Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/756: Richard Sakwa - The Putin Paradox (SB)


Richard Sakwa


The Putin Paradox



Der großangelegte Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine am 24. Februar hat im Westen mediale Schockwellen gigantischen Ausmaßes ausgelöst. Eine breite Öffentlichkeit, welche die seit 2015 nach UNICEF-Angaben größte humanitäre Krise der Welt im Jemen, wo Armee und Luftwaffe Saudi-Arabiens mit Waffen und logistischer Unterstützung Großbritanniens und der USA Millionen von Menschen in eine katastrophale Hungersnot gestürzt und bislang 400.000 getötet haben, erfolgreich ignoriert hatte, empörte sich plötzlich über das Vorgehen Russlands und solidarisierte sich - nachvollziehbarerweise angesichts der entsetzlichen Fernsehbilder - mit der leidenden Zivilbevölkerung der Ukraine.


Nahaufnahme von Putins Gesicht - Foto: Kremlin.ru, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, 2019
Foto: Kremlin.ru, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

In den Staats- und Konzernmedien Westeuropas und Nordamerikas wurde Wladimir Putin allein für den Ausbruch eines schrecklichen Krieges "mitten in Europa" verantwortlich gemacht. Als Motiv für die Erteilung des Befehls zur Militärintervention in die seit 2014 laufenden Kämpfe zwischen den ukrainischen Streitkräften und den pro-russischen Separatisten im Donezbecken wurden dem russischen Präsidenten Großmachtgelüste, geistige Umnachtung und pure Boshaftigkeit nachgesagt. Lindsey Graham, republikanischer Senator aus South Carolina mit enger Verbindung zur US-Rüstungsindustrie, der nachweislich Ende 2016 zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen, dem großen Kalten Krieger John McCain, in die Ukraine gereist war, um Kiews Militärführung zu einem offensiveren Vorgehen gegen die Rebellengebiete aufzustacheln und ihr Waffennachschub in großem Ausmaß sowie die volle Unterstützung des Kongresses in Washington zuzusichern, hat an diesem 3. März im amerikanischen Fernsehen offen die Liquidierung Putins gefordert und den "Tyrannenmord" als einzig gangbaren Ausweg aus der aktuellen geopolitischen Krise zwischen Russland und der NATO bezeichnet.

Die vor allem wegen der Gefahr des Ausbruchs eines Atomkriegs furchteinflößende aktuelle Situation in der Ukraine war vorhersehbar. Für die Politikinteressierten ist sie weder eine Überraschung, noch das Resultat der Überlegungen eines einzelnen Mannes im Kreml. Bereits 1996, als sich die Regierung Bill Clintons die NATO-Osterweiterung auf ihre Fahne schrieb, hat kein Geringerer als George Kennan mit schlagkräftigen Argumenten dringend davon abgeraten. Damals 92 Jahre alt, verurteilte der geistige Urheber der bewährten Containment-Strategie Washingtons gegenüber der Sowjetunion im Kalten Krieg, der in den dreißiger Jahren sowie den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs in der US-Botschaft in Moskau, zuletzt im Rang des Stellvertretenden Botschafters, gearbeitet hatte und als Russland-Koryphäe galt, in einem Gastbeitrag für die New York Times die anvisierte Ausweitung der NATO in östlicher Richtung als "strategischen Fehler epischen Ausmaßes".


Putin und Clinton unterhalten sich beim Spaziergang im Freien - Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Putin trifft US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000 auf Okinawa
Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Kennan warf Clinton, dessen Unterstützern im Kongress sowie State Department und Pentagon vor, die legitimen Sicherheitsinteressen des post-kommunistischen Russlands mit Füßen zu treten und die durch die vom Kreml initiierte friedliche Auflösung sowohl der Sowjetunion als auch des Warschauer Pakts entstandene Gelegenheit zur Schaffung einer dauerhaften gemeinsamen Sicherheitsarchitektur für Nordamerika und Europa mutwillig zu zerstören. Des weiteren sagte Kennan in seinen Ausführungen in der New York Times nicht nur zutreffend voraus, dass der NATO-Osterweiterungsprozess über kurz oder lang im Blutvergießen enden würde, sondern auch, dass sobald dies passiere, die Befürworter der missratenen Strategie den Russen die alleinige Schuld geben würden, "weil sie halt die Russen sind" (Angemerkt: 1996 arbeitete Wladimir Putin in der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg und hatte politisch nichts zu melden). Zustimmung zu seinem kritischen Standpunkt erhielt Kennan damals von mehreren namhaften amerikanischen Staatsmännern wie Henry Kissinger und Robert McNamara. Letzterer war unter John F. Kennedy und Lyndon Johnson als US-Verteidigungsminister jahrelang mit dem Vietnamkrieg befasst, was ihn später am Sinn solcher militärischen Unternehmungen zweifeln ließ.


Der große Kohl und der eher schmächtige Putin stehen einander lächelnd gegenüber - Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Putin trifft sich im Juni 2000 in Berlin mit Alt-Kanzler Helmut Kohl
Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

In einem langen und ausführlichen Interview, das jüngst am 1. März auf der Webseite der Zeitschrift New Yorker erschienen ist, hat ein weiterer bekannter Realist und Kritiker der NATO-Osterweiterung, John Mearsheimer, der außenpolitischen Elite in Washington und deren Hybris die Hauptschuld für die Ukraine-Krise gegeben. Mearsheimer, einer der angesehensten Experten für internationale Beziehungen in den USA, der seit Jahren Politikwissenschaft an der Universität von Chicago lehrt und zahlreiche Bücher veröffentlicht hat, legte sich mit der Aussage eindeutig fest, nach dem vom Westen herbeigeführten Putsch in Kiew im Februar 2014 und der als Reaktion darauf erfolgten Eingliederung der Krim samt dem Marinestützpunkt Sewastopol in die Russische Föderation hätten die NATO-Staaten Putin endgültig zum Buhmann erklärt, um den eigenen kapitalen Fehler, nämlich die durch nichts zu rechtfertigende Überschreitung der "roten Linie" Moskaus, nicht einsehen oder zugeben zu müssen.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine nähere Beschäftigung mit Putins Russland und der politischen Karriere jenes Mannes, der seit dem Jahr 2000 an der Spitze des flächenmäßig größten Staats dieser Erde steht und diesen wie kein Zweiter für die restliche Welt repräsentiert. Hierzu eignet sich hervorragend das 2020 erschienene Buch "The Putin Paradox" von Richard Sakwa. Der 1953 geborene Professor für russische und europäische Politik lehrt seit Jahren an der südenglischen Universität von Kent. Er ist Associate Fellow des Russia and Eurasia Programme am renommierten Londoner Royal Institute of International Affairs, auch Chatham House genannt, und sitzt zudem im Beirat des Institute of Law and Public Policy in Moskau. Sakwa hat eine ganze Reihe von Büchern über verschiedene Aspekte des Aufstiegs und Falls der Sowjetunion, über die Perestroika-Jahre Michail Gorbatschows, das chaotische Intermezzo Boris Jelzins, die Ära Putin sowie über das erbitterte Ringen zwischen Moskau und Washington um Einfluss und Kontrolle in der Ukraine geschrieben.


Putin und Lukaschenko sitzen einander am kleinen Kaffeetisch gegenüber - Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Putin trifft den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko im Mai 2000 im Kreml
Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Als Jelzin 1999 Putin zuerst zum Premierminister und 2000 zu seinem Nachfolger als Präsident machte, war der ehemalige KGB-Mann außerhalb Russlands praktisch unbekannt. In jener Phase hatte Russland durch den völkerrechtlich umstrittenen Überfall der NATO auf Jugoslawien und damit auf seinen traditionellen Verbündeten Serbien den Verlust der eigenen geopolitischen Bedeutung seit dem Ende des Kalten Kriegs schmerzhaft erfahren müssen. Nach jahrelanger Ausplünderung durch diverse Oligarchen und ihre westlichen Berater lag die russische Wirtschaft am Boden und die Arbeitslosigkeit bei 29 Prozent. Ein drastischer Geburtenrückgang sowie eine nie dagewesene Welle des Alkoholismus mit unzähligen Todesopfern hatten sogar die Frage der Zukunftsfähigkeit des russischen Staates aufkommen lassen. Wollte Russland weiter bestehen, musste jemand das Ruder herumreißen. Dies hat Putin getan.


Großer Bahnhof in London: Die Putins und die britische Staatsführung schön herausgeputzt - Foto: kremlin.ru, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Wladimir Putin gibt Prinz Philip die Hand; daneben seine Frau Lyudmila Putina, Tony Blair und Königin Elizabeth II. am 6. Juli 2005 im Buckingham Palace
Foto: Kremlin.ru, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Mit einem brutalen Krieg in Tschetschenien hat er als erstes die Zerfallserscheinungen im Kaukasus ausradiert. Eine großangelegte Militärreform in Richtung einer verschlankten Berufsarmee mit weniger alten Generälen und unerfahrenen Wehrdienstleistenden zusammen mit Investitionen in eine bessere Ausrüstung sollte den Streitkräften Russlands zur alten Potenz verhelfen. Doch dies konnte nur bei Gesundung der russischen Volkswirtschaft gelingen, weshalb Putin in seinem ersten Amtsjahr als Präsident den reichsten Oligarchen des Landes an einem riesigen runden Tisch im Kreml die Leviten las und ihre Unterordnung unter seinen Ukas zum Wohle des Staates verordnete.

Diejenigen Milliardäre, die sich Putin nicht beugen wollten, wurden öffentlich vom Sockel gestürzt. Boris Beresowski, der unter Jelzin zum politisch mächtigsten Wirtschaftsvertreter Russlands aufgestiegen war, musste 2003 vor einer Anklage wegen Geldwäsche und Korruption nach Großbritannien fliehen, wo er politisches Asyl erhielt. Im selben Jahr landete Russlands reichster Mann, Michail Chodorkowski, wegen Steuerhinterziehung hinter Gittern. Damals hieß es, die Anklage sei vorgeschoben; mit der Justizaktion habe Putin verhindern wollen, dass Chodorkowski das größte Ölunternehmen des Landes, Ukos, an die mit der Familie des damaligen US-Präsidenten George W. Bush verbandelte Private-Equity-Gesellschaft Carlyle verscherbelt. Nach zehn Jahren in Haft wurde Chodorkowski begnadigt und hat sich ebenfalls nach London abgesetzt.


Putin und Alexius II. geben einander feierlich die Hand - Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Putin bei der Weihnachtsmesse in der Christ-Erlöser-Kathedrale mit Patriarch Alexius II., dem damaligen Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, am 7. Januar 2000
Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Sakwa sieht Putin nicht als weiteren Zaren, der schlichtweg von Moskau aus mit harter Hand und im Einklang mit der Russisch-Orthodoxen Kirche sein Riesenreich verwaltet, sondern als modernen Managertypen, der geschickt die wichtigsten politischen Kräfte in Russland - den Sicherheitsapparat samt Militär, die Oligarchen, die Gruppe der "Eurasier" um Alexander Dugin und die prowestlichen Liberalen - austariert. Gleichwohl hat Putin vor mehr als 20 Jahren die Führung eines Landes übernommen, das im Unterschied zu den USA, Frankreich oder Großbritannien niemals eine bürgerliche Revolution erlebt hat und den überwiegenden Teil seiner Geschichte autoritär regiert worden war, sei es unter Iwan dem Schrecklichen, Peter dem Großen, Nikolaus II. oder Stalin. Die Russen, besonders wenn sie die politischen und wirtschaftlichen Wirren der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts durchlebt haben, schätzen vor allem die Stabilität. Die hat der vorsichtige Taktiker Putin ihnen beschert, dazu eine deutliche wirtschaftliche Erholung, von der alle, auch einfache Arbeiter, Beamte, Rentner und die Bewohner kleinerer Städte, profitiert haben. Diese vier gesellschaftlichen Gruppen nennt Sakwa Putins "Kernwählerschaft".


Putin und Medwedew scherzen sichtlich gut gelaunt miteinander - Foto: premier.gov.ru, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Wladimir Putin wird am 8. Mai 2008 durch die Staatsduma als russischer Premierminister bestätigt
Foto: premier.gov.ru, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Um Russland zu modernisieren, mussten rechtsstaatliche Sicherheiten und Standards Einzug halten. Das wusste Putin auch mit Blick auf ausländische Investoren. Deshalb ist es ihm und seinem Protegé, Dmitri Medwedew, der Putin aus verfassungsrechtlichen Gründen vier Jahre lang von 2008 bis 2012 als Präsident vertreten hat, während Putin selbst Premierminister wurde, gelungen, nicht nur Wissenschaft und Hochtechnologie zu fördern, sondern auch die organisierte Kriminalität in Russland zurückzudrängen. Gleichwohl kritisiert Sakwa Putin dafür, dass er immer wieder von der Willkür Gebrauch macht. Das ist für Sakwa ein Kernaspekt des Putinschen Paradoxes: der ständige Konflikt zwischen den Erfordernissen des "Verfassungsstaats" auf der einen und des "administrativen Regimes" auf der anderen Seite.

Nicht ein "diktatorisches Monster" sieht der Autor in Putin, sondern einen Politiker, der zwar Russland stets in Richtung eines Rechtsstaats bewegt hat, dies jedoch aus verschiedenen Gründen - persönlichen wie auch strukturellen - nur im Schritttempo schafft. Sakwa erläutert ausführlich die Politik- und Parteienlandschaft der russischen Föderation und die allmähliche Demokratisierung auch im Sinne von immer faireren Wahlen, die das Land in den beiden letzten Jahrzehnten vollzogen hat. In Sakwas Ausführungen werden die Stärken und Schwächen zahlreicher Akteure und Gruppierungen, von Alexei Nawalnys Russland der Zukunft über die liberale Jabloko-Partei und die Kommunisten bis hin zu verschiedenen unabhängigen Regionalgouverneuren, detailliert erläutert.

Doch vor allem stellt die Außenpolitik für Putin und somit auch in der vorliegenden Lektüre das wichtigste Aktionsfeld dar. Putin war von Anfang an entschlossen, den Anspruch Russlands als Großmacht, deren Stimme auf der Weltbühne Gewicht hat, wiederherzustellen und zur Geltung zu bringen, koste es, was es wolle. Daher sein Bemühen um enge Beziehungen zu den früheren Bruderstaaten der Sowjetunion vor allem in Zentralasien sowie um eine enge Partnerschaft mit der Volksrepublik China, unterstrichen durch die 2001 gegründete Shanghai Cooperation Organisation. Der SCO gehören als Mitgliedsstaaten Russland, China, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan, Indien und Pakistan an. Der Iran, der derzeit in der SCO wie die Mongolei Beobachterstatus genießt, hat bereits die volle Mitgliedschaft beantragt. Die SCO ist der vielleicht wichtigste institutionelle Keilriemen der von China vorangetriebenen Neuen Seidenstraße, von der Russland auch in Zukunft zu profitieren hofft.


Putin und Merkel sitzen nebeneinander auf dem Podium - Foto: The Kremlin, Moscow, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Putin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am 11. November 2018 beim Pariser Friedensforum
Foto: The Kremlin, Moscow, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Aber auch militärisch hat Putin Russland nach vorne gebracht. War die militärische Einmischung in Georgien zum Schutze von Abchasien und Südossetien 2008 erfolgreich, wenngleich keine Glanzleistung, so haben alle Sicherheitsexperten das Einschreiten Russlands ab 2015 in den syrischen Bürgerkrieg zusammen mit den Revolutionsgarden des Irans zugunsten der säkularen Baath-Regierung Baschar Al Assads in Damaskus hoch benotet. Ohne den Einsatz der russischen Luftwaffe und Bodentruppen hätten die moslemfundamentalistischen Kräfte um Gruppen wie Al Kaida, Islamischer Staat und Al Nusra damals Syrien wahrscheinlich erobert. Mit der militärischen Unterstützung Russlands - und des Irans - und dem enormen diplomatischen Druck Moskaus auf die Türkei konnte die Verwandlung Syriens in ein zweites Afghanistan noch rechtzeitig verhindert werden, selbst wenn die Dschihadisten weiterhin in der Grenzregion zum Irak ihr Unwesen treiben.

Den USA, wo Republikaner und Demokraten gleichermaßen seit Jahren einen mittels CIA-Umtrieben durchgeführten Sturz des Assad-"Regimes" herbeisehnen, kam die russische Einmischung in Syrien extrem ungelegen. Noch mehr geriet man 2018 in Washington in Rage, als Putin die neuen russischen "Wunderwaffen" - darunter Hyperschall-Raketen und neuartige, atomar bewaffnete Marschflugkörper - vorstellte, welche die schlagkräftige Antwort Moskaus auf das in Russland hoch umstrittene Raketenabwehrsystem der USA in Polen, Tschechien und Rumänien darstellten. Richard Sakwa äußert große Zweifel an der These, russische Desinformationen und Hacker-Angriffe hätten bei der US-Präsidentenwahl 2016 Donald Trump zum Sieg über Hillary Clinton verholfen. Wie die meisten Skeptiker hält er "Russiagate" für ein Verschwörungsnarrativ Washingtoner Insider und deren Freunden in den amerikanischen Leitmedien. Fest steht jedenfalls, dass sich Putin bei der besagten legendären Waffenschau auf Kosten Trumps einen Scherz erlaubte, als er in der Computeranimation eines russischen Raketenangriffs vom Süden her auf Florida den herrschaftlichen Sommersitz des New Yorker Immobilienhais namens Mar-a-Lago in die Luft jagen ließ.

Auch Richard Sakwa war sich, als er das Putin Paradox schrieb, der enormen Gefahren bewusst und listet sie sogar auf, die sowohl vom anhaltenden Konflikt zwischen der ukrainischen Armee und den pro-russischen Separatisten in Donezk und Luhansk als auch und vor allem von dem unablässigen Streben neokonservativer Kräfte in Washington danach, die Ukraine in die NATO zu integrieren - wenn nicht formell, dann zumindest de facto mittels Waffenlieferungen, gemeinsamen Ausbildungsprogrammen, Manövern et cetera - ausgingen. In der Außenpolitik Putins sieht Sakwa den "Konsens der russischen Elite" widergespiegelt. Das heißt mit anderen Worten, dass selbst mit einer Liquidierung Putins à la Lindsey Graham der Frieden zwischen Russland und dem Westen nicht wiederhergestellt und die Krise in der Ukraine noch lange nicht beigelegt wäre.


Putin legt den Kranz am Fuße des Minsker Obelisken nieder - Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Putin bei der Kranzniederlegung am Minsker Siegesplatz am 16. April 2000
Foto: Kremlin.ru, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

7. März 2022


Richard Sakwa
The Putin Paradox
I. B. Taurus, London, 2020
344 Seiten
ISBN: 978-1838601270
 
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang