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REZENSION/757: Konrad Lotter - Anatomie der Gegenwart (Marxismus) (SB)


Konrad Lotter


Anatomie der Gegenwart

Beschleunigung, Nachhaltigkeit, Utopie und Fortschritt aus dem Blickwinkel von Marx



Ärgerlich. Wirklich ärgerlich. Mit diesen Worten eine Rezension zu beginnen über ein Buch, das nach Angaben Konrad Lotters, wie seiner knappen Einleitung zu entnehmen ist, eine "etwas andere Einführung in die marxistische Theorie" bietet (S. 9), ist dem Umstand geschuldet, dass sich der Autor, promovierter Philosoph und Mit-Herausgeber einer Zeitschrift für Philosophie, Lehrbeauftragter an der Universität München und freier Journalist, mit klaren Stellungnahmen zu den hier vorgestellten Texten wie auch zu der Frage, welche politischen oder sonstigen Absichten er mit ihrer Veröffentlichung verfolgt, weitestgehend zurückhält. Das fängt mit dem Buchtitel "Anatomie der Gegenwart" nicht an und hört mit der "etwas anderen Einführung" in marxistische Theorie nicht auf, bleibt doch unklar, worin das "etwas Andere" bestehen soll und welche anderen Einführungen hier zum Vergleich herangezogen wurden.

Es handelt sich um eine eher unzusammenhängend wirkende Sammlung von Texten, deren kleinster gemeinsamer Nenner darin zu bestehen scheint, dass sie irgendwie und irgendetwas mit Marx zu tun haben, oder, so dies nicht der Fall ist, der Autor selbst einen solchen Zusammenhang herstellt. Zu vermuten steht, dass diesem Buchprojekt die Idee vorausging, Begriffe, Themen oder auch Theorieansätze aufzugreifen, die in den aktuellen Diskussionen und Disputen auf ein vergleichsweise großes Echo und Interesse stoßen, um von dort aus einen wie auch immer gearteten Bogen zu Marx respektive marxistischen Theorieansätzen zu schlagen.

In den insgesamt 12 Beiträgen, die in ihrer Länge, sprachlichen Gestaltung sowie ihrem fachlich-wissenschaftlichen Niveau zum Teil stark variieren, behandelt der Autor Themen wie die Schere zwischen Arm und Reich, Nachhaltigkeit, Zeit, Be- und Entschleunigung, Fortschritt und Dekadenz, Utopien der Anpassung, Meinungs- und Pressefreiheit, Wirtschaftskreisläufe und Privateigentum, Börse und Aktienhandel, aber auch Ideologie, Ideologiekritik und Positivismus und nicht zuletzt Luther als Nationalökonom. Ob auf diese Weise der Funken zu Marx und Marxismus überzuspringen vermag, steht allerdings zu bezweifeln, mangelt es doch schon an einer Sprache, die die Lesenden in ihrem Fühlen und Denken anzusprechen, ja, sie an der einen oder anderen Stelle tatsächlich "zu packen" versteht.

Doch hören wir uns an, wie der Autor selbst seine Einschätzung, dieses Buch sei eine "etwas andere Einführung in die marxistische Theorie", begründet:

Zum einen folgt die Darstellung nicht der Logik der Theorie, sondern der Logik der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren gegenwärtigen Konflikten. Sie behandelt die Polarisierung der Gesellschaft durch die wachsenden Unterschiede des Einkommens und des Eigentums; das Streben nach Nachhaltigkeit, das doch fortwährend durch das Diktat des ökonomischen Wachstums unterlaufen wird; den verbreiteten Missbrauch der Meinungs- und Pressefreiheit, die zum Freibrief zur Verbreitung manipulativer Falschmeldungen verkommen ist oder die Funktion der Börse, die das soziale Leben zunehmend dem Sog des Marktgeschehens und Wechsel der Konjunkturen ausliefert. Von daher der Titel des Buches Anatomie der Gegenwart. (S. 9) 

Welche Logik "die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre gegenwärtigen Konflikte" nach Ansicht des Autors haben, bleibt ebenso unklar wie die Frage, welchen Erkenntnisgewinn denn eine solche "Anatomie", was vom Wort her Zergliederung, Zerschneidung, Analyse bedeutet, der Gegenwart erbracht haben könnte. Als zweites Argument für seine "etwas andere Einführung" führt der Autor an, "dass zentrale Begriffe der Marxschen Theorie aus der Perspektive jeweiliger Gegen-Begriffe" (S. 9) erläutert werden. Auffällig ist, dass er auch hier klare Stellungnahmen vermissen läßt. So entsteht der Eindruck, als würde er die Inhalte seiner Texte von einem neutralen Beobachterposten aus begutachten und präsentieren und dabei Begriffe benennen, die für sich genommen wenig bis gar nichts aussagen, aber umso mehr Raum für Spekulationen, Mutmaßungen und Perspektiven eröffnen. Die genannten Beispiele - Gegensatzpaare wie Utopie und Dystopie, Beschleunigung und Entschleunigung - helfen da nicht weiter. Wie ein Begriff aus der Perspektive eines anderen überhaupt erläutert werden können soll, so als wären sie Leute, die im Ring gegeneinander antreten, ist kaum nachzuvollziehen.

Nehmen wir nur einmal das Wort "Zeit", dessen indogermanische Wortwurzel "teilen, zerschneiden, zerreißen" bedeutet. Der Zeit eine ökonomische Bedeutung zuzuweisen, ist ein Schritt, der erst einmal mitvollzogen werden muß, bevor über die in den Texten aufgestellten Aussagen und behaupteten Zusammenhänge zwischen Ökonomie, Zeit, Be- und Entschleunigung auch nur nachgedacht werden kann. Konrad Lotter geht in einem seiner Texte ("Zeit" und "Beschleunigung" in Marx' Kritik der politischen Ökonomie) unter Bezugnahme auf Marx davon aus, dass es "Funktionen der Zeit in der warenproduzierenden Gesellschaft" gäbe. So sei Zeit beispielsweise der Maßstab, an dem der Wert von Arbeitsprodukten gemessen werde. (S. 40)

Träfe dies zu, ließe sich der Wert einer Ware mit "vier Stunden" angeben, was eine Nullaussage wäre, mit der kein Mensch etwas anzufangen wüßte. Auch aus marxistischer Sicht dürfte diese Funktionsbestimmung umstritten sein. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Prof. Andrew Kliman beispielsweise schrieb dazu in seinem Buch "Die Rückgewinnung des Marxschen Kapital" [1]: "Marx vertritt die Auffassung, dass der Wert einer Ware bestimmt wird durch den durchschnittlichen Aufwand an Arbeit, der aktuell zu ihrer Produktion benötigt wird." Dass Konrad Lotter sich bemüht, dem Zeitbegriff fundamentale ökonomische Funktionen zuzuordnen, mag der Idee geschuldet sein, auf diese Weise eine Brücke zu schlagen zwischen marxistischer Werttheorie und der heutigen Debattenkultur rund um Zeit, Beschleunigung und Entschleunigung.

Der Begriff "Beschleunigung" wiederum bedeutet physikalisch eine Änderung des Bewegungszustands eines Körpers, umgangssprachlich schlicht eine Steigerung des Tempos; so oder so wirkt der Übertrag auf ökonomische Zusammenhänge auch hier konstruiert. Bei Lotter nimmt Beschleunigung einen hohen inhaltlichen Stellenwert ein, in einer Zwischenüberschrift spricht er von "Beschleunigung der Zirkulation durch Vermeidung zeitlicher Verzögerungen". (S. 44) Was aber dieses Wort bei einem so unkomplizierten Sachverhalt wie der Tatsache, marxistisch gesprochen, dass die Klasse des Kapitals aus den den Mehrwert schaffenden arbeitenden Menschen herauspresst, was herauszupressen geht, darüber hinaus an Aufklärung beizutragen vermag, bleibt eine offene Frage.

Lotter bringt dann auch noch den Gegenbegriff "Entschleunigung" ins Spiel. Bei der Frage, ob darin ein Weg zur Überwindung des Kapitalismus gesehen werden könne, nimmt er Bezug auf Marx, der keine prinzipielle Ablehnung der Beschleunigung vertreten, sondern im Kommunistischen Manifest ein Loblieb auf die "höchst revolutionäre", nämlich die Entwicklung beschleunigende Rolle des Bürgertums gesungen habe. (S. 58) Wie aus dieser von Marx und Engels vor rund 170 Jahren in einem nicht-ökonomischen Sinne verwendeten Formulierung ein inhaltlich-stringenter Zusammenhang herzustellen sei zu dem heute sozusagen in Mode gekommenen Beschleunigungsbegriff bzw. seinem Pendant Entschleunigung, ist eine Frage, die der Autor weder stellt noch problematisiert. Am Ende des Textes stellt er fest, dass Revolution "nicht Entschleunigung", sondern "Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln" (S. 60) bedeute - warum aber dann überhaupt der Exkurs zu Zeit, Beschleunigung und Entschleunigung?

In einem weiteren Text mit dem Titel "Unterschiedliche Perspektiven auf die Schere zwischen Arm und Reich" stellt Konrad Lotter zwei Autoren und deren Bücher vor, nämlich Thomas Piketty mit "Das Kapital im 21. Jahrhundert" sowie Oliver Nachtwey mit der "Abstiegsgesellschaft". Beide haben sich - Piketty als Ökonom, Nachtwey als Soziologe - mit unterschiedlichen wie auch übereinstimmenden Aussagen und Einschätzungen mit der (ungleichen) Vermögensverteilung und ihrer Entwicklung befaßt und plädieren bei der Frage nach Auswegen aus der Ungleichheit "gleichermaßen für eine Stärkung der Demokratie". (S. 19) Dass Piketty und Nachtwey die Schere zwischen Arm und Reich im Namen der Gerechtigkeit verurteilten, sei, so der Autor, "nicht besonders originell und unter Gesellschaftskritikern verbreitet". (S. 21)

Die beiden Werke haben in den zurückliegenden Jahren eine hohe Popularität erreicht, so dass angenommen werden kann, dass Lotter mit seiner kritischen Würdigung und der Kontrastierung ihrer Aussagen und Thesen eine marxistische Sichtweise gerade auch den Menschen deutlich machen möchte, die "Das Kapital im 21. Jahrhundert" und die "Abstiegsgesellschaft" mit großem Interesse gelesen haben. Die folgende Passage liest sich denn auch, nicht zuletzt wegen der klaren Stellungnahme, erfrischend:

Bejaht man die dem Kapitalismus zugrundeliegende Form der Gerechtigkeit, dann müsste man konsequenter Weise auch die Ungleichheit des Reichtums bejahen, die kausal damit verbunden ist, daraus hervorgeht und infolgedessen auch gerecht ist. Verneint man dagegen die Schere von Arm und Reich jedoch, dann müsste man auch den Mechanismus verneinen, der diese Schere erzeugt und fortwährend weiter öffnet.

Piketty und Nachtwey tun weder das eine noch das andere. Sie stellen weder das Privateigentum noch die (formale) Freiheit und Gleichheit, noch das Lohnsystem grundsätzlich in Frage. Damit akzeptieren sie die kapitalistische Gerechtigkeit als Voraussetzung. Gleichzeitig aber wollen sie die "schlechten", vielleicht gefährlichen Folgen dieser Voraussetzung vermeiden und verurteilen sie im Namen einer "höheren" Gerechtigkeit, vor der sie aber nicht sagen, woher sie kommt und worin sie besteht. (S. 22) 

Gehen wir fehl in der Annahme, dass der Autor mit dieser Textsammlung letzten Endes Werbung in marxistischer Sache machen möchte und dafür den etwas unüblichen Weg eingeschlagen hat, nicht-marxistische Standpunkte, Werke und Positionen aus marxistischer Sicht zu beleuchten und zu kritisieren?

Dies könnte auch auf den Begriff "Nachhaltigkeit" zutreffen, der seit geraumer Zeit gerade unter an sozialen wie Umweltfragen interessierten kritischen Menschen sozusagen "en vogue" ist. Ursprünglich ein forstwirtschaftliches Prinzip, demzufolge nicht mehr Holz gefällt werden dürfe, als jeweils nachwachsen könne, wurde Nachhaltigkeit im Zuge einer kaum noch in die Zukunft projizierbaren Klimakatastrophe, deren Auswirkungen den ohnehin bestehenden katastrophalen Mangel an Lebensvoraussetzungen für Mensch und Tier und die sogenannte Umwelt negativ potenzieren, aufgrund des ihm innewohnenden Lösungsversprechens, es käme schon alles wieder ins Lot, wenn nur vernünftig gewirtschaftet werde, immer attraktiver.

Kein Wunder, dass auch Lotter diesen Begriff aufgreift. Er komme bei Marx und Engels zwar nicht vor, doch das hieße nicht, dass sie "von dem, was er bezeichnet, nicht sehr genaue Vorstellungen gehabt hätten". (S. 23) Lotter führt eine Vielzahl weiterer Autoren an, die sich mit Marx' Ökologie und seinem Interesse an Agrartheorien befaßt haben und ist bemüht, den Nachhaltigkeitsbegriff aus Marx' Ausführungen herauszulesen oder auch hineinzudeuten. So schreibt er zum Thema "Nachhaltigkeit als geschlossener Kreislauf im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur":

Die Arbeit als Stoffwechsel wird von Marx als ein Vorgang begriffen, in dem der Mensch der Natur fortlaufend Stoffe, die er zum Leben benötigt, entzieht und ihr verbrauchte Stoffe, die er nicht mehr zum Leben benötigt, zurückerstattet. Es besteht somit ein Kreislauf, der geschlossen (ohne Rückstände) oder offen (mit Rückständen oder als Raubbau an der Natur) ausfallen kann. Nachhaltig wäre der Arbeits- oder Stoffwechselprozess, wenn zwischen der Entnahme und der Zurückerstattung ein Gleichgewicht besteht. Nicht nachhaltig wäre er, wenn eine "Störung zwischen Ausgabe und Einnahme" oder ein "fehlerhafter Kreislauf" vorliegt. (S. 26) 

Nach Auffassung des Autors werde in der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskussion im Gegensatz zu Marx wie selbstverständlich davon ausgegangen, "dass sich die überfälligen ökologischen Korrekturen innerhalb des bestehenden Systems bewerkstelligen lassen". (S. 37) Marx hingegen habe Zukunftsvorstellungen gehabt, in denen die produzierenden Menschen ihren Stoffwechsel mit der Natur "rationell regeln", wobei er sich auf einen "ökologischen Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur mit dem Ziel geschlossener Kreisläufe und dem Ideal der Nachhaltigkeit" bezogen habe. (S. 37)

Auch Lotter benutzt den Nachhaltigkeitsbegriff als Lösungsversprechen, womit er sich in großer Gesellschaft befindet nur mit dem Unterschied, dass er dessen Realisierbarkeit, die er keineswegs einer grundsätzlichen Kritik und Überprüfung unterzieht, an die Systemfrage bindet; freilich ohne zu klären, wie denn beispielsweise die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln den längst eingetretenen Klimakollaps verhindern können soll. Wenn jemand, der offenbar Interesse an Marx wecken will, nicht umhinkommt, dieselbe Lösungsperspektive feilzubieten wie Repräsentanten der (nicht-marxistischen) Ökologiebewegung, vermag dies die Zweifel daran nicht auszuräumen, ob der Marxismus den Anspruch, sich zu einer wirksamen Waffe gegen das für das aktuelle Desaster häufig verantwortlich gemachte kapitalistische System schmieden lassen zu können, wegen viel zu enger verwandtschaftlicher Beziehungen und inhaltlicher Übereinstimmungen zu erfüllen imstande ist.


[1] Andrew Kliman. Die Rückgewinnung des Marxschen "Kapital" - Eine Widerlegung des Mythos innerer Widersprüchlichkeit, Mangroven Verlag, Kassel, 2021 (S. 38). Siehe die Rezension im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Buch → Sachbuch
REZENSION/754: Andrew Kliman - Die Rückgewinnung des Marxschen Kapital (Marxismus) (SB)

4. April 2022

Konrad Lotter
Anatomie der Gegenwart
Beschleunigung, Nachhaltigkeit, Utopie und Fortschritt aus dem Blickwinkel von Marx
Mangroven Verlag, Kassel, 2021
191 Seiten
ISBN 9783946946229


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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