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AKTION/447: Schreibkräfte gegen Streitkräfte (ai journal)


amnesty journal 02/03/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

Schreibkräfte gegen Streitkräfte

Seit 1973 setzt sich Amnesty mit den Urgent Actions weltweit für von Folter und Misshandlung bedrohte Menschen ein - und macht damit öffentlich Druck auf Regierungschefs, Militärs und Sicherheitsbehörden, die die Menschenrechte verletzen.

Von Daniel Kreuz


Am Ende ging Christiane Tichy dann doch fast die Spucke aus. 40 Briefe hatte sie mit Freundinnen und Freunden geschrieben und auf jeden einzelnen eine Briefmarke geklebt, kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres. Ihre Briefe waren jedoch keine Grußkarten für die Familie oder Bekannte, sondern adressiert an Regierungen und Sicherheitskräfte in Japan, Eritrea und der Republik Moldau. Was diese Personen gemeinsam hatten: sie verletzten die Menschenrechte. Und eben deshalb bekamen sie Post von Christiane Tichy. Die 55-jährige Hamburgerin ist seit den siebziger Jahren für Amnesty International aktiv, und genauso lange nimmt sie schon an den Urgent Actions teil - den Eilaktionen von Amnesty für akut bedrohte Menschen. Wenn die Organisation von willkürlichen Festnahmen, Morddrohungen, "Verschwindenlassen", Folterungen oder bevorstehenden Hinrichtungen erfährt, startet sie eine Eilaktion.

Binnen weniger Stunden tritt ein Netzwerk von fast 80.000 Menschen in 85 Ländern in Aktion, allein in Deutschland sind 10.000 Menschen beteiligt. Sie appellieren mit Telefaxen, E-Mails und Luftpostbriefen an die Behörden der Staaten, in denen Menschenrechte verletzt werden. Bei den Adressaten gehen Tausende von Appellschreiben aus aller Welt ein. Es ist dieser rasche und massive Protest, der immer wieder Menschenleben rettet.

Schließlich sind auch Diktaturen und Regime empfänglich für internationalen Druck. Sie sorgen sich zwar nicht um den Schutz der Menschenrechte, aber umso mehr um ihr Ansehen im Ausland. Genau darum wird auch Christiane Tichy immer wieder als Schreibkraft für Amnesty aktiv: "Die Eilaktionen machen die Verantwortlichen darauf aufmerksam, dass sie von der internationalen Öffentlichkeit beobachtet und kontrolliert werden - und genau das scheuen sie." Dieses schnelle internationale Engagement einer Vielzahl von Freiwilligen ist heute eines der wirksamsten Instrumente, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Die erste Urgent Action startete Amnesty im Frühjahr 1973 für den Universitätsprofessor Luiz Rossi aus Brasilien, das damals von einer Militärjunta regiert wurde. Wiederholt erreichten die Londoner Amnesty-Zentrale Berichte über brutale Folter, Ermordung und das "Verschwindenlassen" von Oppositionellen durch Militärs und die Geheimpolizei DOPS. Am Abend des 15. Februar 1973 stürmen Militärpolizisten Rossis Haus in São Paulo, beschlagnahmen Bücher und Dokumente und nehmen ihn fest. Sein "Verbrechen": Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens. In der Haft wird Rossi immer wieder geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert. Seine Ehefrau Maria José Rossi und seine drei Töchter stehen unter Hausarrest. In ihrer Verzweiflung wirft seine Frau einen Zettel aus dem Fenster, der zufällig von der siebenjährigen Nachbarstochter gefunden wird. Über einen Anwalt und einen Bischof erreicht die Nachricht schließlich Amnesty in London.

Am 19. März 1973 ruft die Organisation Aktivisten in vielen Ländern auf, in Briefen an den brasilianischen Präsidenten Medici und seinen Justizminister die Freilassung Rossis zu fordern. Zwei Wochen später wird Maria José Rossi ins Hauptquartier der Geheimpolizei DOPS einbestellt, um die Leiche ihres Mannes zu identifizieren. Doch bei ihrer Ankunft sieht sie, dass ihr Mann lebt. Die Beamten zeigen ihr Stapel von Briefen von Amnesty-Unterstützern. Der Direktor des DOPS ist erstaunt: "Ihr Mann muss wichtiger sein als wir geglaubt haben, sonst hätten wir nicht alle diese Briefe aus der ganzen Welt erhalten." Luiz Rossi wird daraufhin nicht mehr gefoltert und am 24. Oktober 1973 freigelassen. Schon 1974 startet Amnesty elf weitere Eilaktionen zugunsten von Folteropfern in Mexiko, Chile, Brasilien, Uruguay und Spanien. Bis heute hat diese Aktionsform Tausenden von Menschen das Leben gerettet - von China bis Chile, von Syrien bis Simbabwe.

Maria José Rossi ist sich sicher, dass dies auch auf ihren Mann zutrifft: "Ich hatte den Eindruck, dass der Direktor des DOPS und die Behörden unter großem Druck standen. Sie mussten zeigen, dass Luiz noch lebte, weil er soviel Aufmerksamkeit bekam." Dass sich Menschen außerhalb Brasiliens für sie einsetzten, ermutigte die Rossis: "Das gab uns Trost und Hoffnung." Und auch darum geht es bei den Urgent Actions: Nicht nur die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern sich auch mit den Gefangenen solidarisch zu zeigen, wie die Hamburgerin Christiane Tichy erklärt: "Wir zeigen ihnen, dass sie nicht allein sind." Dies gab auch Luiz Rossi während seiner Haft neue Kraft: "Meine Peiniger wollten mich brechen und isolieren, alle Verbindungen zur Außenwelt kappen. Doch die Urgent Action von Amnesty hat diese Isolation durchbrochen."


Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.


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URGENT ACTIONS

Urgent Actions sind die denkbar schnellste Form der Intervention, um akut bedrohten Menschen das Leben zu retten. Allein 2008 startete Amnesty International 350 neue Eilaktionen - etwa 35 Prozent davon zogen positive Meldungen nach sich: Freilassungen, Hafterleichterungen, die Aufhebung von Todesurteilen oder auch Anklagen gegen die Verantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen. An den Eilaktionen kann sich jeder beteiligen, auch wenn er nicht Mitglied bei Amnesty International ist. Aktuelle Urgent Actions sind zu finden unter
www.amnesty.de/urgent-actions


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Quelle:
amnesty journal, Februar/März 2009, S. 81
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2009