Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/692: DISRUPT! - Widerstand gegen den technologischen Angriff (SB)


capulcu redaktionskollektiv


DISRUPT!

Widerstand gegen den technologischen Angriff



Trotz - oder vielleicht wegen - der immer umfassenderen Durchdringung des Lebens durch informationstechnische Systeme bleibt eine Technologiekritik, die auch eine gesellschaftliche Gegenposition bezieht, marginal. Liberal-bürgerliche Datenschutzbedenken sind weit davon entfernt, auch nur annähernd die Wucht jenes Widerstands zu entfalten, mit dem in den frühen 1980er Jahren gegen die Volkszählung protestiert wurde. Der Erfolg der informationstechnisch beschleunigten Be- und Verwertung von allem und jedem beruht nicht zuletzt auf der Mimikry eines marktwirtschaftlichen Effizienzdenkens, das unter den atomisierten Marktsubjekten kaum Widerspruch provoziert, weil die sozialdarwinistische Leitkultur ganze Arbeit verrichtet hat. Als setze die Smartifizierung aller Lebens- und Sterbenslagen die Aufhebung antagonistischer Reflexion zwingend voraus, verebben die Zwischentöne, die die kognitive Fremdbindung des informationstechnischen Übergriffs lösen könnten, im schwarzweiß zeichnenden und gefühlsgetriebenen Like-Dislike-Reflex.

Mit der Schrift "DISRUPT! - Widerstand gegen den technologischen Angriff" versucht das capulcu redaktionskollektiv, dem Vergessen des geschichtslosen Always On die Erinnerung an die Notwendigkeit des Kampfes um Autonomie und Selbstbestimmung entgegenzuhalten. Die im September 2017 abgeschlossene, auf der Capulcu-Seite als Broschüre [1] und kurz darauf in Buchform veröffentlichte Schrift weist in der entschiedenen Kritik des digitalen Kapitalismus den Charakter eines Manifests auf. Dazu wird sein informationstechnisches Arsenal nicht nur auf seine technische Reichweite hin abgeklopft, sondern stets in den Kontext seiner herrschaftssichernden Bedeutung gestellt.

Noch unerschlossene Reserven ausbeutbarer Arbeit mit Hilfe technologischer Umwälzungen zu erschließen ist für wachstumsorientierte, in Weltmarktkonkurrenz stehende Staaten unerläßlich. Die Zurichtung des Menschen auf neue Formen der Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit ist mindestens so alt wie die industrielle Entwicklung des Kapitalismus, wird heute jedoch mit Mitteln und Methoden vorangetrieben, mit denen eine neue Qualität des Zugriffs auf Mensch und Natur erlangt wurde. Diese Auseinandersetzung durchzieht die Untersuchung der einzelnen Anwendungsbereiche informationstechnischer Systeme wie ein roter Faden, was die Lektüre weit spannender macht als Texte, in denen lediglich das Für und Wider der Digitalisierung diskutiert wird.

Schon die einleitende Schilderung historischer Innovationsangriffe führt den LeserInnen vor Augen, daß die Technologie der Fabrikgesellschaft noch nie ein neutrales Mittel war, das erst in der Hand der jeweiligen AnwenderInnen regressive oder emanzipatorische Wirkungen freisetzte. Das zentrale Anliegen der Verwertung menschlicher Arbeitskraft zeitigt heute Erfolge, von denen der vor hundert Jahren tonangebende Arbeitswissenschaftler Frederick W. Taylor nicht zu träumen gewagt hätte. Dessen die Industrien des Fordismus prägender Ansatz, das individuelle Arbeitsvermögen in kleinste Segmente zu zerteilen, um sie am Fließband unter maximaler Kosteneffizienz und hochgradiger Standardisierung zur Anwendung zu bringen, wird allerdings nur scheinbar durch die Bedienung individueller Kundenwünsche in der Industrie 4.0 überwunden.

Wurde der arbeitende Körper nach Taylor einer hochgradig stereotypen Bewegungsrationalisierung unterworfen, so wird der Mensch in der rundum vernetzten und überwachten Industrie 4.0 noch wirksamer auf die Maximierung der Kosten-Nutzen-Ratio zugerichtet. Die informationstechnische Vermessung und Lenkung aller Abläufe in Logistik, Produktion, Distribution und Verwaltung läßt noch weniger Zeiten und Räume, in denen sich Lohnabhängige dem Arbeitsdruck entziehen können. Die algorithmische Integration von Mensch und Maschine in der Werkhalle, im Lager, beim Transport und im Büro hat eine Quantifizierung und Standardisierung des Arbeitsprozesses zur Folge, die alles ausblendet, was der Mensch außer der Ablieferung der exakt von ihm verlangten Leistung sonst noch denken und tun könnte. Da die einige Freiheitsgrade mehr voraussetzende Entfaltung von Kreativität lediglich im gehobenen Management, in den Entwicklungsabteilungen und bei der Steuerung und Optimierung des Arbeitsprozesses erforderlich ist, können unerwünschte Abweichungen von den betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien im vernetzten Produktionsablauf und der total überwachten Fabrik systematisch selektiert und eliminiert werden.

Dequalifizierung und Entwertung menschlicher Arbeit sind die fast zwingenden Folgen einer industriellen Robotisierung, mit der sich ein tiefgreifender Strukturwandel der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ankündigt. Wie weitgehend dieser bereits auf anderen Feldern gesellschaftlicher Organisation verwirklicht wurde, zeigt die Inwertsetzung sozialer Kommunikation und Reproduktion bis hinein in die Zellen und Neuronen der Physis und Psyche des Menschen. Die dabei erfolgende Reduktion von Bewegungsformen und Gemütsregungen auf ein virtuelles Datenkorsett bildet den Menschen nicht nur ab, sondern läßt seine subjektive Existenz zum Nutzen objektiver Verallgemeinerung und Erfassung in den an sie angelegten algorithmischen Parametern neu auferstehen.

So hat die smarte Vergesellschaftung Anpassungs- und Rechtfertigungszwänge zur Folge, die anders als in der klassischen autoritären Disziplinargesellschaft auf eher leisen Sohlen daherkommen. Wer den Wert seiner Arbeitskraft oder auch nur seines sozialen Status mehren will und dabei auf Angebote zur Selbstoptimierung wie die Verwendung von Fitneßtrackern [2] eingeht, kann durchaus den Eindruck haben, sich dabei selbst zu verwirklichen. Zugleich an der Produktion von Normen und Werten beteiligt zu sein, die anderen Interessen unterliegen, tritt solange nicht als Widerspruch in Erscheinung, wie die eigenen Ziele mit diesen konform gehen. Ein nicht unerheblicher Teil der Legitimations- und Ideologieproduktion des digitalen Kapitalismus - freizügiger Zugriff auf vermeintlich kostenlose Leistungen, soziale Partizipation auf Kommunikationsplattformen und in der Share Economy, flache Hierarchien und Erfolgschancen auch für Quereinsteiger in der IT-Unternehmenskultur - ist dieser Suggestion gewidmet.

Die Schattenseiten, die die permanente Produktion individueller Daten und ihre Einspeisung in den Plattformkapitalismus jetzt schon haben, aber vor allem in der näheren Zukunft der informationstechnisch administrierten Gesellschaft hervorbringen werden, sind in "DISRUPT!" hell ausgeleuchtet. Der konkurrenzgetriebenen Steigerung der Leistungsnormen in der Fabrik nicht unähnlich, speist sich das digital vergesellschaftete Subjekt in eine Arithmetik des Messens und Vergleichens ein, für die nur die jeweiligen Daten und Zahlen relevant sind. Wie im Sport, wo die Rekorde weit wichtiger sind als die Menschen, die sie erreichten, formiert sich die digitalisierte Leistungsgesellschaft um die Achse des Vergleiches und der daraus resultierenden Sortierung des zum Werkstoff degradierten Menschen. Nicht nur seine Arbeitsleistung, er selbst werde in all seinen Handlungen und Lebensäußerungen mit dem Rating und Scoring sozialer Netzwerke, die auf den Punkt ihrer hochaufgelösten Sozialkontrolle gebracht werden, in Wert gesetzt, so die AutorInnen.

So werden wirtschaftliche, gesundheitliche, soziale und politische Normabweichungen verhaltensökonomisch reguliert, bevor der Ausschluß ins abgehängte Subproletariat jede weitere Mühe staatlicher Vor- und Nachsorge obsolet macht. Die Sozialtechnologie des Nudging wird als frappantes Beispiel für eine Form indirekter Regulation vorgestellt, deren autoritärer Charakter als liberaler Paternalismus [3] affirmativ gewendet wird. Der Zwangscharakter des Nudging tritt in der smarten Eigentumsordnung spätestens dann unverhüllt hervor, wenn dem jeweiligen sozialen Score gemäß die elektronisch gesteuerte Wohnungstür verschlossen bleibt, das Auto nicht mehr anspringt und die Kreditkarte gesperrt wird.

"DISRUPT!" läßt Dystopien ins Kraut schießen, die die Leinwand und die Buchdeckel längst verlassen haben, um das echte Leben mit ihrer Kontrollgewalt zu überziehen. Sich dieser Entwicklung zu widersetzen bedarf nicht nur einigen Mutes, sondern auch des Begreifens, es mit einer hochgradig adaptiven und beschleunigten Entwicklung zu tun zu haben. Sich von dieser nicht überholen und in die Defensive treiben zu lassen läßt den Versuch, mit ihrer apparativen Komplexität und strukturellen Durchsetzungskraft gleichzuziehen, als wenig aussichtsreich erscheinen. Die Besinnung auf die subjektiven Qualitäten menschlicher Begegnung, das kollektive Ideal allseitiger Verstärkung und die Arbeit an Begriffen, die das suggestive Gewebe des kognitiven Kapitalismus zugunsten eines anderen Griffes auf die Welt durchstoßen, wäre vielleicht eine Möglichkeit, die Totalität informationstechnischer Konditionierung aufzuheben.


Fußnoten:

[1] https://capulcu.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/54/2017/08/Disrupt2017-08-18-A4.pdf

[2] KULTUR/0983: Fitneß-App - Sozialkontrolle selbstgemacht ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0983.html

[3] HERRSCHAFT/1710: Liberaler Paternalismus - kein Widerspruch in sich ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1710.html

18. April 2018


capulcu redaktionskollektiv
DISRUPT!
Widerstand gegen den technologischen Angriff
Unrast Verlag, Münster 2017
160 Seiten, 12,80 Euro
ISBN 978-3-89771-240-9


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang