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REZENSION/735: Peter Geoghegan - Democracy for Sale (Brexit) (SB)


Peter Geoghegan


Democracy for Sale

Dark Money and Dirty Politics



"Rußland II" - so lautet der neue Spitzname des Vereinigten Königreichs in den EU-Büros in Brüssel und Strasbourg seit dem offiziellen Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus der Europäischen Union am 1. Januar 2020. Nicht genug, sich im Osten ständig mit dem höchst eigensinnigen Nachfolgestaat des russischen Zarenreichs herumplagen zu müssen; seit dem Votum einer knappen Mehrheit der Briten für den Brexit am 23. Juni 2016 sieht sich die EU nun an ihrer atlantischen Grenze im Westen mit einer weiteren aggressiven Atommacht konfrontiert, deren politische Führung jubelnd die glorreiche Freibeutertradition Englands wieder hochleben lassen will mit dem Ziel, als "Global Britain" die internationalen Handelsströme zu eigenen Gunsten dirigieren zu können.

Der Umgang mit London gestaltet sich seit mittlerweile rund fünf Jahren für die Diplomatie in Brüssel, aber auch in Berlin, Dublin und Paris deshalb als extrem schwierig, weil das politische Geschehen im Vereinigten Königreich nicht nur für Außenstehende völlig undurchschaubar und unberechenbar geworden ist (es sei denn, man geht grundsätzlich vom Schlimmsten aus, was in den allermeisten Fällen auch eintritt). Das damalige Votum der Briten für den Austritt aus der EU war deshalb ein heftiges politisches Erdbeben, weil alle politischen Parteien des Landes bis auf Nigel Farages Ein-Mann-Truppe, die United Kingdom Independence Party (UKIP), und Nordirlands protestantischer Fundamentalistenverein, die Democratic Unionist Party (DUP), für den Verbleib plädierten und mit dieser Botschaft die Menschen an die Urnen riefen.

Gleich am Morgen nach der Schicksalsentscheidung trat ein sichtlich mitgenommener David Cameron als Premierminister und Vorsitzender der regierenden konservativen Partei zurück. Beide Ämter wurden von Camerons Innenministerin Theresa May übernommen. Doch deren dreijähriger Versuch, ein vernünftiges Austrittsabkommen mit Brüssel auszuhandeln, das die Scheidungsschäden sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die EU minimieren und ein respektvolles, nachbarschaftliches Miteinander garantierten sollte, wurde auf Schritt und Tritt sabotiert - und zwar von den Befürwortern eines harten Brexits bei den Tory-Abgeordneten im Unterhaus, die sich dort stets auf die Unterstützung der kleinen, aber mächtigen Fraktion der DUP verlassen konnten. Bei jeder Gelegenheit haben die Brexiteers, angeführt im Parlament von Jacob Rees-Mogg von der EU-feindlichen European Research Group innerhalb der konservativen Partei, und die DUP jeden Vertragsentwurf Mays abgeschossen. Völlig entnervt und am Ende ihrer Kräfte warf May im Sommer 2019 das Handtuch. An ihre Stelle trat der Politclown und Lügenbaron Boris Johnson, Liebling der Boulevardpresse, der bereits in den neunziger Jahren als Brüssel-Korrespondent des konservativen Daily Telegraph mit nachweislich erfundenen Gruselgeschichten dem Ruf der EU in Großbritannien schwer geschadet hat.

Seit dem Einzug in Number 10 Downing Street hat Johnson das Parlament zwischenzeitlich illegal schließen lassen, später den eigenen abgespeckten Austrittsvertrag mit der EU durchgepeitscht, Neuwahlen haushoch gewonnen, die DUP in der Frage der künftigen Grenzkontrollen zwischen dem EU-Staat Republik Irland und Großbritannien hintergangen und sogar mit einem eigenen neuen Gesetz zur Neuregelung des britischen Binnenmarkts internationale Verträge mit Brüssel gebrochen sowie die Autonomierechte von Schottland und Wales verletzt. Das ganze Jahr 2020 über hat Johnson - trotz Covid-19-Pandemie - die EU mit der Drohung eines No-Deal-Brexits - eines Scheitern der Verhandlungen um die künftigen Handelsbeziehungen und die zwangsläufige Umstellung auf WTO-Regeln - vergeblich zu erpressen versucht.

Wie konnte es nur zu dieser verheerenden Fehlentwicklung kommen?, fragen sich seit 2016 alle Beobachter. Manche führen den Brexit und die damit einhergehenden Spannungen auf die traditionelle, jahrhundertelange Strategie Englands zurück, die Entstehung einer hegemonialen Großmacht auf dem europäischen Kontinent niemals zuzulassen und dort stets für Uneinigkeit und Zwist zu sorgen. Andere wiederum machen das Aufkommen eines schwer kontrollierbaren englischen Chauvinismus in Reaktion auf das zunehmende Unabhängigkeitsstreben der schottischen Nationalisten für das politische Durcheinander im Vereinigten Königreich verantwortlich. In seinem neuen Buch "Democracy for Sale - Dark Money and Dirty Politics" legt der irische Enthüllungsjournalist Peter Geoghegan, dessen Artikel unter anderem beim Londoner Guardian sowie in der New York Times erschienen sind, die verstörende Art und Weise offen, mit der höchst reaktionäre Kreise im Vereinigten Königreich und deren Verbündete in den USA mittels riesiger Geldsummen aus dunklen Kanälen die Westminster-Politik, die sich lange Zeit durch eine gewisse Ausgewogenheit und Verläßlichkeit ausgezeichnet hatte, gezielt in Chaos und Intransparenz gestürzt haben.

Anlaß zu der vorliegenden Lektüre war eine ganzseitige Zeitungsanzeige, die Geoghegan auf einem Bahnhof im nordenglischen Sunderland wenige Tage vor der Brexit-Abstimmung auffiel. Interessant an der Anzeige, welche die britischen Bürger mit der Aufforderung "Take back control!" zur Stimmabgabe für den EU-Austritt drängte, war der Auftraggeber - die nordirische DUP. Für diese Zeitungskampagne, die im gesamten Vereinigten Königreich geschaltet worden war, haben die politischen Erben des Hetzpredigers Reverend Ian Paisley 425.000 Pfund ausgegeben. Bei der regulären Wahl zum nordirischen Regionalparlament beliefen sich die Gesamtkosten der DUP zuletzt auf mickrige 50.000 Pfund. Das Geld für die extrem kostspielige Anzeige hatte die DUP von einer dubiosen politischen Vereinigung in Schottland namens Constitutional Research Council unter der Leitung eines Mannes namens Richard Cook erhalten. Wo Cooks Großzügigkeit gegenüber der DUP - laut Geoghegan "das eklatanteste Beispiel schmutzigen Geldes in der britischen Politik" - herrührte, weiß bis heute niemand. Die Untersuchung der Frage versandete im Dickicht der unüberschaubaren, undurchdringlichen britischen Gesetze hinsichtlich der Wahlkampfspende.

Vom letztgenannten Phänomen sowie von der verständlichen Abneigung der britischen Polizei, sich mit dem unappetitlichen Treiben der zahlreichen Hedgefondsmanager, Steueroasenbetreiber und sonstigen Finanzspekulanten der Londoner City und deren Überseedependencen Belize, Cayman Islands, Bermuda, Isle of Man, Guernsey et cetera allzu akribisch zu befassen, haben die Brexit-Befürworter ungemein profitiert. Wie sich später herausstellte, war es im Vorfeld der Abstimmung zu unzähligen Verstößen gegen geltendes Wahlkampfgesetz gekommen. Die wichtigsten Akteure werden in "Democracy for Sale" von Geoghegan benannt, der ihre dubiosen Aktivitäten beleuchtet. Diese Londoner Geldjongleure mit ihren Verbindungen zu den Industriesektoren Bergbau, Öl und Gas, Rüstung und Sicherheit/Söldnertum sind es, die maßgeblich den Brexit als Chance zur eigenen Bereicherung erkannt und erfolgreich durchgedrückt haben, so Geoghegan.

Die mächtigste Einzelorganisation auf seiten der Brexiteers, VoteLeave, geführt von Möchtegern-Machiavelli Dominic Cummings, hat aus der eigenen, übervollen Wahlkampfkasse reihenweise anderen EU-feindlichen Splittergrüppchen finanziell unter die Arme gegriffen und sie somit widerrechtlich instrumentalisiert. Doch diese Feststellung zeitigte später ebenso wenig Konsequenzen wie das gerichtliche Urteil 2019, dem zufolge VoteLeave mit Hilfe der Software-Firma Cambridge Analytica illegal die Facebook-Daten von Millionen britischer Bürger für politische Propagandazwecke mißbraucht hatte. Die Brexiteers fühlten sich so sicher - und waren es auch -, daß Cummings 2017 die Aufforderung zum Auftritt und zur Befragung vor einem entsprechenden Untersuchungsausschuß des britischen Unterhauses schlicht ignorierte. Dafür wurde er mit dem Posten des Chefberaters des Premierministers belohnt, als Johnson im Sommer 2019 britischer Regierungschef wurde.

Ähnlich Nigel Farage und dessen zwielichtigem Mäzen, dem Diamentenminenbesitzer Aaron Banks, pflegten Cummings und Konsorten freundschaftliche Beziehungen zu jenen Kräften, die im November 2016 dem New Yorker Mehrfachpleitier und Prahlhans Donald Trump zum Sieg bei der US-Präsidentenwahl verhalfen. Es entstand ein mächtiges Geflecht konservativer, industrienaher Denkfabriken wie Adam Smith Institute, Henry Jackson Society, Institute of Economic Affairs, Legatum und Policy Exchange in London und American Enterprise Institute, Cato Institute, Heritage Foundation und Hudson Foundation in Washington. Die Stichwortgeber und Financiers solcher Organisationen wie Steve Bannon und Robert Mercer propagieren ein "muskelspielendes Christentum" aus der Zeit Teddy Roosevelts und Winston Churchills, als Amerikaner und Briten gemeinsam die Welt mit den Vorzügen der "Zivilisation" des weißen Mannes beglückten, ob sie es wollte oder nicht. Gemeinsam sowie mit Hilfe Australiens, Neuseelands, Japans und Indiens wie auch mit den neuen Autoritären in Osteuropa wie Ungarns Viktor Orban und Polens Jaroslaw Kaczynski wollen die rechten angloamerikanischen Globalisten vor allem den aufstrebenden Erzrivalen China, aber auch Rußland und die von Frankreich und Deutschland geführte EU allesamt in die Schranken weisen. Sie wollen zudem den Sozialstaat auf den Müllhaufen der Geschichte werfen und dem guten alten Sozialdarwinismus erneut zur Geltung verhelfen.

Zu den Hauptverfechtern der "Anglosphäre" in all ihrer Herrlichkeit gehört bekanntlich der australo-amerikanische Medienmogul Rupert Murdoch, dessen Fernsehsender und Tageszeitungen wie Fox News, New York Post, Times of London und The Australian das politische Leben in den USA, Großbritannien und Australien seit mehr als 40 Jahren beeinflussen und dort den gesellschaftlichen Trend nach rechts vorantreiben. Einmal gefragt, warum er die EU so leidenschaftlich kritisiere und bekämpfe, erklärte der Mann, dem bereits während der Ära Margaret Thatchers das britische Satireblatt "Private Eye" den Spitznamen "The Dirty Digger" verpaßt hat, wie folgt: "Es ist ganz einfach. Wenn ich in London anrufe, tun sie das, was ich will. Aber wenn ich in Brüssel anrufe, tun sie nicht das, was ich will."

Peter Geoghegan weist in seinem Buch auf den schweren Schaden an der Demokratie hin, welchen die Make-America-Great-Again-Ideologen in den USA und die Brexiteers im Vereinigten Königreich mit ihren Täuschermethoden angerichtet haben - allen voran der immense Vertrauensverlust der Bürger beiderseits des Atlantiks, die inzwischen sämtliche Politiker für Blender und deren Argumente unabhängig ihres Realitätsgehalts für gleichwertig erachten. Die durch die Massenmedien forcierte Degradierung der öffentlichen politischen Debatte zu einer Schreiarena, wie man sie von den grellbunten Wrestling-Veranstaltungen der WWE kennt, macht die demokratische Entscheidungsfindung zu einer Farce und die Bedienung populistischer Atavismen wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zur Pflicht.

Die von Peter Geoghegan attestierten brandgefährlichen Konsequenzen der erstunkenen und erlogenen Versprechungen der hurrapatriotischen Brexiteers in Sachen Brexit sind dieser Tage in Nordirland zu beobachten. Dort bringen Nordirlandministerium und die DUP offen die loyalistischen Paramilitärs gegen die von London mit Brüssel vertraglich vereinbarten EU-Grenzkontrollen an den nordirischen Seehäfen in Stellung. Vor dem Hintergrund eines vom Brexit bedingten Einbruchs im britisch-europäischen Handel drohte im Februar der DUP-Abgeordnete und Hitzkopf Sammy Wilson wörtlich mit einem "Guerillakrieg" gegen das neue EU-Grenzreglement. Zu ersten menschengefährdenden Attacken von Brücken mit großen Steinen auf Lastwagen, die nachts auf dem Weg zum Verladeterminal im Hafen Larne in Wilsons eigenem Wahlkreis Mid-Antrim unterwegs waren, ist es bereits gekommen. Weitere blutige Eskalationen sind vorprogrammiert.

Nach einem Treffen mit dem Nordirland-Minister Brandon Lewis hat am 4. März das Loyalist Communities Council (LCC), Sprachrohr der illegalen terroristischen Vereinigungen Ulster Defence Association (UDA), Ulster Volunteer Force (UVF) und der Red Hand Commandos, sein Bekenntnis zum Karfreitagsabkommen, mit dem 1998 der Bürgerkrieg in Nordirland beigelegt worden war, zurückgezogen und den provokanten Schritt mit der angeblichen Benachteiligung der protestantischen Bevölkerung im britisch besetzten Teil Irlands durch die EU begründet. Genau eine Woche später hat Johnson-Vertrauter Rees-Mogg, der amtierende Führer im Unterhaus, offen jener Linie widersprochen, mit der London vor dreißig Jahren den "Friedensprozeß" auf der grünen Insel miteingeleitet hatte - nämlich die berühmte Erklärung des damaligen konservativen Nordirland-Ministers Peter Brooke von 1990, wonach Großbritannien in der Unruheprovinz "keine strategischen oder wirtschaftlichen Eigeninteresse" habe, folglich einzig die Menschen dort in voller Unabhängigkeit über die weitere Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich oder der Wiedervereinigung mit der Republik Irland entscheiden dürften. Großbritannien habe sehr wohl "Eigeninteressen" in Nordirland und zwar in dem Erhalt und der Verstärkung des Vereinigten Königreichs in seiner heutigen Form, so Rees-Mogg. Wie die USA unter der Leitung ihres neuen Präsidenten Joe Biden, die irische Republik und mit ihr die EU mit der unverhohlenen Drohung der Regierung Boris Johnsons umgehen, in Nordirland erneut einen Krieg niedriger Intensität vom Zaun zu brechen, muß sich noch zeigen.

17. März 2021


Peter Geoghegan
Democracy for Sale
Dark Money and Dirty Politics (EPUB)
Head of Zeus, London, 2020
Größe: 2,84 MB
ISBN: 978-1-789546026


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