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REZENSION/666: Morten A. Strøksnes - Das Buch vom Meer (SB)


Morten A. Strøksnes


Das Buch vom Meer
oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen



Großhai-Safari mit Meereskunde

Nein, die beiden Protagonisten verbringen nicht - wie vom Verlag im Klappentext nahegelegt - ein ganzes Jahr auf offener See und jagen unter Gefahren in Wellen und Sturm einem monströsen Meeresbewohner nach. Schnell übereinkunftete Vergleiche mit einem Werk wie "Moby Dick" oder "Der alte Mann und das Meer" tun dem Autor Strøksnes Unrecht. Denn in diesen beiden Büchern geht es um existentielle Fragen und Menschen, die in widrigen Umständen einen Überlebenskampf führen, in dem sie kaum bestehen können. Unbestritten ist die Sachkenntnis der Autoren wie auch ihre Erzählkunst. Verkannt werden sie, wenn man ihre Werke als Abenteuerromane handelt. Auch Strøksnes hat kein Abenteuerbuch geschrieben, und er hat - abgesehen von der allgemein menschlichen Neigung, die eigene Sicht zu einer Geschichte zu verdichten - nicht fabuliert. Ihm gelingt es vielmehr, aus der Jagd auf ein Lebewesen ein touristisches Leseerlebnis mit Bildungseffekt zu machen:

Seine lebendige Schilderung, die Persönlichstes und Konflikte der beiden Protagonisten nicht ausspart, bindet den Leser unmittelbar ein. Ein Anruf des Freundes markiert den Beginn des Unternehmens, schon sitzt man mit im Flugzeug Richtung Lofoten, folgt einer Fülle assoziativ abschweifender Einblendungen des Autors, fährt mit dem Boot nach Skrova, erhält erste Einblicke in die Lebensumstände seines Malerfreundes, begutachtet dessen Material und Kunstwerke, schmiedet Haiverwertungspläne. Am nächsten Tag begleitet man Strøksnes, Nase voran, auf der Suche nach dem verwesenden Hochlandrind, das als Köder dienen soll. Ein ganzes Jahr lang dauern so die Begegnungen mit dem Autor und seinem Freund - die neben der Idee, vor den Lofoten den Eishai zu jagen, im übrigen ihr gewohntes Leben weiterführen.

Von diesem Erlebnisbericht einer Großhaijagd springt der Autor zu den Bildungsinhalten: Stationen der Meeresforschung und Fischereigeschichte, erzählt Mythisches und Anekdoten, zitiert den französischen Dichter Rimbaud oder klassische wissenschaftliche Werke wie die "Historia om de nordiska folken" [1] von Olaus Magnus aus dem 16. Jahrhundert, der von sagenhaften Meeresbewohnern und ihrer Lebensart zu berichten weiß. Als Quasifaden durch die Informationsflut dient die Rückkehr zum aktuellen Geschehen - die eigene Neigung, in Gedanken von einer Assoziation in die nächste zu stolpern, läßt dem Leser dieses Vorgehen fast logisch erscheinen. Nach zahlreichen mitvollzogenen Sprüngen und Versuchen, die Unternehmung auf unterschiedlichste Weise bei geeigneter Wetterlage erfolgreich abzuschließen, schwingt man dann auf gleicher Welle mit: Gut unterhalten und informiert beginnt man, "das Meer" zu lieben und gerät mit in Gefahr zu kentern, wenn das Glück die Jagdgenossen zu verlassen droht.

Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt, eine Chance, die sich eröffnet innezuhalten und etwas genauer hinter die als Abenteuer präsentierte Kulisse zu sehen. Ein Beispiel: Ganz beiläufig wird in diesem Jahresverlauf so mancher Fisch für den Alltagsverzehr ins Boot geholt; es herrschen Sachkenntnis und auf den Unbedarften brutal wirkende Nüchternheit:

Mit mechanischen Bewegungen ziehen wir einen weiteren großen, zappelnden Raubfisch aus dem Wasser. Dann braten wir ihm mit dem Landungshaken eins über, bevor wir ihn an Bord des 14-Footers hieven, wo wir ihm dann schnell das Messer in die Gurgel rammen. (Seite 208)
...
War man auf dem Nordmeer unterwegs, kann man nicht einfach am Kai festmachen und ins Bett gehen. Die Hälfte der Arbeit steht uns noch bevor. Wir müssen uns jetzt um den Fisch kümmern. Wir stellen einen Tisch auf den Anleger, und bald verteilen sich die Innereien über den ganzen Kai. Hugo schneidet mit einer schnellen japanischen Bewegung die Zungen heraus. (Seite 223) 

Hier schwingt mit, wie selbstverständlich für die beiden Protagonisten Fischfang und -verarbeitung, der Umgang mit einem Boot, das Befahren des Meeres und dessen Gefahren sind. Deutlich ist eine Verbindung zu spüren. Sehr untergründig, schwer zu reflektieren, erschließen sich das Land und die Menschen zwischen den Zeilen.

Der Schnee ist wie eine bedrohliche schwarze Wand, die alle Konturen auslöscht. Meine größte Sorge ist nicht, dass wir an Land krachen, sondern, dass wir es nicht tun. Denn der Wind hat zugenommen und damit auch der Wellengang. Es überrascht mich immer wieder, wie schnell der Wind das Meer aufpeitscht. (Seite 220)
...
Wind und Dunkelheit kommen uns entgegen wie zwei Alliierte, die sich mit dem blauschwarzen Meer verbündet haben. das Wasser wirbelt um die Holme und Unterwasserklippen, denen wir uns immer mehr nähern. Die nassen, dichten Flocken werden allmählich hart. Dort, wo sie herkommen, muss es noch kälter sein. (Seite 221)
... Später an Land bezeichnet keiner von uns die Angeltour als dramatisches Erlebnis. Und vielleicht war sie das auch nicht. Eigentlich ist ja alles so verlaufen wie geplant. Wir sind zurückgekommen, und damit ist es ein Ausflug geworden, den ich nicht missen möchte. (Seite 223) 

Strøksnes' Buch wird in seiner assoziativen Fülle und ergänzt durch die Geschichte seines Freundes Hugo Asjard, dessen Familie und Herkunft, durch die Augen des Autors auch zu einem Reiseführer "Norwegen" der anderen Art. Daß es in seinem Land zum Bestseller wurde, läßt sich unschwer nachvollziehen.

Und wie steht es um den Anlaß für die ganze Unternehmung, die eigentliche Hauptperson? Wir können nur ahnen, welche Geschichte der Hai erzählen würde. Eines ist sicher: Er wird gejagt und soll für ein zweifelhaftes Vergnügen sterben. Gleich fühlt man sich doch erinnert an koloniale Safari-Unternehmungen, die obwohl obsolet geworden, noch immer nicht ausgestorben sind. Da hilft es auch nicht, daß Strøksnes in seinem Buch etliches an Informationen über den Eis- oder Grönlandhai zusammengetragen hat. Die Anmerkung, daß unvergleichbar viele Haie von Menschen getötet werden, und nur wenige Menschen von Haien, kann, gelinde gesagt, angesichts seines Unterfangens nur als zynisch bewertet werden - und wieviele Haie sind, nebenbei bemerkt, bislang in den menschlichen Lebensraum eingedrungen, nur um zu töten? Strøksnes' halbherziger Versuch, sich in den Meeresbewohner hineinzuversetzen, kann gar nicht gelingen. Behauptet wird hingegen im Zirkelschluß, was nötig ist, um die gewünschte Jagd zu eröffnen:

Sein einziges Bestreben ist die Weiterführung seiner Existenz, er empfindet wohl kaum Gefühle wie Freude oder Trauer, und auch kaum Schmerz. Jedes Mal, wenn er eine Robbe verschlingt oder seine Schnauze in das verwesende Aas eines Wals bohrt, dürfte er eine mechanische Befriedigung darüber verspüren, dass seine Existenz möglicherweise für einen weiteren Monat gesichert ist. Und das ist seine Lebensaufgabe: bis zur nächsten Malzeit durchzuhalten. (S. 158) 

Um ein Lebewesen zu fangen und zu töten, muß man zwangsläufig in der Lage sein, die nötige Ignoranz aufzubringen. Das ist uns so selbstverständlich in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir kaum einen Gedanken daran verschwenden. Das Abenteuer lockt: Fangen wir doch einen Hai! So spiegelt das Buch denn auch die Ambivalenz des Autors und mit ihr eine ganz allgemeine Ambivalenz wider. Wie der Autor leben wir von unserer Umwelt, auch vom Meer, und vergießen Krokodilstränen über die Zerstörung, die wir anrichten.

Und so wie der Hai sterben soll, bleibt auch "das Meer" im Grunde fern. Denn wir bedienen uns hier derselben Methoden. Der Begriff "Meer" ist darüber hinaus bestenfalls als Versuch der Umschreibung zu sehen, ein Etikett, für etwas, das wir nicht verstehen. "Fremde" faßte es wohl genauer.

8. März 2017


[1] deutsch: "Geschichte der nordischen Völker" - eine norwegische Übersetzung der "Historia de gentibus septentrionalibus", die in den Jahren 1539-1555 entstand.


Morten A. Strøksnes
Das Buch vom Meer
oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen
Eishai zu fangen, und dafür ein ganzes Jahr brauchen
deutschsprachige Ausgabe 2016:
Deutsche Verlags-Anstalt, München
366 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-421-04739-7


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