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EUROPA/211: Deutschland schiebt irakische Flüchtlinge ab (amnesty journal)


amnesty journal 1/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte


Sicher ist sicher

Trotz der katastrophalen Sicherheitslage in ihrer Heimat möchte die Bundesregierung irakische Flüchtlinge so bald wie möglich abschieben.

Von Ruth Jüttner

Im Frühjahr erhielt Ibrahim Amin* ein Schreiben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, in dem lapidar festgestellt wurde: "Die politische Situation im Irak hat sich grundsätzlich verändert. (...) Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass von der neuen irakischen Regierung politische Verfolgung ausgeht oder ausgehen wird". Ibrahim Amin war vor zehn Jahren als Kurde aus der Stadt Kirkuk in die Bundesrepublik geflohen und wurde als Flüchtling anerkannt. Mit Hinweis auf die geänderte Lage im Irak hat das Bundesamt diesen Schutz nun widerrufen. Etwa 20.000 solcher Widerrufsverfahren wurden seit dem Sturz der Ba'th-Regeriung unter Saddam Hussein gegen anerkannte irakische Flüchtlinge eingeleitet. Dieses Vorgehen der deutschen Behörden gegen irakische Flüchtlinge ist beispiellos - in keinem anderen europäischen Land wird in diesem Ausmaß irakischen Flüchtlingen die Asylanerkennung entzogen.

Ein Blick auf die tatsächliche Lage im Irak genügt, und es wird offenkundig, wie unhaltbar die Behauptungen des Bundesamtes sind. Es vergeht kein Tag, an dem nicht über Autobomben und Selbstmordanschläge auf belebte Plätze, Schießereien zwischen rivalisierenden Milizen und Sicherheitskräften, spektakuläre Entführungen am helllichten Tag, Anschläge auf Angehörige der irakischen Regierung und Mitarbeiter in Ministerien, tödliche Schusswechsel und Leichenfunde berichtet wird. Seit Jahren verschlechtert sich die Sicherheitslage im Irak, doch mit Beginn dieses Jahres setzte sich eine neue dramatische Spirale der Gewalt in Gang. Mit dem Anschlag auf die Goldene Moschee, einem schiitischen Heiligtum in Samarra, hat die Eskalation konfessioneller Gewalt zwischen sunnitischen und schiitischen Milizen und Todesschwadronen im Februar 2006 begonnen und nimmt seither unaufhaltsam an Intensität zu. Jeder Anschlag auf die eine konfessionelle Gruppe wird mit Racheakten durch Milizen der anderen Konfession beantwortet, die ihrerseits wieder zu Vergeltungsanschlägen führen.

Auch die zahlreichen Leichen, die in vielen irakischen Städten seit Monaten täglich aufgefunden werden, sind ein grausamer Ausdruck der konfessionellen Gewalt. Viele der Leichen, die häufig mit gefesselten Armen und hinrichtungsähnlichen Schusswunden gefunden werden, weisen Spuren brutaler Foltermethoden auf. In den Monaten Mai bis Oktober 2006 wurden nach UNO-Angaben jeden Monat mehr als 3.000 irakische Zivilisten getötet. Die Zahl der zivilen Opfer hat sich seit Januar 2006 mindestens vervierfacht.

Über dieses extrem hohe Niveau der alltäglichen Gewalt hinaus leben einige Personengruppen im Irak besonders gefährlich, werden Opfer gezielter Anschläge und Übergriffe durch bewaffnete Gruppen. Zu diesen Risikogruppen zählen Angehörige der irakischen Regierung, lokaler Behörden, der Polizei und Armee, politischer Parteien und Nichtregierungsorganisationen sowie Journalisten, Lehrer, Professoren, Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, Frauen und Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten.

So wurde Mitte Oktober der Bruder des Obersten Staatsanwaltes im so genannten "Anfal-Verfahren" gegen Saddam Hussein und sechs weitere Angeklagte vor den Augen seiner Ehefrau erschossen. Ende September wurden der Schwager und der Neffe des Vorsitzenden Richters in dem gleichen Verfahren ebenfalls ermordet. Mitte 2006 wurde ein bekannter Rechtsanwalt, der vor allem Fälle von so genannten "Ehrenmorden" und Scheidungen bearbeitet hat, in seinem Büro getötet. Angesichts der Bedrohung derjenigen, die für den Aufbau eines rechtsstaatlichen Justizsystems und für die Achtung der Menschenrechte einen besonderen Beitrag leisten, sind seit Anfang 2006 mindestens 120 Rechtsanwälte aus dem Irak geflohen.

Diese Eskalation der täglichen willkürlichen und gezielten Gewalt spielt sich vor dem völligen Zusammenbruch von Recht und Ordnung ab. Justiz und Ermittlungsbehörden sind überfordert, nicht ausreichend geschult und ausgestattet, um unter den gegebenen lebensbedrohlichen Bedingungen eine effiziente und rechtsstaatliche Strafverfolgung umzusetzen. Die irakische Polizei ist nicht in der Lage, die Zivilbevölkerung und bedrohte Personen zu schützen. Im Gegenteil: Die Bevölkerung hat kein Vertrauen in die eigenen Sicherheitskräfte und Justiz. Vielen Polizeieinheiten wird vorgeworfen, von Milizangehörigen unterwandert zu sein, und entweder selbst an den Gewalttaten beteiligt zu sein, oder sie nicht effektiv zu verhindern. Die Täter können sicher sein, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, denn die überwiegende Mehrheit der Anschläge und außergerichtlichen Hinrichtungen werden nicht aufgeklärt.

Diese katastrophale Lage hat dazu geführt, dass der Irak zu einem Land der Flüchtlinge geworden ist. Nach Schätzungen des UNHCR sind etwa 750.000 Iraker seit dem Sturz Saddam Husseins aus ihren Häusern und Wohnorten vertrieben worden. Mehr als die Hälfte dieser so genannten Binnenflüchtlinge ist allein in den sechs Monaten zwischen Mai und Oktober seit dem Beginn der eskalierenden Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten geflohen. Für viele bedeutet dies nicht nur den Verlust ihrer Wohnung, sondern auch ihres Einkommens. Die Vertriebenen werden zu Bittstellern, die auf die Hilfe staatlicher Stellen und internationaler Hilfsorganisationen zum Überleben angewiesen sind. Aus einigen Provinzen wird bereits berichtet, dass ohne zusätzliche Unterstützung keine weiteren Vertriebenen mehr aufgenommen, untergebracht und versorgt werden können.

Die Innenminister scheinen vor der Realität im Irak beharrlich die Augen zu verschließen und statt dessen ihre Pläne, irakische Flüchtlinge "baldmöglichst" in ihre Heimat abzuschieben, mit allen Tricks umsetzen zu wollen. Um Wege für die Abschiebung von Irakern auszuloten, wurden im Sommer 2006 Verhandlungen mit der irakischen Regierung und Vertretern der kurdischen Region im Nordirak aufgenommen. Als erstes Ergebnis verkündeten die Innenminister Mitte November 2006 stolz, dass zunächst straffällige Iraker über den Nordirak abgeschoben werden sollen. Auch der nächste Schritt zeichnet sich ab: Die drei kurdischen Provinzen im Nordirak werden zum sicheren Gebiet deklariert, in das Flüchtinge aus dem Irak abgeschoben werden können. Schon jetzt berichten irakische Flüchtlinge zunehmend, dass sie von den Behörden unter Druck gesetzt werden, "freiwillig" in den Irak zurückzukehren.

Diese Politik gegenüber irakischen Flüchtlingen ist nicht nur menschenrechtswidrig, sondern zynisch und zutiefst beschämend. Es sind nicht die wohlhabenden europäischen Staaten, die die Hauptlast des irakischen Flüchtlingsproblems tragen, sondern die Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft: In Jordanien haben schätzungsweise 700.000 Iraker Zuflucht gesucht, in Syrien soll die Zahl der irakischen Flüchtlinge auf 600.000 angestiegen sein. Und so bleibt Ibrahim Amin, dem Kurden aus der umkämpften Stadt Kirkuk, nur die Hoffnung, dass deutsche Politiker dem Beispiel der aufnahmebereiten Nachbarstaaten folgen und einen unmissverständlichen Abschiebungsstopp für irakische Flüchtlinge erlassen. Iraker sollten in Deutschland so lange Schutz erhalten, bis in ihrer Heimat stabile staatliche Strukturen entstanden sind, die ein friedliches Zusammenleben und eine Rückkehr in Sicherheit und Würde ermöglichen.

* (Name geändert)

Die Autorin ist Nahost-Expertin der deutschen ai-Sektion.


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Wer gebildet ist, lebt besonders gefährlich

Lehrer, Professoren, Mitarbeiter an den Universitäten und Ärzte werden Opfer gezielter Anschläge, Entführungen und Todesdrohungen. Nach irakischen Angaben sind 170 Professoren seit 2003 gezielt getötet worden. Lehrerinnen und Professorinnen werden an den Bildungseinrichtungen durch Milizionäre unter Druck gesetzt, sich an strenge islamische Kleidungsvorschriften zu halten und den Schleier zu tragen. In einigen Provinzen wurden Ende September zahlreiche Schulen mit Beginn des neuen Schuljahres aufgrund der alarmierenden Sicherheitslage und Drohungen durch bewaffnete Gruppen nicht wieder eröffnet. Besonders stark betroffen von den Schließungen sind vor allem Mädchenschulen und die Provinz Djyala, in der nach Angaben der Provinzverwaltung 90 Prozent der Schulen geschlossen wurden.


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Quelle:
amnesty journal, Januar 2007, S. 14
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2007