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ASIEN/305: Pakistan - Blasphemiegesetze verletzen Menschenrechte


Amnesty International - 21. Dezember 2016

Pakistan: Blasphemiegesetze verletzen Menschenrechte


21. Dezember 2016 - In Pakistan werden Blasphemiegesetze häufig instrumentalisiert, um falsche Anschuldigungen gegen religiöse Minderheiten und andere Personen zu erheben. Oft werden die Beschuldigten bedroht oder sogar in einem Akt der Selbstjustiz getötet. Dies dokumentiert ein neuer Amnesty-Bericht.

"Es liegen erdrückende Beweise dafür vor, dass die pakistanischen Blasphemiegesetze gegen die Menschenrechte verstoßen und Zivilpersonen dazu ermutigen, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Sobald Anschuldigungen erhoben werden, finden sich die Betroffenen in einem System wieder, das ihnen nur wenige Schutzgarantien bietet, ihre Unschuld nicht voraussetzt und sie nicht vor Gewalt schützt", so Audrey Gaughran, Leiterin der Abteilung Globale Themen von Amnesty International.

Der neue Amnesty-Bericht "'As good as dead': The impact of the blasphemy laws in Pakistan" zeigt auf, dass Personen, denen in Pakistan Blasphemie vorgeworfen wird, ihre Unschuld nur unter größten Schwierigkeiten beweisen können. Selbst wenn sie freigesprochen und - in aller Regel nach langen Verzögerungen - aus dem Gewahrsam entlassen werden, befinden sich die Betroffenen unter Umständen weiterhin in Lebensgefahr.

Sobald eine Person der Blasphemie beschuldigt wird, kann sie von der Polizei ohne Überprüfung der Fakten festgenommen werden. Angesichts aufgebrachter Menschenmengen, darunter auch Geistliche und deren Unterstützerinnen und Unterstützern, übergibt die Polizei die Fälle oft ohne Prüfung der Beweislage an die Staatsanwaltschaft. Sobald Anklage erhoben wurde, kann den Betroffenen die Freilassung gegen Kaution verweigert werden, und ihnen drohen lange und unfaire Gerichtsverfahren.

Häufig wird den Betroffenen Gewalt angedroht, weil sich bestimmte Gruppen oder Einzelpersonen berechtigt fühlen, Selbstjustiz zu üben und die Beschuldigten und/oder andere ihnen nahestehende Personen wie Rechtsbeistände, Familienangehörige und Gemeindemitglieder zu bedrohen oder zu töten.

Aus dem Bericht geht zudem hervor, dass auch Personen wie Rechtsbeistände, Polizistinnen und Polizisten, Staatsanwältinnen und -anwälte und Richterinnen und Richter sowie andere Bedienstete des Strafjustizsystems in einem Klima der Angst operieren, was sie daran hindert, ihre Arbeit wirksam, unparteiisch und angstfrei zu erledigen.

Der Bericht zeigt deutlich, dass die pakistanischen Blasphemiegesetze oft missbraucht werden und Menschenrechtsverstößen Vorschub leisten. Sie verstoßen gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Pakistans zur Achtung und zum Schutz von Menschenrechten wie dem Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Amnesty International fordert die Aufhebung dieser Gesetze und erwartet, dass alle neu eingeführten Gesetze in vollem Umfang mit dem Völkerrecht und internationalen Normen konform gehen.

In dem Bericht wird dokumentiert, wie diese Gesetze gegen die schutzbedürftigsten Gruppen der Gesellschaft eingesetzt werden, so zum Beispiel gegen in Armut lebende Menschen und Kinder sowie gegen Personen mit geistigen Beeinträchtigungen und Angehörige religiöser Minderheiten.

Laut einer Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs Pakistans "basieren die meisten Blasphemiefälle auf falschen Anschuldigungen" und werden aus niederen Beweggründen zur Anzeige gebracht. Solche Beweggründe werden von den Behörden nur selten untersucht. Bei ihnen handelt es sich wahlweise um berufliche Rivalitäten, persönliche Auseinandersetzungen, religiöse Streitigkeiten oder die Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile.

"Die in dem Bericht beschriebenen Fälle zeigen eindrucksvoll auf, dass die vage formulierten Gesetze unzulängliche Schutzmechanismen bieten und leicht instrumentalisiert werden können. (...) Der Amnesty-Bericht enthält eine Reihe von Empfehlungen an die Behörden. Sie sollten diese Gesetze aufheben und umgehend Schutzgarantien einführen, um fragwürdige strafrechtliche Verfahren zu verhindern", so Audrey Gaughran.

Mädchen mit Lernbehinderung fälschlich beschuldigt

Rimsha Masih, ein Mädchen christlichen Glaubens mit Lernbehinderung, war 14 Jahre alt, als sie von einem örtlichen Geistlichen der Blasphemie beschuldigt wurde, weil sie Seiten aus dem Koran verbrannt haben soll.

Sie wurde daraufhin trotz ihrer Minderjährigkeit und ihrer Lernbehinderung festgenommen und angeklagt.

Nach einem dreimonatigen, von den Medien intensiv begleiteten Verfahren hob das Hohe Gericht von Islamabad die Anklage auf und urteilte, dass die Anschuldigungen gegen Rimsha Masih haltlos seien und eine weitere Strafverfolgung zur Instrumentalisierung der Gerichte führen würde.

Rimsha Masih floh mit ihrer Familie nach Kanada, wo ihnen Asyl gewährt wurde.

Anwalt bedroht und getötet

Rashid Rehman war ein bekannter Menschenrechtsanwalt und einer der wenigen, die den Mut besaßen, Menschen in Blasphemiefällen vor Gericht zu vertreten.

Am 8. Mai 2014 wurde Rashid Rehman in seinem Büro von zwei Unbekannten erschossen. Tags darauf wurden vor verschiedenen Anwaltskanzleien in der Großstadt Multan in der Provinz Punjab Flugzettel gefunden, auf denen stand, dass Rashid Rehman getötet wurde, weil er versucht habe, "einen Gotteslästerer zu retten".

Nur einen Monat vor dem Mord an Rashid Rehman war er öffentlich vor Gericht bedroht worden. Vor zahlreichen Augenzeuginnen und -zeugen drohte man ihm: "Beim nächsten Termin wirst du nicht vor Gericht erscheinen, weil du dann nicht mehr existierst." Die Personen, die ihm im Gerichtssaal gedroht hatten, wurden bei der Untersuchung seiner Tötung nicht von der Polizei vernommen.

Rashid Rehman hatte die Verteidigung von Personen, denen Blasphemie vorgeworfen wurde, ein "Spiel mit dem Tod" genannt. Viele Rechtsbeistände lehnen Blasphemiefälle aufgrund des hohen Risikos ab.

In einem Fall versuchte die Familie eines Beschuldigten lange erfolglos, einen Rechtsbeistand zu finden, bis sich schließlich jemand gegen eine hohe Gebühr bereit erklärte, den Angeklagten zu verteidigen. Dieser Rechtsbeistand wurde vor Gericht verprügelt. Daraufhin brach er den Kontakt mit der Familie ab und gab die Verteidigung seines Mandanten auf. Christliches Pärchen verbrannt

Shama und Shahzad Masih waren christlichen Glaubens und lebten mit ihren drei Kindern in der Ortschaft Kot Radha Kishan in Punjab. Sie arbeiteten beide unter harten Bedingungen in einer nahegelegenen Ziegelhütte. An einem durchschnittlichen Arbeitstag arbeiteten sie 18 Stunden und erhielten lediglich 6,60 US-Dollar (6,30 Euro) pro Tausend angefertigter Backsteine.

Im November 2014 starb der Schwiegervater von Shama Masih, die damals im fünften Monat schwanger war. Shama Masih verbrannte seine Sachen, wie es in dieser Gegend Pakistans üblich ist.

Daraufhin machte das Gerücht die Runde, dass Shama Masih auch Seiten des Koran verbrannt habe. Die Vorwürfe erhärteten sich, als Geistliche in Nachbardörfern über ihre Moscheenlautsprecher ausriefen, Shama und Shahzad Masih sollten "verbrannt werden, genauso wie sie das [Heilige Buch] verbrannt haben".

Schnell versammelten sich Hunderte aufgebrachte Personen vor der Ziegelhütte. Sie fanden Shama und Shahzad Masih in einem kleinen Zimmer, in dem sie von einem Geldverleiher eingesperrt worden waren, weil sie ihm Geld schuldeten. Das Pärchen wurde nach draußen geschleppt.

Obwohl fünf Polizisten anwesend waren, griffen sie nicht ein. Sie rechtfertigten dies damit, dass sie zahlenmäßig unterlegen und die Menschenmenge gewaltbereit gewesen sei. Shama und Shahzad Masih wurden wiederholt geschlagen und dann in einen der Ziegelbrennofen gestoßen und verbrannt.

Laut der Familie von Shahzad Masih nahm die Polizei später mehr als 100 Personen fest. Der pakistanische Premierminister Nawaz Sharif verurteilte den Mord an dem Pärchen, und sein Bruder Shahbaz Sharif, der Regierungschef der Provinz Punjab, besuchte das Dorf, um der trauernden Familie sein Mitgefühl auszusprechen.

Am 23. November 2016 wurden fünf Männer vor einem Gericht für terrorismusbezogene Strafsachen wegen ihrer Beteiligung an den Morden zum Tode verurteilt. Amnesty International ist zwar für ein Ende der Straflosigkeit und fordert, dass diejenigen, die für Straftaten verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden, wendet sich jedoch ausnahmslos gegen die Todesstrafe.

Die Behörden versagen immer wieder dabei, rechtzeitig einzugreifen, bevor die Gewalt eskaliert. Dieses Problem ist weit verbeitet in ganz Punjab. Oft weiß die Polizei, dass schutzbedürftige religiöse Minderheiten bedroht werden, greift jedoch angesichts einer von Geistlichen angestachelten Menschenmenge nicht entschieden ein.


Der Bericht "'As good as dead': The impact of the blasphemy laws in Pakistan" kann auf Englisch als PDF-Datei heruntergeladen werden unter:
https://www.amnesty.org/en/documents/asa33/5136/2016/en/

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Quelle:
Mitteilung vom 21. Dezember 2016
https://www.amnesty.de/2016/12/21/pakistan-blasphemiegesetze-verletzen-menschenrechte?destination=startseite
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2016

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