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AFRIKA/185: Ägypten vor den Parlamentswahlen 2010


Pressemitteilung vom 23. November 2010

Ägypten vor den Parlamentswahlen 2010


BERLIN, 23.11.2010 - Am 28. November 2010 finden in Ägypten Parlamentswahlen statt. Etwa 40 Millionen Ägypter sind aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. Die bevorstehende Parlamentswahl ist von Einschränkungen der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie Beschränkungen oppositioneller politischer Aktivitäten gekennzeichnet. Seit 30 Jahren gelten fast ununterbrochen Notstandsregelungen. Seit die oppositionelle Muslimbruderschaft am 9. Oktober ihre Teilnahme an den Wahlen bekannt gab, sollen nach ihren Angaben fast 600 Mitglieder und Anhänger verhaftet worden sein, von denen Mitte November noch etwa 250 inhaftiert waren. Ausgaben von Zeitungen wurden eingezogen und zerstört. Satelliten-Fernsehanstalten wurde die Lizenz zeitweise entzogen.

Zur Wahl treten neben der regierenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) Husni Mubaraks, die Wafd-Partei und die Muslimbruderschaft an. Letztere ist die größte Oppositionsbewegung in Ägypten. Ihre Mitglieder können jedoch nur als unabhängige Kandidaten bei Wahlen antreten, da die Bewegung seit 1954 verboten ist. Al-Ghad, die Partei des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Ayman Nour, die National Association for Change (NAC), eine Bewegung, die mit dem ehemaligen Chef der internationalen Atomenergiebehörde Mohammad ElBaradei verbunden ist und die National Democratic Front Party boykottieren die Wahl.

Die 2005 abgehaltene Parlamentswahl war von gravierenden Unregelmäßigkeiten und gewalttätigen Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Sicherheitskräfte feuerten Schüsse auf Menschenmengen ab, die versuchten, sich Zugang zu Wahllokalen zu verschaffen. Mindestens elf Menschen starben, viele weitere wurden verletzt. Zahlreiche Anhänger der Muslimbrüder wurden von der Polizei festgenommen oder von Regierungsanhängern tätlich angegriffen. Die Unzufriedenheit über die politische Lage drückte sich damals in einem breiten Bündnis aus, das unter dem Slogan Kefaya (Genug!) die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Freilassung aller politischen Gefangenen, eine unabhängige Justiz und die Gewährleistung der Pressefreiheit einforderte.


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HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Das ägyptische Parlament setzt sich aus zwei Kammern, dem Unter- und Oberhaus, zusammen. Das Unterhaus, die Volksversammlung, wird für fünf Jahre gewählt. 2009 wurde die Volksversammlung von ursprünglich 454 Sitzen auf 518 Sitze erweitert. Das Wahlsystem sieht vor, dass 508 Kandidaten gewählt und die zehn übrigen vom Präsidenten ernannt werden. Präsident Mubarak hat in der Vergangenheit die von ihm zu besetzenden Sitze an Frauen und Minderheiten vergeben. Derzeit sind acht Frauen im Parlament vertreten, von denen vier gewählt und vier ernannt wurden. In der jetzigen Volksversammlung entfallen auf die regierende NDP 311 Sitze, auf die Wafd-Partei sechs Sitze und 112 Sitze auf unabhängige Parlamentarier. Von diesen gingen 88 Sitze an Mitglieder der Muslimbruderschaft. Die restlichen 15 Sitze sind vakant oder entfallen auf sonstige Abgeordnete.

Wahlberechtigt sind alle Ägypter über 18 Jahre, die ihren Wohnsitz im Land und sich vorher registriert haben. Von der Wahl ausgeschlossen sind neben Militärangehörigen auch Gefangene. Nach Angaben der ägyptischen Menschenrechtsorganisation Egyptian Organization for Human Rights (EOHR) lag die Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen bei nur 25 Prozent.


ROLLE DES INNENMINISTERIUMS

Das Innenministerium spielt eine entscheidende Rolle bei der Durchführung von Wahlen in Ägypten. Potenzielle Kandidaten müssen sich beim Innenministerium in ihren jeweiligen Provinzen registrieren lassen. Das Ministerium registriert zudem die Wähler und erstellt die Wählerlisten für die Wahllokale. In der Praxis verwaltet somit das Innenministerium die Durchführung der Wahlen und ist weitgehend für die Sicherheit während des Wahlvorgangs verantwortlich. Im Rahmen vergangener Wahlen wurde häufig von Übergriffen in bzw. vor den Wahllokalen berichtet. Wähler wurden von Sicherheitskräften und Anhängern der regierenden NDP eingeschüchtert und drangsaliert, ohne das die Polizei eingriff.


EINSCHRÄNKUNG UNABHÄNGIGER WAHLBEOBACHTUNG

Eine besondere Rolle kommt der Justiz zu, die weitgehend als unabhängig angesehen wird und mit der Wahlbeobachtung betraut ist. In der Vergangenheit forderten Richter immer wieder eine umfassende Wahlbeobachtung von der Überwachung der Registrierung der Wähler bis hin zur Stimmenauszählung und nicht - wie in Ägypten praktiziert - nur die Kontrolle über die Abstimmung im Wahllokal. Bei den Parlamentswahlen 2005 beklagten Richter Wahlbetrug sowie eine Vielzahl von Zwischenfällen, in denen Wähler von Sicherheitskräften eingeschüchtert wurden. Die beiden Richter Mahmoud Meki und Hisham Bastawisi wurden festgenommen, nachdem sie Untersuchungen der Unregelmäßigkeiten bei diesen Wahlen gefordert hatten. 2007 wurden durch eine Gesetzesänderung die Rechte der Richter als Wahlbeobachter mit der Einführung einer Wahlkommission stark eingeschränkt.

Bei vergangenen Wahlen wurde offiziell registrierten, nicht-staatlichen ägyptischen Wahlbeobachtern der Zugang zu den Wahllokalen verweigert. Für die Ende November anstehenden Parlamentswahlen haben die ägyptischen Behörden keine internationalen Wahlbeobachter zugelassen.


RESTRIKTIVE ZULASSUNG VON PARTEIEN UND KANDITATEN

In Ägypten gilt seit fast 30 Jahren ununterbrochen der Ausnahmezustand. Die damit verbundenen Notstandsregelungen machen sich die Behörden zunutze, um die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit weitgehend zu kontrollieren und einzuschränken. Nach Angaben der EOHR lehnte das Komitee zur Registrierung politischer Parteien im Zeitraum von 1977-2004 63 Anträge ab und erteilte lediglich drei Parteien die offizielle Zulassung. Medienberichten zufolge wurde zahlreichen Mitgliedern der Muslimbrüder die Registrierung zu der anstehenden Parlamentswahl verweigert.


FESTNAHMEN IM VORFELD DER WAHLEN

Unter Rückgriff auf Bestimmungen der Notstandsgesetzgebung wurden in den letzten Jahren im Vorfeld von Wahlen immer wieder Mitglieder und Unterstützer oppositioneller Parteien und Bewegungen verhaftet. Bereits im April und Mai dieses Jahres gingen die Behörden vor den Wahlen zum Shura-Rat (Oberhaus) repressiv gegen Regierungskritiker und Oppositionelle vor. Seit Anfang des Jahres stieg die Zahl der Festnahmen von politischen Aktivisten, die Reformen fordern, sprunghaft an.

Insbesondere Mitglieder und Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft sind Schikanen und Verhaftungen ausgesetzt. In den vergangenen Jahren waren die Muslimbrüder während und nach lokalen und nationalen Wahlen mehrfach von Verhaftungswellen betroffen. Nach Angaben von Rechtsanwälten, die inhaftierte Muslimbrüder vertreten, gab es im Jahr 2009 mehr Festnahmen von Mitgliedern der Bewegung als in jedem anderen Jahr seit den Parlamentswahlen von 2005: Insgesamt seien 5022 Mitglieder der Muslimbruderschaft festgenommen, 3101 von ihnen unter Rückgriff auf die Notstandsgesetzgebung inhaftiert worden. Staatliche Repressionen und Festnahmen scheinen mit dem Näherrücken des Wahltermins zuzunehmen. So wurden Ende Oktober mindestens 75 Unterstützer der Muslimbrüder in Alexandria festgenommen. Sie sollen Medienberichten zufolge Wahlkampfplakate für einen den Muslimbrüdern nahestehenden unabhängigen Kandidaten aufgehängt haben.

Neben den Muslimbrüdern sind auch Unterstützer anderer oppositioneller Parteien und Bewegungen das Ziel von Festnahmen; so u.a. die NAC, die politische Reformen und eine Verfassungsänderung fordert. So wurde am 1. September ein friedlicher Marsch, der von der Rechtsanwaltsvereinigung zur Unterstützung der NAC geplant war, nicht genehmigt. Drei Unterstützer der NAC wurden kurzzeitig von den Sicherheitskräften festgenommen.

Aktivisten der Jugendbewegung 6. April sind ebenfalls Opfer von Drangsalierung und Festnahmen. Diese Bewegung entstand im Jahr 2008 als Internet-Netzwerk auf Facebook, um streikende Arbeiter in der Stadt al-Mahalla al-Kubra zu unterstützen. Mittlerweile hat sich die Gruppe zu einer großen Jugendbewegung entwickelt, die das Ende des Ausnahmezustands und die Einhaltung der Menschenrechte fordert. Ende Oktober wurden vier Mitglieder der Bewegung 6. April festgenommen. Ihnen wurde zur Last gelegt "eine nicht genehmigte öffentliche Zusammenkunft" abgehalten und "zum Wahlboykott aufgerufen" zu haben. Die vier Aktivisten wurden gegen Kaution vorläufig aus der Haft entlassen.


UNTERDRÜCKUNG UNABHÄNGIGER STIMMEN

Das Recht auf Meinungsfreiheit und die Arbeit der Medien sind weitgehend eingeschränkt. Regierungskritische Journalisten, Blogger und Menschenrechtsverteidiger werden schikaniert, mit Verhaftung bedroht und wegen Verleumdung strafrechtlich verfolgt. Hamdi Kandil, ein bekannter Journalist und Sprecher der NAC, muss sich wegen eines Artikels vom Mai 2010, in dem er den Außenminister kritisierte, vor Gericht verantworten.

In den letzten Wochen wurde die Pressefreiheit erneut stark eingeschränkt und der Zugang zu Informationen erschwert. Einige private Fernsehanstalten wurden geschlossen. Die nationale Telekommunikationsbehörde verschärfte die Vorschriften hinsichtlich der Versendung von Textnachrichten, was als Behinderung der Wahlkampf- und Informationskampagnen oppositioneller Parteien und Bewegungen verstanden wird. Grundsätzlich unterliegen Medien in Ägypten der staatlichen Einflussnahme.


EXZESSIVE GEWALT GEGEN DEMONSTRANTEN

Im Verlauf des Jahres 2010 wiederholte sich das bekannte Muster der Menschenrechtsverletzungen gegen diejenigen, die ihre Kritik an der Regierung und ihre Forderung nach Lösung der sozialen Missstände durch öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen zum Ausdruck bringen. Wie auch in den Vorjahren gehen die Sicherheitskräfte willkürlich und mit Gewalt gegen Demonstrationen von oppositionellen Bewegungen wie der NAC, der Bewegung 6. April sowie der Bewegung für Wandel Kefaya vor.

Bereits im Wahljahr 2005 waren friedliche Demonstrationen für politische Reformen von den Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst worden. Wiederholt ging die Polizei mit exzessiver Gewalt gegen Demonstranten vor, die Kritik an der Politik der Regierung übten. Auch in den folgenden Jahren wurden Wahlen immer wieder von Demonstrationen und ihrer gewalttätigen Auflösung durch Sicherheitskräfte begleitet.

Im April 2010 gingen die Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken gewaltsam gegen friedliche Demonstranten in Kairo vor, die eine Aufhebung des Ausnahmezustandes und politische Reformen forderten. Mehr als 90 Demonstranten wurden verhaftet und mehrere verletzt. Im September wurden Dutzende Demonstranten, die an Protesten in Kairo, Alexandria und Port Said teilgenommen hatten, von den Sicherheitskräften festgenommen. Zu diesen Demonstrationen, die sich gegen eine mögliche Präsidentschaftsnachfolge durch den Sohn des amtierenden Präsidenten richteten, hatten u.a. die Bewegung 6. April und Kefaya aufgerufen.

Folterungen und andere Misshandlungen kommen in Polizeiwachen, Gefängnissen und Haftzentren des Geheimdienstes systematisch zur Anwendung. Die Verantwortlichen bleiben dabei oftmals straffrei. Lediglich in den seltenen Fällen, in denen über Folter und exzessive Gewaltanwendung Berichte, Videos, Fotos oder andere Beweise in der Öffentlichkeit zirkulieren, werden Untersuchungen eingeleitet. In vielen Fällen werden die mutmaßlichen Täter nicht vom Dienst suspendiert. Im Jahr 2009 starben mindestens vier Menschen im Gewahrsam, offenbar in Folge von Folterungen und anderen Misshandlungen.


AUSBLICK

Das Ergebnis der Parlamentswahlen wird entscheidenden Einfluss auf die im nächsten Jahr stattfindenden Präsidentschaftswahlen haben. Denn Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen müssen von einer Partei nominiert werden, die seit mindestens fünf Jahren existiert und die mindestens fünf Prozent der Sitze sowohl in der Volksversammlung als auch im Shura-Rat hat. Alternativ dazu müssen parteiunabhängige Präsidentschaftskandidaten die Unterstützung von mindestens 250 gewählten Regierungsvertretern haben, von denen mindestens 65 Mitglieder der Volksversammlung, 25 Mitglieder des Shura-Rates und zehn Mitglieder kommunaler Räte in mindestens 14 verschiedenen Provinzen sein müssen. Angesichts der Dominanz der Mitglieder der regierenden NDP in den genannten gewählten Gremien erscheint eine Kandidatur durch unabhängige Persönlichkeiten sehr unwahrscheinlich.

Amnesty International fordert die ägyptische Regierung auf, weitere Menschenrechtsverletzungen wie sie in den vergangenen Jahren an der Tagesordnung waren, zu verhindern; sowohl bei den anstehenden Parlamentswahlen als auch bei den für Herbst 2011 geplanten Präsidentschaftswahlen. Die ägyptische Regierung muss die Einhaltung der Menschenrechte für alle Ägypter sicherstellen. Sie muss Forderungen nach politischen Reformen nachkommen, insbesondere der Forderung nach der Aufhebung des Ausnahmezustands und der Forderung nach dem Ende der Straffreiheit für schwere Menschenrechtsverletzungen.


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AMNESTY INTERNATIONAL ist eine von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Menschenrechtsorganisation. Amnesty kämpft seit 1961 mit Aktionen, Appellbriefen und Dokumentationen für die Opfer von Menschenrechts- verletzungen auf der ganzen Welt. Die Organisation hat weltweit 2,8 Millionen Unterstützer. 1977 erhielt Amnesty den Friedensnobelpreis.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 23. November 2010
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2010