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EUROPA/207: Wie kann man die Grundrechte in Europa schützen? (amnesty journal)


amnesty journal 12/2006 - Das Magazin für die Menschenrechte


"Wir machen Druck"


Wie kann man in Brüssel die Grundrechte in Europa schützen? Ein Gespräch mit Martin Schulz, dem Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament.

Interview von Anton Landgraf


Frage: Die aktuelle finnische EU-Ratspräsidentschaft kritisiert das Todesurteil gegen Saddam Hussein und fordert, das Urteil nicht zu vollstrecken. Teilen Sie diese Haltung?

Die Strafe ist für mich nicht akzeptabel - wie jeder anständige Sozialdemokrat in meiner Fraktion bin ich ein radikaler Gegner der Todesstrafe. Unsere Fraktion wird darauf drängen, dass die internationalen Organisationen Druck ausüben, damit das Urteil nicht angewendet wird.

Frage: In der EU gibt es aber durchaus Stimmen, wie kürzlich in Polen, die sich für die Todesstrafe einsetzen.

Eine Regierungspartei, die "Liga für Familie", hatte das Thema dort auf die Tagesordnung gesetzt. Die Regierung Kaczynski begab sich damit auf einen gefährlichen Kurs. Wenn sie ernsthaft die Einführung der Todesstrafe erwägen, würde sie das Land aus der EU katapultieren. Deshalb verfolgt sie dieses Vorhaben mittlerweile auch nicht mehr. Dies zeigt, dass die europäische Integration eine stark disziplinierende Wirkung hat und dazu beiträgt, Demokratie und Menschenrechte zu garantieren. Denn wer diese Werte in Frage stellt, stellt Europa in Frage - und damit übrigens auch die Vorteile, die ein EU-Beitritt mit sich bringt.

Frage: Der EU-Beitritt ist mit klaren Auflagen verbunden. Doch anschließend gibt es kaum Möglichkeiten, die Einhaltung der Grundrechte zu kontrollieren - wie etwa der Umgang mit Minderheiten in Polen zeigt.

Das sehe ich anders. Die Mitgliedschaft verpflichtet die Länder, die Grundrechte zu garantieren. Wir machen aus Brüssel enormen Druck, wenn diese Rechte nicht respektiert werden. Dabei müssen wir zwischen Regierung und Bevölkerung unterscheiden. Die meisten Menschen, die in Warschau auf der Gay Parade gegen die Intoleranz und gegen die Verfolgung von Minderheiten demonstrierten, waren Polen. Der rechtsextremistische Block der "Liga für Familie" hat seine Demonstration hingegen abgesagt. Die Regierung ist in dieser Frage sehr vorsichtig geworden. Das zeigt, dass der Druck aus Brüssel sehr effektiv sein kann.

Frage: Auch in den baltischen Staaten müssen Schwule und Lesben um ihre Anerkennung kämpfen, in Rumänien werden Roma und Sinti diskriminiert - ist die Ausgrenzung vor allem ein osteuropäisches Problem?

Das Problem gibt es nicht nur im Osten. In Frankreich liegt der "Front National" bei 20 Prozent, in Flandern ist der "Vlaams Block" auf dem Vormarsch und in Deutschland ist der NPD der Sprung in zwei Landesparlamente gelungen. In Italien hat die "Lega Nord", eine offen rassistische Partei, jahrelang Minister gestellt. Das ist ein europäisches Problem.

Frage: Wie erklären Sie sich, dass trotz der fortschreitenden Integration die xenophobe Stimmung zunimmt?

Wir haben es mit einer unterschwelligen Globalisierungsangst zu tun, viele Bürger sind verunsichert, weil sich vertraute Strukturen auflösen. Daraus resultiert die Sehnsucht nach einer starken Führung und einfachen Lösungen. Aber das betrifft nicht nur diejenigen, die durch die Globalisierung verlieren. Auch in den Mittelschichten gibt es große Ängste vor dem sozialen Abstieg, die zum gleichen Phänomen führen, wenn auch in etwas vornehmerer Art. Das Vordringen der NPD in bürgerliche Kreise ist ein Indiz dafür. Das Instrumentarium dieser Parteien ist immer das gleiche. Ausgrenzung und Hetze gegen Minoritäten.

Frage: Welche Maßnahmen stehen der EU zur Verfügung, um Grundrechte zu verteidigen?

Das sollte nicht durch unmittelbare Strafaktionen, sondern vor allem über politischen Druck erfolgen. Die Bevölkerung merkt, wenn ihre Regierung am Pranger steht, weil sie gegen fundamentale Rechte verstößt. Diese Befindlichkeit müssen wir stärken, mit dem großen Knüppel geht das nicht. Ein Beispiel: Als die EU wegen der Koalition des Rechtspopulisten Jörg Haider und den Konservativen mit Sanktionen drohte, löste dieses Vorgehen in Österreich eine Welle der Solidarisierung aus. Das hat nicht viel gebracht. Es hat erst funktioniert, als die österreichischen Institutionen selbst aktiv wurden: Als der Bundespräsident erklärte, er werde die neue Regierung erst ernennen, wenn sie sich öffentlich verpflichtet, die Europäische Grundrechtecharta einzuhalten.

Frage: Dafür haben andere Parteien die Parolen Haiders übernommen.

Aber Haider wurde gezwungen, sich zu entscheiden: Zwischen seinem Rechtspopulismus mit faschistoidem Anklang und einer moderat rechten Rolle als Staatspartei. Als er sich für die moderate Rolle entschied, hat der rechtsextreme Mob seine Partei verlassen. Kein FPÖ-Minister hat sich in den letzten Jahren etwas zu Schulden kommen lassen, unter dem internationalen Druck konnten sie sich keine rassistischen Äußerungen mehr leisten. Der politische Druck ist also effektiver als Sanktionen, die man oft gar nicht durchhalten kann.

Frage: Wäre die Grundrechteagentur ein Weg, um effektiver gegen Diskriminierung in der EU vorzugehen?

Ja, sicher. Die Beobachtungsstelle in Wien ist schon aktiv und wenn sie zu einer Grundrechteagentur ausgebaut werden sollte, hätte sie noch mehr Möglichkeiten. Aber das alleine reicht nicht. Ich habe mein ganzes politisches Leben nicht daran geglaubt, dass Institutionen politische Bewegungen aufhalten können. Entscheidend ist vor allem, dass die aufgeklärten Eliten in Europa, in Wirtschaft, Politik und Kultur, sich nicht abfinden, dass rechtsextremes Gedankengut in die Mitte der Gesellschaft eindringt. Hier müssen wir eine Brandmauer aufziehen. Die Menschen müssen sich klar bekennen und der schweigenden Mehrheit deutlich machen: Wenn ihr euch nicht wehrt, kann es die Politik alleine auch nicht richten. Politische Strömungen in der Gesellschaft kann man nur durch gesellschaftliche Gegenbewegungen aufhalten.

Frage: Gilt diese Haltung auch, wenn Ihre eigene Fraktion davon betroffen ist? Immerhin regiert in der Slowakei die sozialdemokratische SMER unter Ministerpräsident Robert Fico in einer Koalition mit Rechtsextremen.

Wir vertreten einen klaren Standpunkt: Wenn eine Partei mit Rechtsextremen koaliert, werfen wir sie aus der Fraktion. Der SMER haben wir eindeutig signalisiert: Wenn sie diese Koalition weiterführen will, hat sie bei uns nichts zu suchen - selbst wenn sie den Ministerpräsidenten stellt.

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Martin Schulz

Der gelernte Buchhändler ist seit 1994 Abgeordneter im Europa- Parlament, zuletzt für den Regierungsbezirk Köln. Im Juli 2004 wurde er zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Fraktion gewählt.


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Zentralasien und die EU

Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird neben Osteuropa auch die Situation in Zentralasien Schwerpunktthema sein. Zu der Region gehören die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisistan. ai kritisiert, dass außer in Turkmenistan in allen anderen Ländern Dissidenten sowie ethnische und religiöse Minderheiten unter dem Vorwand des "Krieges gegen den Terror" im Namen der "Nationalen Sicherheit" verfolgt werden. In Kirgisistan werden usbekische Flüchtlinge in ihr Heimatland ausgeliefert, wo ihnen Folter und Misshandlung droht. Kirgisistan, Kasachstan und Usbekistan kooperieren zudem mit China bei der Auslieferung von Uighuren, denen schwere Menschenrechtsverletzungen und die Todesstrafe drohen.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2006, S. 20+21
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick am 10. Januar 2007