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REZENSION/672: Tomohiko Suzuki - Inside Fukushima. Eine Reportage aus dem Inneren der Katastrophe (SB)


Tomohiko Suzuki


Inside Fukushima

Eine Reportage aus dem Inneren der Katastrophe



Wegwerfarbeiter, so werden sie genannt, jene zumeist unausgebildeten Arbeitskräfte, die eingesetzt werden, damit sie im zerstörten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi aufräumen. Viele tausend von ihnen wurden schon durch die radioaktive Ruine geschleust, verbraucht und wieder in die Gesellschaft zurückgestoßen, aus der heraus sie notgetrieben bereit waren, Leib und Leben bei der Katastrophenbewältigung zu riskieren. TEPCO, die Betreibergesellschaft des am 11. März 2011 zunächst von einem Erdbeben, dann einem Tsunami zerstörten Kernkraftwerks, und andere an dessen Betrieb beteiligte Unternehmen (Toshiba, Hitachi) vermeiden es, ausgebildete Fachkräfte für gefährliche Tätigkeiten zu verbrauchen, für die auch billige Leiharbeiter zur Verfügung stehen.

Was aber bringt Menschen dazu, sich für Arbeiten in radioaktiv kontaminierten Bereichen zu verdingen, obschon sie von den Gefahren wissen? Eher im nebenbei gibt Tomohiko Suzuki, Autor des in diesem Jahr auf Deutsch beim Hamburger Verlag Assoziation A veröffentlichten Buchs "Inside Fukushima. Eine Reportage aus dem Inneren der Katastrophe", darauf eine Antwort. Möglicherweise sind diese Menschen jemandem verpflichtet, müssen eine Schuld abtragen, und lassen sich von einer Leiharbeitsfirma der bis zu acht Ebenen umfassenden Subunternehmenspyramide anheuern. Oder aber sie brauchen aus anderen Gründen das Geld und schätzen die Verstrahlungsgefahr als gering ein.

Suzuki ist investigativer Journalist, der gerade mit zwei Mitgliedern der Yakuza unterwegs war, um Tsunami-Opfern zu helfen, als die 3/11-Katastrophe von Fukushima geschah. Und mit der Aussage eines Yakuza-Bosses im Hinterkopf, daß Atomkraftwerke ein lukratives Geschäft sind, wollte Suzuki genaueres über eine mögliche Verbindung zwischen der sogenannten organisierten Kriminalität und den Akw-Betreibern in Erfahrung bringen, indem er sich über seine Yakuza-Verbindungen als Leiharbeiter in das Akw 1F, wie er das Akw Fukushima Daiichi verkürzt bezeichnet, einschleusen ließ. Rund einen Monat lang, im Juli und August 2011, hat er mit mehreren versteckten Kameras und Aufnahmegeräten unter seinem Klarnamen in dem havarierten Akw gearbeitet, dann ist seine Tätigkeit aufgeflogen.

Die Reportage aus dem Innern des Akw Fukushima Daiichi (nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls von TEPCO betriebenen, rund 15 Kilometer weiter südlich gelegenen Akw Fukushima Daiini, Akw 2F genannt) hat nach der Veröffentlichung 2011 in Japan für einiges Aufsehen gesorgt und wurde schnell zum Bestseller. Nicht zuletzt war es Suzuki zu verdanken, daß vor gut fünf Jahren die japanische Öffentlichkeit von der Verbindung der von Yakuza geführten Leiharbeitsfirmen zu den Aufräumarbeiten in der Akw-Ruine, den dort herrschenden unsäglichen Arbeitsbedingungen - "fast täglich brachen Arbeiter wegen Hitzschlags zusammen" (S. 159) - und der bewußten Täuschung über die radioaktive Kontaminationsgefahr für die Leiharbeiter durch die Betreiberfirmen erfahren hat.

Obschon einige dieser Informationen zumindest in groben Zügen seit längerem auch in Deutschland bekannt sind, füllt ein Buch in Deutsch über das erste halbe Jahr der Fukushima-Katastrophe eine Lücke. Insofern ist die Entscheidung der Herausgeber "Lesen ohne Atomstrom" in Hamburg und "Textinitiative Fukushima" aus Leipzig, das Buch aus dem Japanischen zu übersetzen und es dem deutschen Sprachraum verfügbar zu machen, begrüßenswert. Ergänzt durch ein Vorwort des investigativen Journalisten Günter Wallraff und mit einem Nachwort von Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, auf den die Anregung zur Übersetzung dieses Buchs ursprünglich zurückgeht, liest sich die unterhaltsam geschriebene, mit einer Prise Selbstironie gewürzte Reportage aus dem Inneren "der Katastrophe" so flott, daß man sich nach der Lektüre eine Fortsetzung wünscht. Das Buch bietet von der ersten bis zur letzten Seite lesenswerte Einblicke in die menschenverachtende Bewältigung der Fukushima-Krise.

Tomohiko Suzuki hatte schon mehrmals zu Yakusa-Strukturen publiziert, bevor er sich zusätzlich zu dem Risiko, hierbei irgend jemandem allzu sehr auf die Füße zu treten, der Gefahr einer radioaktiven Verstrahlung ausgesetzt hat. Die hierzulande verbreitete Vorstellung dazu, was die Yakuza sind, dürfte allerdings weitgehend von Filmen und Büchern geprägt sein. Der Begriff "japanische Mafia" scheint ungenügend zu sein. Jedenfalls ist es schwer vorstellbar, daß es hier in Deutschland eine Fachzeitschrift zur Mafia oder organisierten Kriminalität gibt. Anders hingegen in Japan hinsichtlich der Yakuza. Dazu berichtet Suzuki, der auch während seiner Arbeit im AKW 1F regelmäßig in die 400 Kilometer entfernte Hauptstadt gefahren ist:

"An diesem Abend ging ich in Tōkyō mit dem Boss einer Unter-Unter-Organisation eines überregional operierenden Yakuza-Syndikats essen. (...) Ich kannte ihn seit langem und mochte seine Art. Wir hatten uns schon seit sieben oder acht Jahren nicht mehr gesehen. Früher hatte er mir bei jeder Gelegenheit kleine Aufmerksamkeiten zukommen lassen, die ich meist nicht ablehnen konnte. Als ich in meiner Zeit als Chefredakteur einer Yakuza-Fachzeitschrift einmal einen Redaktionsmitarbeiter zum Gegenlesen der Manuskripte zu ihm geschickt hatte, war dieser mit 50.000 Yen zurückgekehrt." (S. 131)

Wenn ein Yakuza-Boss Manuskripte gegenliest, die in einer Fachzeitschrift über Yakuza veröffentlicht werden, dann scheint doch das hiesige Bild, das man sich im allgemeinen von so einer Organisation macht, überholungsbedürftig zu sein. Und ohne den investigativen Charakter Suzukis grundsätzlich in Frage stellen zu wollen, bricht es ein wenig mit der Vorstellung einer klandestinen Tätigkeit in einem Kernkraftwerk, wenn der Autor von seinem Treffen mit jenem "Boss einer Unter-Unter-Organisation eines überregional operierenden Yakuza-Syndikats" berichtet: "Wir plauderten über dies und jenes, und ich erfuhr wieder so einiges über die Yakuza-Welt, bis wir schließlich auf das AKW zu sprechen kamen. Er sagte es zwar nicht deutlich, aber ich spürte, dass er gern Arbeiter ins AKW hineinschleusen würde. Vertreter von Yakuza-Organisationen aus ganz Japan, von Hokkaidō bis Okinawa, riefen mich an und baten mich darum, ihnen Kontakte zu in 1F arbeitenden Unternehmen zu vermitteln." (S. 131)

Wenn also Yakuza "aus ganz Japan" bei dem Autoren anfragen, ob er ihnen bei der Vermittlung von Leiharbeitern für das Akw Fukushima Daiichi behilflich sein könne, fragt man sich als Leser erstens, wer alles eigentlich nicht von seinem Undercover-Einsatz gewußt hat, und zweitens, wie eng die Verbindungen zwischen Yakuza und der Akw-Betreibergesellschaft sein können, wenn sie angeblich so erpicht auf die Hilfe eines Nicht-Yakuza waren.

Oder aber man müßte sich umkehrt fragen, ob der Autor an dieser Stelle nicht etwas zuviel Phantasie in die Schilderung seiner Bedeutung hat einfließen lassen. Denn den miteinander konkurrierenden, aber unter bestimmten Bedingungen auch am gleichen Strang ziehenden Yakuza-Organisationen wird nachgesagt, daß sie im Nachkriegsjapan traditionell enge Verbindungen zur heute regierenden Liberal-Demokratischen Partei (LDP) unterhalten. Da diese seitdem bis auf wenige Jahre stets die Regierung gestellt hat und die Hauptverantwortung dafür trägt, daß Japan bis zum Zeitpunkt der Fukushima-Katastrophe 54 kommerzielle Kernreaktoren an 17 Standorten in Betrieb hatte, würde es doch sehr wundern, wenn nicht schon vor langer Zeit eine innige Zusammenarbeit zwischen Atomwirtschaft, Regierung und Yakuza entstanden wäre - bis hin dazu, daß vermutlich manche Funktionen in Personalunion erfüllt werden.

In Japan wird mit "Atomdorf" die enge Verbindung zwischen Regierung und Nuklearwirtschaft bezeichnet. In Deutschland würde man vielleicht von einem Drehtüreffekt sprechen, was aber nicht den tieferen Charakter des Dorfs zu treffen vermag. Dazu schreibt Suzuki: "AKW wurden nicht nur deshalb weit weg von den Städten auf dem Land errichtet, um im Fall eines Unfalls den Schaden so gering wie möglich zu halten. In einer auf lokaler Verbundenheit und Blutsverwandtschaft beruhenden Dorfgemeinschaft können auch Informationen gut vertuscht werden. Gebaut werden mußte demnach auf dem Lande, wo das überkommene System, demzufolge aus der Dorfgemeinschaft verstoßen wird, wer sich nicht fügt, noch seine Wirkung entfaltete." (S. 187)

Die Errichtung von AKWs auf dem Lande hat in den strukturschwachen Regionen zur Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen und der Schaffung von Arbeitsplätzen geführt. Da muß es nicht wundern, wenn die ortsansässigen Arbeiter ein Teil jenes Dorfes sind. "Die Yakuza können mit den AKWs auch deshalb Gewinne erwirtschaften, weil das Atomdorf zu seiner Vollendung gelangt, indem es die gesamte regionale Gemeinschaft einschließlich der Yakuza schluckt. AKW existieren auf der Grundlage eines Systems, das seine Widersprüche durch nebulöse Regeln wie 'Sich gegenseitig helfen und in Schutz nehmen' oder 'Kollektives Wegschauen' löst." (S. 188)

Zwischen den ortsansässigen Arbeitern und den aus anderen Regionen kommenden Wanderarbeitern existiere ein kaum zu überwindender, tiefer Graben, berichtet Suzuki. Er vergleicht das Gefühl der Solidarität der einheimischen Arbeiter mit der Komplizenschaft der Yakuza. In beiden Fällen entstehe der starke Zusammenhalt durch die Ablehnung von seiten der Gesellschaft.

Die Menschenverachtung der nuklearen Energiegewinnung fängt sicherlich nicht erst an der Stelle an, an der laut Aussage eines Kontaktmanns des Autors TEPCO den Managern von Leiharbeitsfirmen gesagt haben soll, sie sollten "Leute bereitstellen, die ruhig draufgehen können" (S. 102). Aber sie wird an so einer Stelle sehr deutlich und dürfte erhebliche Teile der Bevölkerung Japans in ihrer Ablehnung der Atomenergie bestätigt haben. Auf lokaler Ebene erfährt die japanische Regierung mit ihrem Bemühen, weitere Kernreaktoren ans Netz zu nehmen, um zumindest 30 Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen, kräftigen Gegenwind. Dazu hat auch Suzuki mit seinen Enthüllungen beigetragen.

24. April 2017


Tomohiko Suzuki
Inside Fukushima
Eine Reportage aus dem Innern der Katastrophe
Aus dem Japanischen von Felix Jawinski, Heike Patzschke und Steffi Richter
Mit einem Vorwort von Günter Wallraff sowie einem Nachwort von Sebastian Pflugbeil
Verlag Assoziation A, Hamburg 2017
ISBN 978-3-86241-458-1
224 Seiten, 18,00 Euro


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