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REZENSION/762: Stefan Bollinger - Die Russen kommen! (SB)


Stefan Bollinger


Die Russen kommen!

Wie umgehen mit dem Ukraine-Krieg? Über deutsche Hysterie und deren Ursachen



Die Frage von Krieg oder Frieden in Europa ist seit langem untrennbar mit dem deutsch-russischen Verhältnis verwoben, wenn nicht gar maßgeblich von ihm bestimmt. Der Vernichtungsdrang des deutschen Faschismus hat das bislang blutigste Schlachten der Menschheitsgeschichte mit etwa 27 Millionen Opfern allein auf russischer Seite entfesselt. Die Büchse der Pandora abermals zu öffnen, indem der Endsieg auf die Tagesordnung gesetzt wird, nimmt den nuklearen Schlagabtausch und damit die Auslöschung Mitteleuropas, wenn nicht gar die Verwüstung des gesamten Planeten in Kauf. Sollte nicht die Ratio verbliebener Kapazitäten, Gefahren angemessen einzuschätzen, gerade aus deutscher Sicht allen Anlass geben, eine mögliche Eindämmung und rasche Beendigung des Krieges in der Ukraine ganz oben auf die Agenda zu setzen? Ein erster, aber richtungsweisender Schritt könnte darin bestehen, den heißgelaufenen Furor ausschließlicher Bezichtigung und Verteufelung der russischen Seite ebenso zurückzufahren wie umgekehrt deren rigorose Verteidigung und Rechtfertigung als bloßes Opfer eines westlichen Intrigenspiels. Da kriegstreibende Kräfte zwangsläufig darauf drängen, für sie allein Partei zu ergreifen, da man sich andernfalls auf die Seite des Feindes schlage, gilt es zu allererst zu unterstreichen, dass das nicht unser Krieg ist. Aus dieser Position erwächst nicht notgedrungen ein Rückzug in Ambivalenz oder Gleichgültigkeit, ließe sich doch erst auf dieser Grundlage eine sachgerechte Prüfung der beiderseitigen Interessen und somit der Genese dieses Krieges bewerkstelligen, woraus relevante Anhaltspunkte für dessen Beendigung abgeleitet werden könnten.

Als der damalige US-Präsident George W. Bush zu Beginn des Jahrtausends von "bösen Männern" sprach, die "Schurkenstaaten" diktatorisch anführten, missdeutete man dies hierzulande oftmals als naive Einlassungen eines frömmelnden Strohmanns im Weißen Haus, der die Agenda des Machtapparats höchst unbeholfen, wenn nicht gar lachhaft, unter die Leute zu bringen versuchte. Inzwischen ist uns das Lachen gründlich vergangen, wurde doch über eine Kette unablässiger Kriegszüge die aufs Einfachste heruntergebrochene Brachialstrategie gewaltsamen Beharrens auf eine unipolaren Weltordnung durchgesetzt. Wenn heute von "Putins Krieg" und den "Russen" die Rede ist, als sei damit aller Klärungsbedarf erschöpft, bedient diese auf eine vorgebliche Selbstevidenz eingedampfte Formel jene über die Jahre zugespitzte Entsorgung kritischen Geistes. Wie weggefegt mutet nun die so lange beklagte deutsche Kriegsmüdigkeit an, sind doch die Schleusen geöffnet, sich feuerschnaubend und säbelrasselnd unter dem heiligen Banner des Kreuzzugs zu euphorisieren.

Es ist nicht unser Krieg, wird er doch von Staaten geführt, die in erbitterter Konkurrenz ihren Machtkomplexen und Wirtschaftsweisen zur Durchsetzung zu verhelfen trachten. Wie sie zu angeblichen Friedenszeiten Herrschaft sichern, um den Raub an der Natur und die Ausbeutung der unterworfenen Menschen voranzutreiben, vernichten sie in der Eskalation des Krieges Menschenleben und Strukturen aller Art. Wenngleich es also durchaus geboten ist, dem Krieg Einhalt zu gebieten, endet damit doch nicht das unablässige Elend und Sterben, das die Klassengesellschaften in ihrem Innern und um so mehr weltweit exekutieren. Wer sich nun am russischen Angriff auf die Ukraine über die Maßen erzürnt, sollte zu den zahlreichen anderen Kriegen, die gegenwärtig geführt werden, ebenso wenig schweigen wie zu den mörderischen Folgen der vorherrschenden Wirtschaftsweise für Mensch und Natur. Und dies nicht etwa, um den Ukraine-Krieg zu relativieren, sondern um seinen größeren Zusammenhang zu erschließen und eine fundierte Gegenposition zu entwickeln.

Dies könnte womöglich sogar dazu führen, eben doch aus der Geschichte zu lernen, indem man sie nicht als zurückblickende Sammlung abgeschlossener Episoden auffasst, sondern vielmehr als fortwirkende Verlaufsform desselben unabgegoltenen und nicht entschiedenen Ringens zwischen Herrschenden und Beherrschten, Unterdrückern und sich erhebendem Widerstand. Nun hat bekanntlich der Aufruf an die Proletarier aller Länder, sich dem Ruf der Throne zur Schlacht zu verweigern, schon den Ersten Weltkrieg nicht verhindert. Den existentiellen Widerspruch nicht zwischen den Klassen, sondern zwischen den Nationalstaaten anzusiedeln, schwor die Menschen auf ihre Identität als Deutsche oder Russen, Franzosen oder Briten ein, die ihr Heil in der Niederwerfung des von Grund auf diskreditierten Erzfeindes sahen. Im Zweiten Weltkrieg brachen die deutschen Truppen gar zur vollständigen Auslöschung oder Versklavung der russischen Bevölkerung auf, sollten doch "Untermenschen" nicht länger den "Lebensraum" im Osten blockieren. So gilt es zu berücksichtigen, dass die Greuel von oben befohlen und gewaltsam durchgesetzt werden, jedoch auch der Beteiligung von unten bedürfen, wo im Dienst an der höheren Ordnung Massaker exekutiert und eigene Leben preisgegeben werden.

Dass der Mensch jederzeit bereit ist, sein Überleben zu Lasten der eigenen Art zu sichern, lässt sich als besonderes Merkmal unserer Spezies identifizieren. In Zeiten des Friedens und Sphären relativen Wohlstands fällt das insofern weniger auf, als Hunger und Elend in andere Regionen und insbesondere den Globalen Süden ausgelagert werden. So lässt sich der deutsche Lebensstandard, wenngleich er auch hierzulande nicht für alle gleichermaßen erreichbar ist, doch insgesamt auf völkische Tugenden zurückführen, indem man historische und gegenwärtige Herkünfte kolonialer Art ausblendet. Reicht aber die höhere Produktivität der hiesigen Volkswirtschaft in Krisenzeiten nicht mehr aus, um den Konsens konsumistischer Vorteile zu nähren, bedarf es enormer und weitreichender Schübe, um die hereinbrechenden Krisen in die Zukunft zu verschieben oder zumindest diese Perspektive überzeugend zu entwerfen.

Dass der Ukraine-Krieg nach wie vor die Schlagzeilen dominiert und Klimakatastrophe, Wirtschaftskrise oder Pandemie oftmals in den Hintergrund treten lässt, zeugt nicht zuletzt von der Bedeutung des Krieges als gewaltsamer Türöffner in einer höchst vertrackten Gemengelage. Die vorherrschende Wirtschaftsweise ist in mehrfacher Hinsicht derart an die Wand gefahren, dass angesichts sich auftürmender unbewältigter Problemkomplexe ein Durchbruch zu einer innovativen Form und Phase der Kapitalverwertung zur Durchsetzung drängt. Um die Blockade zu brechen, welche die Menschen in ihrem Beharren auf die bestehenden, zumindest noch immer bedingt erträglichen Lebensverhältnisse verkörpern, soll der grüne Kapitalismus als vorgebliche Versöhnung ökologischer, ökonomischer und sozialer Erfordernisse in Stellung gebracht werden. Was bislang eher ruckelnd und bremsend nicht recht vom Fleck kam, nimmt nun im Zeichen des Krieges plötzlich Fahrt auf. Es werden zahlreiche einschneidende Maßnahmen kurzerhand übers Knie gebrochen und mehr oder minder durchgewinkt, die vordem einen Sturm des Protestes auf den Plan gerufen hätten.

Dass die Grünen in diesem Zusammenhang als aggressivste Fraktion des politischen Spektrums in Erscheinung treten, zeugt davon, dass sie den besonders innovativen Teil des deutschen Kapitals vertreten. Sorgten sie schon im Jugoslawien-Krieg maßgeblich dafür, die Vorbehalte gegen den ersten offiziellen Waffengang der Bundeswehr auf fremdem Boden zu brechen, so treiben sie nun die Konfrontation mit Russland in vorderster Front voran. Von der Volte Josef Fischers, einen angeblich drohenden Holocaust auf dem Balkan mit militärischen Mitteln zu verhindern, über die nachfolgende Befürwortung der humanitären Intervention bis hin zur feministischen und wertebasierten Außenpolitik in der aktuellen Bundesregierung entfaltete sich die ideologische Rechtfertigung des "guten" Krieges der Grünen.

Hatte die rot-grüne Bundesregierung seinerzeit zugleich an der Heimatfront die folgenschwere Agendapolitik samt einer nicht minder fatalen Reform des Gesundheitswesens durchgesetzt, so bricht sie nun der grün-kapitalistischen Innovationsoffensive Bahn. Abermals geht es darum, die Bastionen des Widerstands gegen die geplanten Zumutungen und Kontrollregime zu schleifen. Woran konservative Kräfte mutmaßlich scheiterten, schiebt die sozial und ökologisch firmierende Modernisierungsriege dank ihrer Klientel bislang erfolgreich an. Wer hätte sich träumen lassen, dass die Verwerfungen einer Kriegswirtschaft noch einmal in Deutschland nicht etwa nur zähneknirschend hingenommen, sondern sogar als Akt der Humanität und Solidarität geadelt würden!

Fatale Geschichtsvergessenheit im Kampf um die Deutungsmacht

Der Politikwissenschaftler und Historiker Dr. Stefan Bollinger setzt sich in seinem aktuellen Buch "Die Russen kommen!" mit dem russischen Angriff auf die Ukraine auseinander und geht in diesem Zusammenhang insbesondere auf die deutsche Hysterie und deren Ursachen ein. Angesichts der Frage, wie mit diesem Krieg umzugehen sei, rät er den Deutschen, erst einmal "die Luft anzuhalten" und sich darauf einzulassen, in diesem Konflikt auch die andere Seite zu hören. Mittels einer schlaglichtartigen Auswahl maßgeblicher historischer Ereignisse stellt der Autor dar, wie das deutsch-russische Verhältnis seit mehr als hundert Jahren von erbitterten Kriegen und erstarrter Blockkonfrontation, aber auch Phasen des Tauwetters und Interessenausgleichs geprägt war. Wenngleich Deutschland und Russland/die Sowjetunion (mit Ausnahme der DDR) nie Verbündete waren, spreche doch angesichts dieser oftmals blutigen Geschichte alles dafür, die Eskalation zurückzufahren und eine Koexistenz anzustreben, welche die beiderseitigen Interessen respektiert.

Bollinger, der sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit unter anderem mit sowjetischer Innenpolitik, der DDR, Neuen Sozialen Bewegungen in der BRD und der Deutschen Wiedervereinigung befasst hat, ergreift in der gegenwärtigen Kontroverse, die von ideologischen Scheuklappen geprägt ist, keineswegs kritiklos Partei für eine Seite. So spart er nicht mit dem Vorwurf an Moskau, die jahrzehntelange mühevolle Arbeit zu zertrümmern, mit der insbesondere den Westdeutschen begreiflich gemacht worden war, dass die Osteuropäer Opfer eines Vernichtungskrieges und die sowjetischen Völker sowohl Opfer der deutschen Aggression als auch Sieger über den Faschismus waren. Die gegenwärtige russische Führung habe nicht vermocht, dies zu denken und für ihr aktuelles Handeln überzeugende Argumente in die Welt zu senden. Das propagandistische Sperrfeuer habe vielmehr die Ewiggestrigen und Kalten Kriegern beflügelt, ihre selbst in Jahrzehnten nicht überwundenen Vorurteile zu bestätigen. Das wiederum erlaube es ihnen, die Frage so primitiv zu stellen: In diesem Kampf gehe es ausschließlich darum, für oder gegen den Westen Partei zu ergreifen.

Der Autor plädiert demgegenüber dafür, das deutsch-russische Verhältnis in seiner Genese gründlich auszuleuchten, um Konfliktlinien und Kollisionen, aber auch Phasen der Annäherung und einander überschneidende Interessenkomplexe herauszuarbeiten. Absolute Unvereinbarkeit bis hin zur ausnahmslosen Bezichtigung und Dämonisierung zu postulieren, führe auf die Schiene einer Feindbildproduktion, die in der Konsequenz auf die Vernichtung des Gegners hinauslaufe und somit dessen Griff nach ultimativen Mitteln provoziere. Die Spirale eskalierender Waffengewalt nicht weiter anzuheizen, sondern im Gegenteil auszubremsen, erfordere eine Rückkehr zu nüchterner Vernunft und der unumgänglichen Bereitschaft, einen beiderseitigen Kompromiss auszuloten, um einer Verhandlungslösung den Boden zu bereiten.

Der bedeutende französische materialistische Historiker Marc Bloch, gefallen im Kampf der Résistance, kommt mit einer Aussage zu Wort, wie sie nicht nur für Geschichtsschreiber aktueller kaum sein könnte:

Angesichts der Gegenwart befinden wir uns immer ein wenig in der Situation jenes Chemikers, der ein Experiment protokollieren soll, dessen letzte Reaktion noch gar nicht stattgefunden hat. Trotz all dieser Schwierigkeiten - die ich keineswegs unterschätze - können wir nur durch eine Untersuchung der Vergangenheit zu einer Analyse der [gegenwärtigen] Gesellschaft gelangen. Ich muss Ihnen gestehen, dass es mir eigentlich für jeden denkenden Menschen, der auch nur ein bisschen in der Geschichte bewandert ist, geradezu peinlich scheint, welche Haltung manche unserer Zeitgenossen gegenüber aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen einnehmen. Man hat den Eindruck, sie urteilten - und schlimmer noch -, sie versuchten einzugreifen, ohne irgendetwas von der Sache zu verstehen.

(S. 14)

Bollinger setzt der zeitgenössischen Geschichtsvergessenheit, entspringe sie nun schierer Unkenntnis oder aber manipulierender Propaganda, einen ebenso kenntnis- wie aufschlussreichen Streifzug durch markante Etappen der deutsch-russischen Wechselfälle entgegen. Er schlägt einen weiten Bogen von Bismarcks europäischem Gleichgewicht über die mit dem russischen Bären in den Krieg getriebenen Sozialdemokraten bis hin zu des Kaisers Geheimdiplomatie, den Kriegsgegner durch die "Geheimwaffe" Lenin zu zersetzen, und dem Sowjetrussland in Brest-Litowsk 1918 aufgezwungenen Raubfrieden, der zugleich den jungen Sowjetstaat in den Rang eines weltpolitischen Akteurs erhob.

Bemerkenswert das Vertragswerk von Rapallo 1922, bei dem mit Deutschland und der Sowjetunion die beiden damaligen Parias des internationalen Mächtesystems zusammenfanden, um ihre staatliche, wirtschaftliche und verdeckte militärische Zusammenarbeit auf eine neue Ebene zu heben. Erstmals wurde das weitgehend geächtete Sowjetregime von einem westlich-kapitalistischen Staat anerkannt, und dieser Signalwirkung sollten rasch weitere Länder folgen. Die Reichsregierung machte damit jedoch eine Politik gegen die Interessen des Westens und erhebliche Teile der deutschen Bourgeoisie. Der Vorwurf einer angeblichen "Schaukelpolitik" im Umgang mit Moskau traf Jahre später auch die (west-)deutsche Ostpolitik unter Adenauer (der 1955 mit Moskau diplomatische Beziehungen aufnahm und Kriegsgefangene "heimholte"), Willy Brandt mit seiner Neuen Ostpolitik und dem Moskauer Vertrag 1970 und Kohl 1989/90, der mit Moskau Eckpunkte der Herstellung der deutschen Einheit aushandelte. Vorwürfe dieser Art erfuhren auch die Bundesregierungen unter Schröder oder Merkel, weil sie ein Auskommen mit Russland ebenso suchten wie preisgünstiges Erdgas und Öl.

Der Autor geht auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs ein, der für die Sowjetunion mit dem mörderischen deutschen Überfall 1941 begann. Er charakterisiert den Eroberungs- und Vernichtungskrieg als Jahrhundertereignis, welches das Verhältnis der beiden Staaten zutiefst geprägt hat. Es folgen wesentliche Etappen des Kalten Krieges, in dem es eine Sowjetunion mit zwei Deutschländern zu tun hatte, wobei auch der Umgang zwischen Moskau und Ostberlin differenziert dargestellt wird. Und schließlich fehlt es auch nicht an Belegen, welche die Eskalation hin zum Ukrainekrieg nachvollziehbar machen.

Am Vorabend dieses Krieges bekannte sich der in Rostock lehrende Historiker Stefan Creuzberger zu kritischer Offenheit gegenüber Moskau:

Die Entwicklung zwingt vielmehr dazu, sich bewusst auf die Frage des Verstehens einzulassen, ohne dies zwangsläufig mit Billigung gleichzusetzen. Um Moskaus gegenwärtiges Verhalten gegenüber der Bundesrepublik und dem Westen begreifbarer zu machen, sollten die Motivlage, die Antriebsmomente, Erfahrungen, Prägungen und Befindlichkeiten der Kremlführung, aber auch der russischen Bevölkerung ergründet werden, die nach dem immer noch als schmerzhaft empfundenen Verlust des einstigen Imperiums und des Supermacht-Status in der Politik Putins auch einen gerechten Ausgleich, eine willkommene Kompensation sieht.

(S. 18)

Am 24. Februar 2022 brach für nicht wenige Menschen, die an den Friedenswillen des Nachfolgestaates der Sowjetunion geglaubt hatten, eine Welt zusammen. Dass Russen kämpften und starben, schlimm genug, aber sie rissen ein unschuldiges Land und seine Bewohner in Not und Tod. Die entsprechenden Fernsehbilder und eine exzellent orchestrierte und mindestens genauso wirksame Propagandamaschine wie jene in Russland erzeugten kollektive Abscheu, Wut auf die Russen und den eigenen Irrglauben, dem man jahrzehntelang gefolgt war. Wie es nun hieß, sei Selbsttäuschung zwar kein Privileg der Linken, doch unter ihnen besonders ausgeprägt gewesen. Es war nicht zuletzt diese dammbrechende Bereitwilligkeit, der Russophobie bis hin zur bußfertigen Selbstgeißelung die Sporen zu geben, die dem Bundeskanzler das Parkett wienerte, seine beifallumtoste Wegmarke im Parlament abfeiern zu lassen:

Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen - aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.

(S. 20)

Wer wagte da noch einzuwenden, dass manches in dieser Wortwahl und der Zustimmung aus dem Hohen Haus fatal an jene denkwürdige Sitzung des Deutschen Reichstags im August 1914 erinnert, in der Kaiser und Kanzler keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kannten! Als Olaf Scholz überdies 100 Milliarden Euro als "Sondervermögen" für die Kriegskasse aus dem Hut zauberte, mochte keiner den Liebknecht geben und als vaterlandsloser Geselle allseitige Prügel einstecken.

Der Geschichtsrevisionismus unter rasant wachsender Einvernahme beträchtlicher Segmente der ohnehin geschrumpften Restlinken geht seit geraumer Zeit und auf systematische Weise daran, Vergangenheit umzuschreiben. Dass heute oftmals zwischen Hitler, Stalin und Putin Gleichheitszeichen gesetzt werden, ist Resultat eines Sogs in den antikommunistischen Mainstream, der sich anschickt, die bloße Vorstellung anderer gesellschaftlichen Verhältnisse als bedenkenswerten Gegenentwurf endgültig zu entsorgen. Wie der Autor anführt, wird die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs dahingehend umgedeutet, dass das Versagen westlicher Appeasementpolitik, wenn nicht gar ihr insgeheimer Zweck, den NS-Staat zum Krieg gegen die UdSSR zu ermuntern, hinter die sowjetische Flucht in die Verträge von 1939 zurücktritt, die allein am fatalen Zweckbündnis zur Abgrenzung von Interessensphären gemessen werden. Aufgewertet wird die westalliierte Landung in der Normandie am "D-Day", als sei die Hauptfront im Osten, an der die meisten deutschen Soldaten kämpften und die weitaus größten Verluste zu verzeichnen waren, von eher nachrangiger Bedeutung gewesen. So berechtigt der Holocaust hervorgehoben wird, sind doch die Bedingungen, Ziele und Dimensionen dieses imperialistischen Vernichtungskriegs damit noch nicht hinlänglich erfasst und drohen ausgeblendet zu werden. All dies und vieles mehr bereitete Zug um Zug den Boden für eine revisionistische Interpretation der deutsch-russischen Geschichte auf breiter Front, die nun selbst die Ostpolitik vorangegangener Bundesregierungen in Bausch und Bogen als Wegbereiter Putinscher Übergriffigkeit verdammt.

Der uralte Menschheitsentwurf, Mangel schaffen, um Herrschaft zu begründen und zu sichern, droht mit der nun proklamierten Kriegswirtschaft einen weiteren innovativen Schub zu erfahren. Der grüne Kapitalismus soll's richten, und wenn er auch die Klimakatastrophe nicht abwenden und das weltweit wachsende Elend verschärfen wird, füllt er doch befristet die Bäuche und Taschen seiner Protagonisten und Mitläufer, die zu diesem Zweck am fossilistischen Weltenbrand bis hin zum atomaren Inferno zündeln. Wenn Stefan Bollinger also dafür plädiert, zur Besinnung zu kommen und im aussichtslos anmutenden Kampf um die Deutungsmacht dennoch nicht zu weichen, ist dieser Absicht nur zuzustimmen.

8. August 2022

Stefan Bollinger
Die Russen kommen!
Wie umgehen mit dem Ukraine-Krieg?
Über deutsche Hysterie und deren Ursachen
Verlag am Park Berlin, 2022
240 Seiten
16,00 EUR
ISBN 978-3-89793-347-7


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 176 vom 13. August 2022


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