im einzelnen ist, so erkenntnisträchtig ist die Analyse des prinzipiellen Zwecks eines Gesundheitswesens, als dessen zentrales Leistungsmerkmal die Lebensverlängerung von Menschen auch unter erheblichen Belastungen und deren reaktiver Verstetigung als chronisches Leiden oder Zivilisationskrankheit hervortritt. Indem es Krankheit zur Privatsache erklärt, zu deren Behebung die Bürger in tätiger Eigenverantwortung maßgeblich beitragen sollen, isoliert es die krankmachenden Wirkungen kapitalistischer Wirklichkeit von ihrer gesellschaftlichen Grundlage und ermöglicht die staatliche Regulation dieses Geschäftsbetriebs im Sinne eines Gemeinwohls, das nicht nur in diesem Fall das Wohl einiger weniger mehrt zu Lasten eines imaginären Kollektivs, das als Klassenantagonismus in disparate, nach Befriedung verlangende Erscheinung tritt.

Denn das zeichnet die Gewaltinstanz der kapitalistischen Gesellschaft gerade aus: dass sie keine Differenz kennt, geschweige denn anerkennt zwischen dem Privatinteresse ihrer Bürger, Geld zu verdienen und im Konkurrenzbetrieb mitzumischen, und dem Gemeinwohl, buchstabiert als Wirtschaftswachstum und politische Macht, für das sie ihre auf Gelderwerb angewiesenen Bürger in Dienst nimmt. Diese Herrschaft setzt auf den Eigennutz ihre Bürger, weil der auf die kapitalistische Vermehrung des Geldes festgelegt ist und damit eben dies effektiv bewirkt. Denn mit dem, was sie sich davon nimmt, regiert die Staatsmacht.
(S. 76 f.)

Dem Verhältnis von in staatlichem Eigeninteresse organisierter Gesundheitspolitik und der Zurichtung des einzelnen Bürgers auf ihren Pflichtenkatalog durch die Unterstellung, an seiner körperlichen und seelischen Misere in erster Linie schuld zu sein, adäquat ist die finanzielle Überforderung normalverdienender Menschen durch medizinische Leistungen, die nicht durch ihre Krankenversicherung abgedeckt sind. Was alles nicht durch die sozialstaatlich organisierte Einspeisung relevanter Teile der Arbeitseinkommen in die Gesundheitsvorsorge und -wiederherstellung geleistet wird, lastet auf dem Gewissen der potentiellen und realen Patienten als Aufforderung, noch mehr für ihre körperliche und geistige Funktions- und damit Leistungsfähigkeit zu tun, als bereits durch den Imperativ des informationstechnisch dynamisierten und individualisierten Gesundheitsprimats verlangt.

Abhärtung für den Erfolg von Staat und Kapital ist das Gebot der Stunde, wie die populistische Anmaßung einer Präventionsmedizin zeigt, die die Leistungsanforderung im Beruf nahtlos auf die gesamte Lebensführung ausdehnt. Selftracking [1] und andere Methoden der Evaluation des eigenen Verhaltens folgen dem Kommando einer Optimierung, das individuellen Eigennutz propagiert und die Unterwerfung des Menschen durch ihm fremde Interessen und Zwecke bewirkt. Leben definiert sich zusehends durch das Präfix "Über-", und das ist immer gegen andere gerichtet. Sozialwissenschaftlich flankiert wird dies durch den Begriff der "Resilienz" [2], der auch vorsichtige Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen körperlicher und seelischer Leiden gegenstandslos machen soll.

Der Ethos des Heilens und Helfens ist in diesem Medizinbetrieb nicht nur deshalb fehl am Platz, weil eine professionalisierte Tätigkeit die begründungslose Selbstverständlichkeit, daß Menschen einander in Not helfen, nicht ersetzen kann. Wo das Gesundheitswesen daran beteiligt ist, die sozialdarwinistische Logik der Arbeitsgesellschaft auf alle Bereiche der sozialen Reproduktion anzuwenden, hat es die Kritik, die in diesem Buch an ihm geübt wird, allemal verdient. Dieses eignet sich mithin bestens als Diskussionsgrundlage für eine Linke, die das Vorhaben, den herrschenden Klassenkompromiß aufzukündigen, nicht aufgegeben hat. Dafür gibt es viele schlechte Gründe, alimentiert doch die ihm geschuldete Sozialrente einen Mißstand, dessen Aufrechterhaltung ohne das Elend in weniger produktiven und wohlhabenden Weltregionen wie auch die ungebremst und mit zunehmender Geschwindigkeit voranschreitende Zerstörung der natürlichen Grundlagen allen Lebens nicht auskommt.


Fußnoten:

[1] Freiheitsversprechen Unterwerfung
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0067.html

[2] Resilienz - Chiffre sozialer Kapitulation
http://www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0031.html

5. Januar 2017


Sabine Predehl/Rolf Röhrig
Gesundheit
Ein Gut und sein Preis
Gegenstandpunkt Verlag, München 2016
100 Seiten, 10,00 Euro
ISBN 978-3-929211-17-7


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