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EUROPA/206: "Wir können etwas bewirken " (amnesty journal)


amnesty journal 12/2006 - Das Magazin für die Menschenrechte


"Wir können etwas bewirken"

Ein Gespräch mit Dick Oosting, Direktor des EU-Büros von ai in Brüssel, über die Menschenrechtspolitik der EU und den Einfluss von ai.

Interview von Brita Lax-Engel und Tanja Gey


Frage: In welchen Bereichen hat Europa Defizite bei den
Menschenrechten zu verzeichnen?

Die europäischen Regierungen und die EU geben zwar meist bereitwillig zu, dass innerhalb ihrer Grenzen Menschenrechtsverletzungen vorkommen. Genauso schnell erklären sie aber, dass es sich dabei nur um minder schwere Fälle handeln würde, und die EU angemessen darauf reagiere.

Tatsächlich sind die Fälle weitaus gravierender als es die EU darstellt, und die Maßnahmen sind bei weitem nicht ausreichend. In der EU kommen Misshandlungen durch Polizei und andere staatliche Sicherheitskräfte vor, die teilweise mit Folterpraktiken zu vergleichen sind.

Hinzu kommt häufig eine rassistische und diskriminierende Einstellung gegenüber Migranten, Asylbewerbern und anderen Minderheiten, was diese Entwicklung noch verschlimmert. In mehreren Ländern sehen wir, dass die Asylpraxis kaum den internationalen Vorschriften entspricht. Schwere Missstände bestehen bei den Schutzrechten für Angeklagte und ihre Verteidiger in Strafprozessen - ein Punkt, der besondere im Zusammenhang mit dem "Krieg gegen den Terror" problematisch geworden ist. Zudem haben sich im vergangenen Jahr die Beweise erhärtet, dass Europa an den Verschleppungsflügen der CIA beteiligt war.

Frage: Wie reagieren die Vertreter der EU auf diese Vorwürfe?

Diese Vorwürfe werden routinemäßig abgestritten oder mit dem Argument weggewischt, dass die Vorfälle in die Zuständigkeit der jeweiligen Mitgliedsstaaten fallen. Diese Verweigerungshaltung führt zu einer Doppelmoral, was die Glaubwürdigkeit der EU als Wertegemeinschaft schmälert. Die Effektivität der gesamten EU-Menschenrechtspolitik wird dadurch ebenso in Frage gestellt wie außenpolitische Anstrengungen der EU, die ja auch den Menschenrechten internationale Geltung verschaffen sollen.

Frage: Wie setzt die EU diese außenpolitischen Ansprüche um?

Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind fest in den EU-Verträgen verankert, die Union verfolgt daher insgesamt eine aktive Politik in dieser Hinsicht. Das reicht von den Menschenrechtsdebatten der UNO über finanzielle Hilfe für NGOs bis hin zur Entwicklungspolitik. Zunehmend gilt dies auch für die Beteiligung an Konfliktprävention und Krisenmanagement. Wichtig ist die Tatsache, dass die EU wegen ihren Beziehungen zu allen Ländern über eine große Verhandlungsmasse verfügt.

Frage: Welche Maßnahmen stehen dabei zur Verfügung?

Oft werden diese Beziehungen zu Drittländern durch Assoziierungs-, Handels- und Entwicklungsabkommen vertraglich geregelt, die als "wesentliches Element" alle eine so genannte Menschenrechtsklausel enthalten. Diese Klausel gehört zu einem Paket an Maßnahmen. In vier Leitlinien verpflichtet sich die EU zum Kampf gegen Folter und Todesstrafe, zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Kindern in bewaffneten Konflikten. Sie führt Menschenrechtsdialoge mit Ländern wie China und Russland durch und hat einen Verhaltenskodex für Waffenexporte. Seit kurzem unterstützt die EU ein internationales Abkommen über den Waffenhandel.

Frage: Die Union verfolgt aber auch wirtschaftliche Interessen. Ergeben sich daraus keine Widersprüche?

Natürlich verfolgt die EU ihre Menschenrechtspolitik nicht isoliert, es kommt natürlich zu Konflikten mit anderen außenpolitischen Zielen wie Sicherheit oder wirtschaftlichen Interessen. Und wie immer setzt die Realpolitik besonders dann gerne ein, wenn es um die großen, strategisch wichtigen "Partner" wie die USA, Russland und China geht. Aber der Einfluss der EU mit demnächst 27 Mitgliedsstaaten sollte nicht unterschätzt werden. Die EU ist eine Kraft, die konstruktiv tätig werden und die Welt dort verändern kann, wo Menschenrechte um politischer Interessen willen allzu bereitwillig an den Rand gedrängt werden.

Frage: Welchen Einfluss hat das ai-Büro in Brüssel?

Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte beim Umgang mit den großen Staaten oder bei Interessenskonflikten nicht unter den Teppich gekehrt werden. Zudem müssen wir gewährleisten, dass alle Länder, in denen Menschenrechtsverletzungen vorkommen, aufmerksam beobachtet werden. ai stellt daher Informationen und Beratung über die Menschenrechte in den von uns untersuchten Ländern bereit. Zudem übt ai eine Wächterfunktion aus und macht Druck, wenn die EU die Menschenrechte vernachlässigt.

Frage: Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Die Anti-Folterrichtlinie der EU wurde zum Beispiel wegen unserer nachdrücklichen Arbeit eingeführt. Wir waren auch daran beteiligt, das Europäische Parlament dazu zu bewegen, eine stärkere Rolle bei der Überprüfung der Menschenrechtspolitik von Kommission und Rat einzunehmen.

Darüber hinaus wurde in nur wenigen Jahren die innenpolitische Auseinandersetzung über Menschenrechtsfragen immer wichtiger. Nicht zuletzt wegen der Kritik, die ai an den Menschenrechtsdefiziten der EU übt. Und das nicht nur wegen der tatsächlich vorhandenen Probleme, sondern auch deshalb, weil dies die Glaubwürdigkeit und Effektivität der EU-Menschenrechtspolitik beeinträchtigt.

Frage: Was unterscheidet ai von anderen NGOs?

Wir arbeiten aktiv mit anderen NGOs zusammen und betreiben effektive Medienkampagnen. amnesty ist jedoch die einzige Menschenrechtsorganisation auf EU-Ebene, die sich nicht nur auf die außenpolitische Wahrnehmung der Menschenrechte beschränkt, sondern sich auch EU-intern für den Menschenrechtsschutz im Rahmen von Asyl- und Flüchtlingspolitik, Migration und Terrorismusabwehr einsetzt. Dies umfasst auch Aktionen gegen Diskriminierung und die häufigen Misshandlungen durch Polizeikräfte.

Was uns von anderen NGOs unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir auch in allen Mitgliedsstaaten der EU präsent sind. Die gemeinsamen Anstrengungen vom EU-Büro und den einzelnen Sektionen geben ai einen klaren strategischen Vorteil bei der Durchsetzung von Menschenrechten und führen dazu, dass wir tatsächlich etwas bewirken können.


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Der Niederländer Dick Oosting war von 1977 bis 1982 stellvertretender Generalsekretär von amnesty international. Seit 2000 leitet er das EU- Büro von ai in Brüssel.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2006, S. 12+13
Herausgeber: amnesty international
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E-Mail: info@amnesty.de
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veröffentlicht im Schattenblick am 9. Januar 2007