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EUROPA/228: Murat Kurnaz - Im Zweifel gegen den Angeklagten (ai journal)


amnesty journal 4/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Im Zweifel gegen den Angeklagten

Von Ferdinand Muggenthaler


Über fünf Jahre saß Murat Kurnaz unschuldig wegen Terrorverdachts in Guantánamo ein. Das deutsche Außenministerium sieht bis heute keinen Grund für Selbstzweifel.


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Am 18. Januar 2007 sitzt Murat Kurnaz den Abgeordneten des BND-Untersuchungsausschusses gegenüber. Es herrscht gespannte Ruhe. Auf Nachfragen erzählt er von seiner Reise nach Pakistan im Herbst 2001, von seiner Festnahme, von seinen fast fünf Jahren Gefangenschaft. Manchmal ringt er nach Worten. Er beschreibt, wie er von den pakistanischen Behörden an US-Soldaten übergeben und ins Gefangenencamp in Kandahar gebracht wird. Dort muss er trotz eisiger Temperaturen die erste Nacht ohne Kleider nur unter einem Zeltdach zubringen. Später hängen ihn die Soldaten für Tage an Ketten auf. Nur ab und an wird er herabgelassen, damit ein Arzt seinen Zustand prüfen kann. Nach zwei Monaten in Kandahar wird er nach Guantánamo geflogen. Was sein schlimmstes Erlebnis dort war, will die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler wissen. Er überlegt, will sich erst nicht festlegen. Vielleicht war es die "Luftlosigkeit", sagt er schließlich. In Guantánamo gibt es klimatisierte Isolationszellen. Dort werden die Gefangenen mit extremer Kälte oder extremer Hitze gequält. Oder es wird eben die Lüftung ganz abgedreht, so dass der Sauerstoff langsam knapp wird. Mehrmals sei er von dieser Behandlung ohnmächtig geworden.

Alle Abgeordneten versichern Murat Kurnaz an diesem Tag ihr Mitgefühl, bevor sie dem Zeugen Fragen stellen. Doch bei der zentralen Frage, die der Ausschuss klären soll, geht es nicht um Mitgefühl, sondern um Mitverantwortung. Um die Mitverantwortung der deutschen Regierung dafür, dass Kurnaz viereinhalb Jahre in Guantánamo eingesperrt blieb.

Im September 2002 bekommt Kurnaz Besuch. Er wird in einen Vernehmungsraum geführt, seine Handschellen gelöst, seine Fußfesseln an einem Ring im Boden festgemacht. Drei Deutsche sitzen ihm gegenüber. Kurnaz erhofft sich Hilfe von ihnen. Aber als er ihnen von den erlittenen Misshandlungen erzählen will, interessieren sie sich nicht dafür. Stattdessen befragen sie ihn zwei Tage lang über sein Leben in Deutschland und seine Reise nach Pakistan. Er gibt bereitwillig Auskunft. Als er sie schließlich fragt, wann er freikommen wird, erklären sie lapidar, dafür seien die Amerikaner zuständig.

Bei den dreien handelte es sich um zwei Beamte des Bundesnachrichtendienstes und einen Vertreter des deutschen Verfassungsschutzes. Die Deutschen nahmen aus Guantánamo ein eindeutiges Urteil mit: Kurnaz hat nichts mit Terrorismus zu tun. Noch von unterwegs meldet einer der BND-Leute seinem Chef. "USA sehen Unschuld von Murat Kurnaz als erwiesen an. Er soll in etwa sechs bis acht Wochen entlassen werden." Nach der Rückkehr schreiben die BND-Beamten einen Vermerk, der inzwischen auch veröffentlicht ist. Darin kommen sie zu dem Schluss: "Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besitzt Kurnaz bei einer Freilassung kein Gefährdungspotenzial hinsichtlich deutscher, amerikanischer oder israelischer Sicherheitsinteressen."

Wenig später, im Oktober 2002 trifft sich die so genannte Präsidentenrunde. Unter Leitung des damaligen Kanzleramtsministers Frank-Walter Steinmeier sitzen dort die Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes, die Spitzen des Bundeskriminalamtes (BKA) und Staatssekretäre der beteiligten Ministerien zusammen und beraten über Kurnaz. Ergebnis: Trotz der Einschätzung ihrer Untergebenen, die Kurnaz in Guantánamo befragt haben, halten sie Kurnaz für ein Sicherheitsrisiko. Für den Fall, dass die USA ihn freilassen, wollen die Herren verhindern, dass er nach Deutschland kommt. In der Folge wird eine Einreisesperre gegen ihn verhängt. Diese Entscheidung wird auch den USA mitgeteilt.

Es ist diese Entscheidung der Präsidentenrunde, die im Zentrum des Untersuchungsausschusses steht. Noch ist die Arbeit des Ausschusses nicht abgeschlossen, noch sind Details ungeklärt. Umstritten ist etwa, wie konkret die Pläne der USA waren, Kurnaz freizulassen. Aber so viel lässt sich sagen: Offenbar bestand die Chance, dass Murat Kurnaz frei kommt. Aber die deutsche Regierung, die sich unter Rot-Grün den Schutz der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hatte, sah darin keine Chance. Sie sah nur eine Gefahr. Egal wie weit die Entlassungspläne gediehen waren: Die Präsidentenrunde musste davon ausgehen, dass die Weigerung, Kurnaz aufzunehmen, bei den US-Behörden nicht gerade den Willen zur Freilassung fördern würde.

Trotzdem hat sich bisher niemand bei Murat Kurnaz entschuldigt. Stattdessen verteidigen die Beteiligten verbissen ihre Entscheidung. So erklärte der heutige Außenminister Steinmeier zwar: "Die lange Leidensgeschichte von Herrn Kurnaz in Guantánamo ist erschütternd. Das lässt auch mich nicht kalt." Doch was ist ein Mitgefühl wert, das nicht einmal dazu führt, die damalige Entscheidung zu überdenken? Kategorisch erklärt Steinmeier: "Ich würde heute nicht anders entscheiden."

Die anderen Beteiligten, eifrig unterstützt vom SPD-Vertreter im Untersuchungsausschuss, folgen der gleichen Linie. Um sich zu rechtfertigen, erzählen sie die Geschichte eines Verdachts. Der Verdacht entstand, nachdem der 19-jährige Kurnaz kurz nach dem 11. September 2001 nach Pakistan geflogen war. Seine Ausreise fiel auf, weil sein Reisebegleiter aufgehalten wurde. Er hatte eine Geldstrafe nicht bezahlt und musste deshalb am Frankfurter Flughafen wieder kehrt machen. Die Staatsanwaltschaft startete Ermittlungen, auch der Bremer Verfassungsschutz wurde eingeschaltet.

Der in Bremen geborene und aufgewachsene Kurnaz hatte offenbar den Islam für sich entdeckt. Anders als seine Eltern hielt er sich jetzt an strenge religiöse Lebensregeln, trank keinen Alkohol, ging regelmäßig beten. Ehemalige Mitschüler vermuteten, er sei in seiner neuen Moschee einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Schließlich reiste der 19-jährige Kurnaz nach Pakistan ab, ohne seinen Eltern Bescheid zu sagen. Das erregte das Misstrauen der Ermittler.

Die Staatsanwaltschaft ließ die Telefone des Predigers der Moschee abhören, in die Kurnaz zuletzt häufig gegangen war. Anhaltspunkte für eine Verwicklung in Terrorismus ergaben sich nicht. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen schließlich mangels Tatverdacht ein.

Doch im Verfassungsschutz wurde der Verdacht weiter gepflegt. Wie vage die Anhaltspunkte für den Verdacht waren, davon gab der Präsident des Bremer Landesamts für Verfassungsschutz, Walter Wilhelm, bei seiner öffentlichen Befragung im Untersuchungsausschuss unfreiwillig einen guten Eindruck. Wilhelm versuchte zu rechtfertigen, dass man Kurnaz als potenziellen Terroristen behandelte. Er musste aber eingestehen, dass sein Amt erst nach der Abreise auf Kurnaz und die Moschee, in der er verkehrte, aufmerksam geworden war. Entsprechend konnten seine Mitarbeiter erst im Nachhinein Erkundigungen einziehen. Spektakulärstes Ergebnis: Es fand sich jemand, der angab, gehört zu haben, dass Kurnaz aus Pakistan den Prediger seiner Moschee angerufen habe. Dabei habe er erzählt, er unterstütze den Kampf der Taliban - in den Abhörprotokollen der Staatsanwaltschaft fand sich ein solches Gespräch übrigens nicht. Wilhelms damaliger Stellvertreter fällt ein entsprechend vernichtendes Urteil über die Verdachtsmomente gegen Kurnaz: "Wir hatten alle nichts auf der Pfanne, weder die Amerikaner, noch der BND, noch der Verfassungsschutz."

Trotzdem gründete die Präsidentenrunde auf diesem vagen Verdacht ihre Entscheidung. Aussagen vom Hörensagen und verdächtige Umstände der Abreise wogen mehr als die Einschätzung der eigenen Beamten, die Kurnaz für ungefährlich hielten. Bei seiner Befragung vor dem Ausschuss beharrte August Hanning, damals BND-Präsident, heute Staatssekretär im Innenministerium, auf der Entscheidung. Auch heute seien noch Fragen offen. Drei Jahre länger in Guantánamo wegen offener Fragen? So würde das August Hanning natürlich nicht sehen. Die USA hätten Kurnaz ja in die Türkei bringen können, so sein Argument. Schließlich hat der Bremer Murat Kurnaz immer noch einen türkischen Pass. Doch die Türkei setzte sich offenbar nicht für ihn ein, und die deutschen Behörden blieben bei ihrer Abwehrstrategie.

Die Bremer Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen längst eingestellt - mangels Tatverdacht. Auch ein US-Gericht hat die Vorwürfe schon 2005 geprüft und für unbegründet befunden. Nur die Verantwortlichen für die deutsche Abwehrpolitik versuchen, den Verdacht gegen Kurnaz am Leben zu halten. Konsequenterweise müssten sie Bundeskanzlerin Angela Merkel vorwerfen, sie habe die deutsche Sicherheit aufs Spiel gesetzt, als sie 206 den angeblichen Gefährder schließlich doch nach Deutschland holte.


Der Autor ist Amerika-Referent der deutschen ai-Sektion.


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Die illegale Inhaftierung von Murat Kurnaz - Chronologie

3. Oktober 2001 - Kurnaz beschließt eine religiöse Pilgerfahrt und reist nach Pakistan.

Ende November 2001 - Kurnaz wird von der pakistanischen Polizei verhaftet und gegen eine Zahlung von rund 3.000 US-Dollar an die US-Behörden übergeben.

Ende 2001 - Murats Mutter, Rabiye Kurnaz, erhält eine Postkarte ihres Sohnes aus einem Gefangenenlager in Afghanistan.

23. Januar 2002 - Der BND informiert das Bundeskanzleramt darüber, dass Kurnaz von Afghanistan nach Guantánamo gebracht wird.

Januar 2002 - Rabiye Kurnaz erhält eine weitere Postkarte ihres Sohnes aus dem "Camp X-Ray" in Guantánamo.

Mai 2002 - Rabiye Kurnaz beauftragt den Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke mit der rechtlichen Vertretung ihres Sohnes.

23. und 24. September 2002 - Kurnaz wird von zwei Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes und einem Verfassungsschutzbeamten befragt.

29. Oktober 2002 - Nachdem die USA eine Freilassung von Kurnaz in Aussicht stellen, beschließt die Bundesregierung eine Einreisesperre für Kurnaz zu verhängen.

April 2004 - Kurnaz wird erneut von einem deutschsprechenden Mann verhört, der nach Kurnaz' Erinnerung auch bei dem Verhör im September 2002 anwesend war.

Juni 2004 - Der Oberste Gerichtshof der USA entscheidet, dass das Gefangenenlager in Guantánamo unter die Gerichtsbarkeit der US-Gerichte fällt.

Juli 2004 - Die Menschenrechtsorganisation "Center for Constitutional Rights" stellt im Namen von Kurnaz einen Antrag an das US-Bezirksgericht, die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung zu prüfen.

August 2004 - Der Bremer Innensenator Thomas Röwekamp erklärt die unbefristete Aufenthaltserlaubnis von Murat Kurnaz für erloschen, da er sich mehr als sechs Monate im Ausland aufgehalten habe.

September 2004 - Kurnaz wird in Guantánamo als "feindlicher Kämpfer" eingestuft. Die Einstufung basiert auf ungenügenden und teilweise geheimgehaltenen Informationen.

Oktober 2004 - Der New Yorker Anwalt Prof. Baher Azmy darf Kurnaz in Guantánamo sprechen.

Dezember 2004 - amnesty international startet eine weltweite Kampagne zur Freilassung von Murat Kurnaz.

31. Januar 2005 - Bundesrichterin Joyce Green urteilt, dass die Inhaftierung von Kurnaz gegen die Genfer Konventionen und die US-Verfassung verstößt. Es gebe keine Beweise für eine Verbindung von Kurnaz zum Terrorismus. Entlastende Beweise seien bei der Entscheidung, ihn als feindlichen Kämpfer einzustufen, nicht berücksichtigt worden.

Februar 2005 - Die US-Regierung legt Berufung gegen Greens Urteil ein.

30. November 2005 - Das Verwaltungsgericht Bremen urteilt, dass die unbefristete Auftenhaltserlaubnis von Murat Kurnaz nicht erloschen ist. Das Gericht hebt damit die Entscheidung des Bremer Innensenators als rechtswidrig auf.

Dezember 2005 - Innenminister Wolfgang Schäuble räumt ein, dass Mitarbeiter deutscher Geheimdienste Kurnaz 2002 in Guantánamo befragt haben.

Anfang Januar 2006 - amnesty international Deutschland übergibt der amerikanischen Botschaft eine Petition zur Freilassung von Murat Kurnaz mit über 10.000 Unterschriften.

13. Januar 2006 - Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt sich in einem Gespräch mit Präsident George W. Bush für Kurnaz' Freilassung ein. Die deutsche Botschaft in Washington und die US-amerikanischen Behörden verhandeln über die Bedingungen einer Freilassung.

Ende Januar 2006 - Die Einreisesperre für Kurnaz nach Deutschland wird aufgehoben.

März und April 2006 - Mehrere Zeitungen berichten, dass die USA schon im Oktober 2002 angeboten haben, Kurnaz freizulassen. Auf Anraten des BND habe die Regierung das Angebot ausgeschlagen.

24. August 2006 - Kurnaz landet auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein. Er wird nach über viereinhalb Jahren Haft ohne Anklage freigelassen.

5. Oktober 2006 - Das erste Interview mit Murat Kurnaz wird veröffentlicht. Im Gefangenenlager im afghanischen Kandahar sei er zwei deutschen Soldaten begegnet, von denen einer seinen Kopf auf den Boden geschlagen habe. Es wird bekannt, dass KSK-Soldaten zeitweise das Gefangenenlager in Kandahar bewachten, in dem Kurnaz eingesperrt war.

8. Januar 2007 - Die Staatsanwaltschaft Tübingen leitet ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt gegen zwei KSK-Soldaten ein. Kurnaz hatte einen von ihnen auf einem Foto identifiziert.

17. und 18. Januar 2007 - Kurnaz sagt im Verteidigungsausschuss des Bundestages und vor dem so genannten "BND-Untersuchungsausschuss" aus. Der Verteidigungsausschuss des Bundestages soll klären, ob Kurnaz von Mitgliedern der KSK in Afghanistan misshandelt wurde. Der BND-Untersuchungsausschuss beschäftigt sich mit der Frage, ob Kurnaz schon Ende 2002 hätte freikommen können.

19. Januar 2007 - Medienberichten zufolge entschieden sich am 29. Oktober 2002 deutsche Sicherheitsbehörden und das Bundeskanzleramt dafür, Kurnaz die Einreise nach Deutschland zu verweigern, nachdem US-Behörden im September die Freilassung von Kurnaz in Aussicht gestellt hatten. Die Betroffenen verteidigen sich mit dem Argument, das Angebot sei nur ein informeller Vorschlag gewesen. Außerdem sei die Bundesrepublik aufgrund der türkischen Staatsbürgerschaft von Kurnaz nicht zuständig gewesen.

Januar 2007 - In einem "Spiegel"-Interview sagt der damalige Kanzleramtsminister und heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier: "Ich würde mich heute nicht anders entscheiden."

1. März 2007 - Ex-Außenminister Joschka Fischer sagt vor dem Untersuchungsausschuss aus.

Ende März 2007 - Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Ex-Innenminister Otto Schily sagen vor dem BND-Untersuchungsausschuss aus.


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Quelle:
amnesty journal, April 2007, S. 12-14 + 12-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2007