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REZENSION/716: Werner Seppmann - Es geht ein Gespenst um in Europa (SB)


Werner Seppmann


Es geht ein Gespenst um in Europa

Rechte Mobilisierung zwischen Populismus und Neofaschismus.

Linke Alternativen.


Wenn "America first!" auf Kollisionskurs mit "Deutschland über alles!" steuert und sich dieses wiederum mit der nationalistischen Verbunkerung in anderen europäischen Ländern konfrontiert sieht, zeugt dies von gravierenden Unwuchten im Gefüge des globalen Raubes. Der Marschtritt einer jahrzehntelang vorangetriebenen Strategie des transatlantischen Militärbündnisses und der Europäischen Union, aller Welt ihre Dominanz aufzuherrschen, sie niederzukonkurrieren und sich ihrer Ressourcen zu bemächtigen, sie ökonomisch und militärisch in die Knie zu zwingen, um sich letztendlich auch Rußland und China einzuverleiben, ist aus dem Takt geraten. Die Ratio menschheitsgeschichtlicher Entwicklung, das Überleben zu Lasten aller anderen Spezies, insbesondere aber der eigenen Art auf die Spitze kapitalistischer Verwertung zu treiben, stößt an ihre Grenzen. In dieser Gemengelage ökonomischer, sozialer und ökologischer Krisen, die einander wechselseitig befeuern, mit dem dramatischen Mangel an lebensnotwendigen Rohstoffen und dem hereinbrechenden Klimawandel konfrontiert, gerät der Zug der Lemminge nicht etwa ins Stocken. Für die Profiteure der herrschenden Eigentums- und Verfügungsordnung steht nicht die Bewältigung der Krisen auf der Tagesordnung, sondern aus ihnen als Sieger hervorzugehen. Daher wird kahlgeschlagen, verfeuert, verkonsumiert und hochgerüstet, was das Zeug hält, um den Massensturz in den Abgrund zu forcieren, selber aber nicht über diese Klippe zu springen.

So kurzschlüssig diese Logik des Überlebens anmuten mag, die in der Hoffnung auf befristetes Entkommen die Vernichtung jeglicher Lebensvoraussetzungen beschleunigt, nimmt sie doch in Krisenzeiten wie diesen geradezu zwingende Züge an. Das ist freilich weder ein Naturgesetz noch eine unabweisliche Entwicklung, wäre es doch unter allen denkbaren Umständen nie auszuschließen, dem Verhängnis auf den Grund zu gehen und dagegen Hand und Stimme zu erheben. Während dies aber nicht nur eine fundierte Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern zugleich eine glaubwürdige Repräsentanz der Gegenposition erforderte, hat die an die bestehenden Strukturen und Denkvoraussetzungen andockende Rechte wesentlich leichteres Spiel. Sie muß keine konsistenten Theorien entwickeln, mit keinen schlüssigen Strategien aufwarten und sich insbesondere nicht mit der Eigentumsordnung und deren Gewaltarsenal anlegen. Statt dessen bedient sie die Klaviatur des fundamentalen Vorteilsstrebens, das sich nur am Nachteil des anderen bemessen und in ihm erfüllen kann.

Von Abstiegsängsten gequält und verunsichert oder bereits hinuntergestürzt, verarmt und entwürdigt, ausgegrenzt und ohne Perspektive, kann dem Menschen in diesem Lande alles genommen werden, doch eines nicht: Der Stolz, ein Deutscher zu sein! Daß diese rechte Kernbotschaft nicht etwa als absurd, sondern im Gegenteil als Fanal des Aufbruchs wahrgenommen werden kann, hängt mit ihren unmittelbaren Konsequenzen zusammen. Sie erlaubt die sofortige Feindbildproduktion in Gestalt all jener, die sich als "undeutsch" identifizieren lassen. Das können geflohene Menschen, Muslime oder Juden, aber auch Kreise in Politik und Gesellschaft sein, die Fremden die Tür öffnen und eine Mischung der Kulturen befördern, nicht zuletzt aber auch Frauen, die sich dem patriarchalen Anspruch des weißen deutschen Mannes nicht unterordnen, wie auch all jene, die sich dem Schema der Geschlechterzuweisung und Verkehrsformen nicht fügen.

Im Land des ökonomischen Siegers zu leben und doch zu den Verlierern zu gehören wird lange vor einer Analyse der Klassengesellschaft als Widerspruch entsorgt. Vielmehr drängt die lebensgeschichtliche Erfahrung, abgehängt und mißachtet zu werden, nach einem als Befreiung empfundenen Ventil der aufgestauten Wut. Wo höchst reale Nöte anwachsen und keinerlei Besserung in Sicht ist, liefert die Rechte irrationale Antworten, es nämlich all jenen zu zeigen, die als vermeintliche Freßfeinde für das eigene Scheitern im erbitterten Konkurrenzkampf verantwortlich gemacht werden können. Daß dies in aller Regel Schwächere sind, ist dem Grundmuster nationalistischer und patriarchaler Selbstvergewisserung inhärent, das seine Stärke daraus zu gewinnen trachtet, für minderwertig befundene Menschen, Kulturen und Nationen zu verachten, zu diskreditieren, zu verfolgen oder gar zu vernichten.

Diese zentrale Stoßrichtung der Rechten korrespondiert mit einer zunehmend repressiven Staatlichkeit, die den Übergang zu einem permanenten Ausnahmezustand als präventive Bekämpfung kommender Aufstände praktiziert. Während nämlich die radikale Linke aufgrund ihrer Staats- und Gesellschaftskritik durchweg im Fokus behördlicher Verfolgung steht, gilt das nicht gleichermaßen für die Rechte, die aus Perspektive wesentlicher Fraktionen von Kapital und Staatsapparat eine Option bleibt, derer man sich im Krisenfall bedienen könnte. Das heißt keineswegs, daß die radikale Rechte ausschließlich ein Geschöpf der Geheimdienste wäre, doch daß sie von diesen infiltriert und instrumentalisiert wird, dürfte spätestens seit dem Treiben des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds außer Frage stehen.

Die bürgerliche Gesellschaft hat Ton und Gangart derart verschärft, daß sie tendentiell zu einem Steigbügelhalter der aufstrebenden Rechten geworden ist. Vom positiven Patriotismus des Sommermärchens über Thilo Sarrazin bis hin zu den schärfsten Polizeigesetzen seit dem NS-Staat wurde eine ideologische und administrative Schneise der Verwüstung durch demokratische Übereinkünfte geschlagen. Während die Bevölkerung auf den starken Staat nach außen und innen eingeschworen wurde, traten wachsende Teile derselben auf den Plan, um als angebliches Volk dem Establishment zu drohen und Jagd auf hierher geflohene Menschen zu machen. Auch das hat seine Vorgeschichte: Rund 180 Todesopfer rassistischer Gewalt seit dem Anschluß der DDR, nächtelange Pogrome gegen Flüchtlingsunterkünfte, Serien von Anschlägen fast unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmung.

All das und vieles mehr thematisiert der marxistische Sozialwissenschaftler und Philosoph Werner Seppmann in seiner Auseinandersetzung mit der rechten Mobilisierung. Er leuchtet dabei nicht nur das gesamte Spektrum relevanter Aspekte aus, sondern bindet die vielfältigen Komponenten immer wieder zurück an sein Kernanliegen, dem rechten Vormarsch einen substantiellen linken Widerstand entgegenzusetzen. Warum das bislang so wenig gelungen ist, führt er insbesondere darauf zurück, daß es allein mit rationalen Argumenten nicht möglich ist, da diese gegen die rechtspopulistische Emotionalisierung gesellschaftlicher Probleme weitgehend wirkungslos bleiben. Es gelte vielmehr herauszuarbeiten, in welcher Weise diese Phänomene Spiegelbilder irrationalistischer Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse sind, da der Irrationalismus in all seinen Varianten konstitutiv und notwendig die Bewußtseinsform der imperialistischen Gesellschaft sei.

Die rechtsextreme Ideologie sei deshalb auch nicht durch Hinweise auf ihre Widersprüche und Paradoxien zu neutralisieren, weil ihre Heterogenität und Widersprüchlichkeit bis zu einem gewissen Grad sogar das Geheimnis ihres Erfolges und ihrer Durchsetzungskraft ist. Ihre Erklärungsmuster korrespondierten mit der gebrochenen Struktur des Alltagsdenkens, und die populistischen Assoziationsstrategien besäßen die erforderliche Flexibilität, um konkrete Erfahrungsmomente mit untergründigen Weltbildelementen und emotionalen Bedürfnisstrukturen zu verknüpfen. Die rechten Argumentationssysteme gäben verbreiteten Vorurteilen sowie sozialen Mystifikationen eine pseudorationale Richtung. Wenngleich von oberflächlicher Tendenz, systematisierten sie doch das herrschende Krisenbewußtsein und böten vermeintliche Alternativen an.

Was das im einzelnen bedeutet, legt der Autor ungeachtet seiner tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der Thematik auf bemerkenswert verständliche und nachvollziehbare Weise dar. Das ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß er keinesfalls dazu neigt, sprachakrobatischen Nebelkerzen anstelle inhaltlicher Schlüssigkeit den Zuschlag zu geben. Er verknüpft seine Ausführungen zudem immer wieder mit aktuellen Zeitbezügen aus dem politischen Kontext und insbesondere aussagekräftigen Sozialdaten, weshalb man diese Herangehensweise als im besten Sinne bodenständig ausweisen kann.

So ordnet er das soziale Umfeld des Aufstiegs der AfD in die Entwicklung der deutschen Klassenverhältnisse ein, deren tiefgreifende Veränderungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen auch innerhalb der Linken nur selten in klassenanalytischer Perspektive diskutiert wurden. In den oberen Gesellschaftsschichten bricht sich eine Privilegierung Bahn, die den gesellschaftlichen Reichtum in beispielloser Weise auf sich vereint und ihren Einfluß auf Bestandssicherung und Ausbau dieser Position unablässig geltend macht. Dem steht eine Degradierung und Spaltung der unteren Schichten gegenüber, wobei auch die in sich fragmentierte gesellschaftliche Mitte unter Druck geraten ist. Dort fühlen sich viele Menschen vom Abstieg bedroht, da ihre soziale Stellung instabil geworden und beispielsweise der Statuserhalt ihrer Kinder gefährdet ist. Hinzu kommen massive Verdrängungserfahrungen durch die sich ausbreitende Digitalwirtschaft.

Wer in dieser Mittelschicht Arbeit hat, muß immer mehr leisten, um über die Runden zu kommen. Da auf dieser Stufe längst nicht mehr Platz für alle ist, erfordert die Existenzsicherung einen immer größeren Einsatz, ohne daß dadurch die erreichte Position sicher wäre. Die untere Hälfte der Gesellschaftspyramide setzt sich zu 20 bis 30 Prozent aus Menschen zusammen, die permanent vom sozialen Absturz bedroht sind, während die verbliebenen 20 Prozent in der einen oder anderen Form in Armut leben. Auch stehen den Lohnabhängigen, die noch in gesicherten Verhältnissen leben, oftmals im selben Betrieb prekär Beschäftigte gegenüber, wodurch die Unsicherheit der eigenen Existenz als allgegenwärtig erlebt wird. Und wie ein Damoklesschwert hängt darüber Hartz IV als permanente Drohung der Abstiegsspirale.

Während sich daher wachsende Bevölkerungsteile verraten und verkauft wähnen, tritt die Rechte als eine politische Kraft auf den Plan, die den Verunsicherten und Abgehängten den Eindruck vermittelt, sie habe ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte. Damit trifft sie offenkundig einen Nerv und verschleiert erfolgreich, daß ihre vorgebliche Fürsorge dem taktischen Kalkül entspringt, die Stimmung in Krisenzeiten für sich zu instrumentalisieren. Sie verteufelt die etablierten Medien als "Lügenpresse" und unterläuft traditionelle Wege der Meinungsbildung, indem sie die neuen Medien erfolgreich für sich nutzt. So erreichen rechtspopulistische und rechtsextreme Webseiten ein breites Publikum: Die Wutbürgerpostille Epoch Times verzeichnet monatlich fast sechs Millionen Zugriffe, der islamfeindliche Blog PI-News rund 5,3 Millionen und die "national-konservative" Wochenzeitung Junge Freiheit bringt es jeden Monat auf mehr als 2,6 Millionen. Hinzu kommen zahlreiche weitere Aktivitäten in sozialen Netzwerken, die ein entuferndes Betätigungsfeld für Haßkommentare darstellen.

Die angeprangerte Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft geht jedoch nicht ursächlich von der Rechten aus, die vielmehr reale Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse der kapitalistischen Funktionsmechanismen aufgreift und für ihre Zwecke nutzt. Sie kann auf gesellschaftlich vorgebahnte Konkurrenzmuster und Bedrohungsszenarien aufsatteln und rechte Weltbilder forcieren, die sie mit ihren Stereotypien der Diskriminierung anreichert. Die dramatische Stimmungslage in der Bevölkerung wird weithin unterschätzt, da oftmals nur dann von rechtsextremen Einstellungen die Rede ist, wenn Rassismus, Gewaltphantasien, autoritäre Politikvorstellungen und Antisemitismus gemeinsam auftreten. Das ist jedoch irreführend, da reaktionäre Weltbilder auch jenseits von Führerkult und Antisemitismus weit verbreitet und in einzelnen Aspekten sehr viel häufiger anzutreffen sind. In der sogenannten Mehrheitsgesellschaft sind marktradikale und somit sozialdarwinistische Auffassungen des ungezügelten individualisierten Konkurrenzkampfs vorherrschend, so daß der Übergang zu antidemokratischen, fremdenfeindlichen und völkischen Einstellungen fließend ist.

Die AfD wie auch die Rechte insgesamt setzt sich aus verschiedenen Strömungen zusammen, die zunächst ein diffuses und teils widersprüchliches Bild abgeben mögen wie auch nicht selten erbitterte Grabenkämpfe untereinander austragen. Wenngleich man daher keineswegs von einem geschlossenen Block sprechen kann, zeichen sich doch zwei maßgebliche Tendenzen ab. Die AfD hat sich im Unterschied zu früheren parlamentarischen Ansätzen der NPD oder der Republikaner zweifelsfrei etabliert und kann mit weiterem Zugewinn rechnen. Zudem frißt sie zwar aus taktischen Gründen mitunter Kreide, hält sich aber zugleich nach rechts offen, wo der völkische Flügel um Björn Höcke und Andreas Kalbitz - letzterer hat sich inzwischen eine identitäre Camouflage verpaßt - an Einfluß gewinnt. Wollte man von einer Demarkationslinie zwischen Rechtspopulismus und Neofaschismus sprechen, so verschwimmt diese mehr und mehr.

Die deutsche Rechte stellt sich heute als eine Bewegung im Aufwind dar, deren parlamentarischer Arm mit den Aufmärschen auf der Straße und den Sturmtruppen oder militanten Zirkeln vor Ort zusammenwirkt. Angespornt vom Machtinstinkt und der Überzeugung, daß ihre Stunde geschlagen hat, stellen die Fraktionen ihre Zerwürfnisse bislang soweit zurück, daß es zu keiner nennenswerten Spaltung und Schwächung kommt. Der Nichtangriffspakt in öffentlichen Stellungnahmen zwischen der neoliberalen Alice Weidel und dem völkischen Björn Höcke führt beispielhaft vor Augen, daß mit einer internen Zerlegung der AfD nicht zu rechnen ist. Wenngleich die Vorstellungen von der Machtübernahme unter Rechtspopulisten, Völkischen, Identitären, Neonazis, Hooligans, Reichsbürgern, extremistischen Gruppierungen in Bundeswehr und Polizeien oder den diversen weiteren Fraktionen keineswegs zur Deckung zu bringen sein dürften, scheint doch Einigkeit darüber zu herrschen, daß man die Bürgerlichen in Parteien und Gesellschaft solange vor sich her treibt, bis eine kritische Masse erreicht ist.

Werner Seppmann lotet diesen Aufstieg der bundesrepublikanischen Rechten in seinen Voraussetzungen und Herkünften, im größeren historischen Zusammenhang der deutschen Geschichte wie auch im europäischen und weltweiten Kontext aus - jedoch nicht, um es bei einer bloßen Beschreibung zu belassen. Er beharrt im Gegenteil darauf, daß jeder Erklärungsansatz unzulänglich, wenn nicht gar irreführend sein muß, der nicht einer Diskussion um Eingriffsmöglichkeiten Handhabe bietet. In diesem Sinne ist sein vorliegender Beitrag als ein Standardwerk im Kampf gegen jenes Gespenst, von dem im Titel des Buches die Rede ist, zu würdigen.

19. August 2019


Werner Seppmann
Es geht ein Gespenst um in Europa
Rechte Mobilisierung zwischen Populismus und Neofaschismus.
Linke Alternativen.
Mangroven Verlag Kassel, 2018
304 Seiten
20,00 EUR
ISBN 978-3-94694-606-9


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