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REZENSION/729: Michael Wengraf - Die rechte Revolution (SB)


Michael Wengraf


Die rechte Revolution

Veränderte ein Masterplan die Welt?



Die Antwort auf diese Frage wird im Grunde genommen schon im Titel gegeben und im Verlauf des Buches anhand der bekannten Entwicklung des Neoliberalismus begründet. Zwar kann man geteilter Meinung darüber sein, ob die von Michael Wengraf genannten Vordenker der neoliberalen Ideologie für die Ablösung des zumindest in Westeuropa hegemonialen Keynesianismus durch die neoliberale Variante des kapitalistischen Akkumulationsregimes unverzichtbar waren oder ob die Krise fordistischer Massenproduktion und -konsumption nicht so oder so einen die Verabsolutierung des Marktes betreibenden Paradigmenwechsel hervorgebracht hätte. Letzteres gesteht der Autor zu (S. 11), folgt mit der These, daß neoliberale Ökonomen und Think Tanks für diese Weichenstellung verantwortlich waren, jedoch zugleich der, bei aller unterschiedlichen Gewichtung der maßgeblichen politischen Akteure und Kräfte, vertrauten Erzählung vom geschichtsbildenden Einfluß meist weißer männlicher Ideengeber.

Dabei ist ihm in der Kritik der antidemokratischen, den Menschen auf die Ratio der Kapitalverwertung reduzierenden und alle Welt der Verwertbarkeit um jeden Preis unterwerfenden Stoßrichtung des Neoliberalismus ohne weiteres zuzustimmen. Dieser in der Mitte der Gesellschaft längst angekommene Konsens erfüllt in der Mehrfachkrise des Spätkapitalismus jedoch vor allem die Funktion eines Trostpflasters, läßt sich so doch die Aussicht auf eine Rückkehr zur vermeintlich besseren Epoche keynesianisch-sozialdemokratischer Gesellschaftsordnung aufrechterhalten. Für die Bewältigung der anstehenden Aufgabe, die globale Krise anwachsender Verarmung, umfassender Naturzerstörung und neofaschistischer Restauration einzudämmen, ist das perspektivische Wechselspiel zwischen Neoliberalismus und Keynesianismus wenig hilfreich. Die systemische Krise auf der Höhe der Zeit, sprich die Durchsetzung wissenschaftlich-technologischer Innovationslogiken, die durch sie bemittelte politische Herrschaft, ihre Verankerung im patriarchalen und rassistischen Betriebsmodus kapitalistischer Produktionsweise und deren anwachsende Verbrauchs- und Zerstörungsdynamiken zu antizipieren, um den Elefanten im Raum, die notwendige Überwindung dieser Verwertungs- und Vergesellschaftungspraxis, sichtbar und angreifbar zu machen, bleibt mit der kausalen Referenz auf den Neoliberalismus weitgehend aus.

Es geht bei der Analyse des Neoliberalismus aus marxistischer Sicht gerade um die Aufhebung des Ideologischen, Ökonomischen oder Politischen als isoliertes, unvermittelt Unmittelbares. Gegenstand muß vielmehr deren gegenseitige Bezüglichkeit und Widersprüchlichkeit innerhalb des Ganzen der rechten Revolution sein. Diese wiederum ist als jener (neoliberale) Prozess zu verstehen, der "Totalität als 'Vermittlung' des Gegensätzlichen und sich scheinbar Ausschließenden zur Einheit möglich macht". (S. 34)  

Die mit einem Zitat Leo Koflers geübte Kritik am ideellen Gültigkeitsanspruch und Absolutheitscharakter neoliberaler Doktrin sollte die Verhinderung der titelgebenden "rechten Revolution" eigentlich beflügeln, wenn Wengraf dem damit gemeinten Neoliberalismus nicht zugleich eine Überzeugungskraft zuwiese, über die er angesichts seiner rapide erodierenden materiellen Basis längst nicht mehr verfügt. Allein den SachwalterInnen neoliberaler Ideologie den Begriff der Revolution zuzugestehen und damit die Absicht ihrer rechtsradikalen Fußtruppen, gesellschaftlich hegemonial zu werden und politische Macht auch mit dem Mittel des Putsches zu erobern, als eine Form grundlegender Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse anzuerkennen, wertet deren Einfluß unnötig auf. Was in der Binnenrhetorik völkischer Propaganda als "nationale Revolution" seinen Platz hat, kann nicht genug auf den Punkt der Restauration einer Kapitalherrschaft gebracht werden, deren Renationalisierung und Faschisierung nicht erst seit der Präsidentschaft Donald Trumps ein wesentliches Mittel ihres Krisenmanagements ist.

Wenn Wengraf die Ambiguität neoliberaler und sozialdemokratischer Ideologie als "zwei Seiten einer Medaille, Elemente einer widersprüchlichen Totalität" (S. 40) darstellt und deren gesellschaftliche Wirkungsmacht als zentrales Moment kapitalistischer Herrschaft herausarbeitet, dann will er damit vor allem den Erfolg der Strategie belegen, "Modernität, Fortschritt und das Fehlen von Alternativen vorzugaukeln" (S. 40). Maßgeblich für die scheinbar unbezwingbare Vormacht neoliberaler Ideologie sind ihm die Subjektivierungsprozesse einer Optimierungslogik, in der sich der Mensch "als Humankapital, das es in Gestalt einer selbst vermarktenden Ich-AG in der eigenen Hand hat, am Arbeitsmarkt zu reüssieren", (S. 19) begreift. Eben "diese Verinnerlichung einer fremden Logik durch die Unterschichten ist ein tragendes Moment der neoliberalen Revolution" (S. 19), meint der Autor unter Verwendung einer soziologischen Kategorie, die nicht weniger Distanz zu der von ihm umworbenen Arbeiterklasse erkennen läßt als die einer Sozialdemokratie, der über 100 Jahre nach dem von ihr 1914 kriegsbereit gemachten deutschen Imperialismus Klassenverrat anzulasten eigentlich nur ein inniges Verhältnis zu derselben erkennen lassen kann.

So wenig der Leserschaft eines linken Kleinverlags nach 40 Jahren Neoliberalismus noch etwas über dessen Atomisierungsstrategien und Konkurrenzimperative erklärt werden muß, so wenig kann die sich über ganze Seiten erstreckende Anklage an die Adresse der SPD, "Verrat an den Unterschichten" (S. 44) begangen zu haben, für etwas anderes fruchtbar gemacht werden als den Argwohn gegenüber einer vermeintlichen Linken zu schüren, die diese politische Verortung kaum noch selbst für sich in Anspruch nimmt. SozialdemokratInnen anzulasten, mit neoliberaler Propaganda hausieren zu gehen, trifft zweifellos die Richtigen, ist angesichts des Schadens, der mit der Aufgabe aller internationalistischen und antikapitalistischen Positionen durch die SPD längst angerichtet wurde, jedoch eher irrelevant.

Im Grunde genommen handelt es sich bei der beanspruchten Analyse der den Neoliberalismus hegemonial machenden Interessen und Kräfte um eine Rahmenhandlung, während der empathische Kern, der den Text vorantreibt, aus einer Abrechnung mit linkem Opportunismus - oder was der Autor dafür hält - besteht. Wengraf betreibt mit der Auflistung inkonsistenter Oberflächenphänomene häufig nur nominell linker Akteure und der Bezugnahme auf Didier Eribon, der mit seinem autobiografisch geprägten Roman "Rückkehr nach Reims" ein Deutungsmuster für die Entstehung der französischen Gelbwestenbewegung vorgelegt hat, vor allem eins - in Verteidigung populistischer Ressentiments einen Generalverdacht gegen Linke zu schüren, der auch all diejenigen AktivistInnen trifft, deren Radikalität vorrangiges Ziel der Immunisierungs- und Neutralisierungsstrategien der "linksliberalen" Bourgeoisie ist. Indem der Autor die berechtigte Kritik an linkem Schein und neoliberalem Sein auf die ganze Bandbreite emanzipatorischer Anliegen anwendet, ohne zwischen deren Instrumentalisierung für Zwecke der Herrschaftssicherung und ihrer genuinen Widerständigkeit zu unterscheiden, betreibt er das Geschäft der verbliebenen, mit zunehmender Bedeutungslosigkeit immer rabiater dem verlorengegangenen gesellschaftlichen Einfluß hinterherjagenden FürsprecherInnen autoritärer Staatlichkeit und paternalistischer Definitionsmacht.

Mit dem Eindreschen auf den Popanz einer so unbestimmten wie breit entuferten "Linken" bedient Wengraf sich einer begrifflichen Verallgemeinerung politischer Terminologie, die es ihm ermöglicht, die Diagnose realer gesellschaftlicher Antagonismen weniger für den Aufbau einer emanzipatorischen Gegenbewegung denn zur Legitimation populistischer Agitation zu verwenden. Damit betreibt er in gewisser Weise genau das, was er mit den Worten Koflers als neoliberale Verblendungspraxis herausstellt. Dem Verleger Jakob Augstein "linken Antifawahn" (S. 154) anzulasten, als handle es sich um einen Gesinnungstäter und nicht einen geschäftlich erfolgreichen Akteur der Kulturindustrie, um auf der gleichen Seite ein Wort für die AfD einzulegen, die sich in Analyse ihrer Widersprüche "in manchen Bereichen - wie etwa dem Kampf gegen EU-Zentralismus - als Bündnispartner für die sozialen Kräfte" anbiete, zu behaupten, "ungezügelte Migration" passe "haarscharf in das Anforderungsprofil des Neoliberalismus und seiner Revolution", um, an die Adresse ihrer "'linken' Apologeten" gerichtet, festzustellen, die "rechte Indoktrination" habe auch "in dieser Hinsicht den Kampf um die pseudolinken und zivilgesellschaftlichen Köpfe längst für sich entschieden" (S. 80), eine angeblich der "rechten Revolution" zuarbeitende "vertikale Beliebigkeit" damit zu belegen, daß sich "jede Frau mit einem abstrakten Feminismus, jeder Farbige mit einem abstrakten Antirassismus identifizieren" könne, was durch "ebenso flache wie selbstgerechte Gutmenschen" (S. 47) in beiden Fällen bestätigt würde, bedient sich nicht von ungefähr einer diffamierenden Sprache. Einmal abgesehen davon, daß die EU als Sachwalterin neoliberaler Regierungspolitik alles andere als "ungezügelte Migration" zuläßt, sondern mit sozial selektiver Flüchtlingsabwehr rassistische und ökonomische Normen durchsetzt, ventiliert Wengraf eine notorische Abneigung gegen alles Linke, was seiner begrifflichen Unschärfe gemäß vor allem Fragen nach seinem politischen Standort aufwirft.

Nicht von ungefähr unterbleibt eine Analyse der Bedeutung der französischen Gelbwestenbewegung bei aller Fürsprache für "Unterschichten" und "Marginalisierte" (S. 109) und dem häufigen Verweis auf Eribon fast vollständig. Dabei haben gerade die Gilets Jaunes gezeigt, daß ArbeiterInnen allemal zu sozialem Widerstand in der Lage sind, der sich rechtspopulistischen Vereinnahmungsversuchen als auch der Korrumpierung durch mediale und politische Angebote gegenüber resistent zeigt. Die dezentrale Selbstorganisation der Bewegung, ihre Militanz und Unbestechlichkeit, ihre spontane Bündnisfähigkeit wie ihre Öffnung für emanzipatorische Ziele aller Art sind Beispiele für gelungenen sozialen Widerstand, der nicht umsonst mit der ganzen Brutalität staatlicher Repression zerschlagen wurde. Während die Vereinnahmungsversuche der Rassemblement National unter Marine Le Pen fruchtlos blieben, ist der angeblich demokratische Widerstand der sozial eher mittelständisch aufgestellten Querdenken-Bewegung in der Bundesrepublik so rechtsoffen wie ein Scheunentor. Jener Populismus, den Wengraf als Antithese zur globalistischen neoliberalen Linken wertschätzt, hat daran nicht geringen Anteil.

Im Grunde genommen bedient der Autor die alte Leier des Generalvorwurfes, die Neue Linke habe dem Neoliberalismus den Boden bereitet, indem ihre Intellektuellen 1968 damit begannen, "ihren Horizont - und damit gleich den der Gesellschaft - einfach in Richtung Gender, Gendergerechtigkeit, Feminismus, Multikulturalität und anderes mehr zu verschieben. Über den Antagonismus von Arbeit und Kapital schweigen sie seither verlässlich." (S. 109) Wen auch immer Wengraf damit meint und wie sehr dieser Vorwurf etwa auf einstmals linksalternative GrünenpolitikerInnen zutreffen mag, die von ihm favorisierte Methode, die politisch zweckdienliche Instrumentalisierung emanzipatorischer Ziele von scheinbar ideologiekritischer Warte zu verallgemeinern und zu diskreditieren, läuft auf die Bezichtigung hinaus, mit den Kämpfen gegen Patriarchat und Sexismus, gegen Rassismus und Kolonialismus werde so etwas wie Verrat an der Arbeiterklasse betrieben.

Da kaum etwas besser als Klammer rechtspopulistischer Bewegungen und weißer Suprematie in aller Welt funktioniert als demagogischer Antifeminismus, während die sozialrevolutionären Bewegungen in den Amerikas und der EU sich wachsender Beteiligung feministischer und LGBTIQ-AktivistInnen, People of Color, MigrantInnen und Indigenen erfreuen, muß beim Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit tatsächlich nicht mehr zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch unterschieden werden. Die in den letzten Jahren aufgeflammten Aufstände waren meist auch gegen soziale Verelendung und ausbeuterische Lohnarbeit gerichtet, was nicht bedeuten sollte, daß andere Unterdrückungsverhältnisse nicht beim Namen genannt werden. Ganz im Gegenteil gilt es den inhärenten Zusammenhang von Patriarchat und Kapital, von Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus und Anthropozentrismus auf den Nenner eines sozialen Widerstandes zu bringen, der niemanden ausschließt, der den Kampf gegen diese Gewaltverhältnisse gutheißt.

Der vermeintliche Widerspruch zwischen Klassen- und Identitätspolitik mag unter orthodoxen MarxistInnen und staatsautoritären SozialistInnen von Bedeutung sein, doch allein das in der Neuen Rechten virulente Feindbild eines sogenannten Kulturmarxismus zeigt, wie sehr sich die rechte Feindbildproduktion kulturalistischer Motive bedient, die für staatsautoritäre und postsozialistische Linke durchaus anschlußfähig sein können. So ist die von Wengraf als vernachlässigt und mißachtet beklagte Arbeiterklasse ihrerseits, was häufig vergessen wird, Produkt identitätspolitisch bestimmter Zugehörigkeit. Nicht wenigen ArbeiterInnen in wohlhabenden Staaten geht jedes Interesse daran ab, den historisch durch Sklaverei, Kolonialismus und Industrialisierung erwirtschafteten materiellen Vorsprung Westeuropas und Nordamerikas für eine globalen Universalismus einer Gleichheit aufzugeben, die sie vorzugsweise nach oben, jedoch eher nicht nach unten einfordern. Wenn diese ihr Heil in der Neuen Rechten suchen und dem Mythos vom Volksaustausch frönen, kann das nur bedingt dem Versagen der politischen Linken angelastet werden, wie es dieser Autor tut. Daß sein Buch ohne die kritische Thematisierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse und der durch sie vertieften globalen Ungleichheit auskommt, spricht Bände.

Sich von neoliberaler Marktlogik und persönlichen Karriereaussichten korrumpieren zu lassen wird als Scheitern der Linken insofern überbewertet, als daß sich die betreffenden Personen nach dem langen Marsch von ganz links nach mehr oder minder rechts eben dort einfinden, wo sie der Summe ihrer Lebenserfahrung gemäß hingehören. Das macht die politische Unterscheidung von links und rechts nicht obsolet, wie von den TeilnehmerInnen an diesem Marsch gerne behauptet, sondern verlangt nach der Präzisierung der politischen Positionsbestimmung zugunsten einer Streitbarkeit, die für die Hoffnung auf das Erwirtschaften von Überlebensvorteilen durch Anpassung an und Unterwerfung unter den Griff administrativer Verfügungsgewalt unverträglich ist und bleibt.

15. Dezember 2020


Michael Wengraf
Die rechte Revolution
Veränderte ein Masterplan die Welt?
Mangroven Verlag, Kassel, 2020
236 Seiten
18,00 Euro
ISBN 978-3-946946-10-6


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