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EUROPA/235: Roma im Kosovo - Die ersten Opfer (ai journal)


amnesty journal 6/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die ersten Opfer
Viele Roma im Kosovo leben in täglicher Angst. Die UNO-Verwaltung ist Teil des Problems.

Von Boris Kanzleiter und Dirk Auer


Agim Shaqiri* schlägt vor, dass wir sein zerstörtes Haus besichtigen sollen. Wir folgen ihm durch ein paar enge "Straßen in ein Ruinenfeld. Shaqiri deutet auf einen Berg aus Schutt: "Hier haben wir früher gewohnt." Dann folgte die Flucht nach Deutschland, drei Kinder kamen dort zur Welt, und vor zwei Jahren wurde die Familie wieder abgeschoben. Seitdem leben die Shaqiris zur Untermiete, ein paar hundert Meter von ihrem alten Haus entfernt. "Wir haben nichts", seufzt der 41-jährige Vater. "Ich finde keine Arbeit und die Kinder gehen aus Angst nicht in die Schule. Meine Frau ist krank." Die Familie lebt von 50 Euro im Monat. Das Geld schicken Verwandte aus Deutschland.

Der Ort Vushtrii ist unter Roma und Ashkali - albanisch sprechenden Roma - im ganzen Kosovo gefürchtet. Gleich zwei Mal waren die Minderheiten in dieser Kleinstadt zwischen Mitrovica und Pristina in den vergangenen Jahren das Ziel von Pogromen albanischer Extremisten. Im Juni 1999, nach dem Einmarsch der Kfor-Truppen, brannte das Roma- und Ashkali-Viertel zum ersten Mal. Fast alle 4.000 Bewohner mussten fliehen. Am 18. März 2004 folgte der zweite Überfall. Die Häuser der Rückkehrer wurden erneut von hunderten Randalierern mit Molotowcocktails angegriffen. Heute leben in Vushtrii nur noch wenige Roma- und Ashkali-Familien. Während der UNO-Sicherheitsrat in diesen Wochen über den zukünftigen völkerrechtlichen Status der Provinz debattiert, geht bei ihnen erneut die Angst um: "Falls es zu neuer Gewalt kommt, sind wir die ersten Opfer", fürchtet Agim Shaqiri.

Die Situation in Vushtrii ist besonders beklemmend, sie ist im Kosovo aber kein Einzelfall. Das European Roma Rights Center (ERRC) in Budapest schätzt, dass im Sommer und Herbst 1999 über zwei Drittel der etwa 120.000 Roma und Ashkali aus der Provinz vertrieben wurden. Es war die umfassendste "ethnische Säuberung" von Roma nach dem Zweiten Weltkrieg. Weil sich einige Roma-Politiker vor 1999 loyal zum Regime von Slobodan Milosevic verhalten hatten, nahmen albanische Extremisten im Anschluss an das Nato-Bombardement alle Roma als "Kollaborateure der Serben" in Kollektivhaftung. Heute bezeichnen einige frühere UCK-Führer, wie der ehemalige Kosovo-Premierminister Bairam Rexhepi, die Ausschreitungen als "Schande". Aber trotz aller Bekenntnisse in Pristina zum Aufbau einer "multikulturellen Gesellschaft" bleiben das Gefühl von Misstrauen und die alltägliche soziale und räumliche Segregation.

Nicht zuletzt ist dafür auch die internationale Kfor-Truppe und die Politik der UNO-Übergangsverwaltung verantwortlich. Wie Augenzeugen berichten, hat die im Juni 1999 in den Kosovo eingerückte Kosovo-Truppe die Pogrome nicht gestoppt. Die Abwesenheit von Schutz durch staatliche Sicherheitsorgane ist ein zentrales Problem der Diskriminierung von Roma in ganz Osteuropa. In der nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre im Kosovo kann das zur Vertreibung von Tausenden führen.

Zum Gefühl ständiger Unsicherheit trägt auch die Straflosigkeit für die Kriegsverbrechen bei. Wie die hochrangige Funktionärin der UNO-Mission im Kosovo (UNMIC) Patricia Waring einräumt, haben die von der internationalen Gemeinschaft aufgebauten Justizorgane im Kosovo bisher keinen der Täter vor Gericht gestellt, die an der systematischen Vertreibungswelle gegen die Roma beteiligt waren. Damit sei auch nicht mehr zu rechnen. "Es ist zu viel Zeit vergangen", sagt Waring. Auch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat in diesem Fall keine einzige Anklage erhoben.

Das Klima der fortgesetzten Straflosigkeit hat in den vergangenen Jahren eine tiefe Kluft des Misstrauens geschaffen. Verstärkt wird diese Distanz durch die Verhandlungen um den zukünftigen völkerrechtlichen Status des Kosovo. Während sich die albanische Bevölkerungsmehrheit von der angestrebten Unabhängigkeit eine schnelle Lösung der drängenden sozialen und politischen Probleme erhofft, bestehen die Regierung in Belgrad und die Kosovo-Serben auf die territoriale Integrität Serbiens. Die Roma und Ashkali als drittgrößte ethnische Gruppe wurden bei den Verhandlungen vollständig übergangen. UNO-Vermittler Martti Ahtisaari weigert sich seit 16 Monaten - trotz zahlreicher Initiativen von Roma- und Ashkali-Organisationen - auch nur eine Delegation ihrer Vertreter zu empfangen. Der frühere Minderheitenbeauftragte der OSZE im Kosovo, Stephan Müller, bezeichnet sein Vorgehen als "zynischen Höhepunkt der Politik der internationalen Staatengemeinschaft" im Kosovo.

Der ehemalige Präsident der Internationalen Romani Union und Abgeordnete im serbischen Parlament, Rajko Djuri, gibt die Meinung vieler Roma und Ashkali aus dem Kosovo wieder. Er sagt, dass die "volle Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte Priorität vor allen territorialen Fragen" haben sollte. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn warnt vor "Chaos" auf dem Balkan, falls Kosovo nicht bald für unabhängig erklärt wird. Vor allem die US-Diplomatie macht Druck für eine schnelle Lösung und warnt vor einem neuen Aufstand albanischer Nationalisten. Die serbischen Regierungsorgane warnen dagegen ihrerseits vor eine Welle der Gewalt, falls Kosovo gegen den Willen von Belgrad völkerrechtswidrig von Serbien abgespalten würde. Ein Kompromiss scheint unmöglich. Die Angst von Agim Shaqiri in Vushtrii hat gute Gründe.

Verstärkt werden die Probleme für die im Kosovo lebenden Roma und Ashkali durch ein Rückführungsabkommen, das im Frühjahr 2005 zwischen der Bundesrepublik und der UNMIK geschlossen wurde. Die abgeschobenen Familien stehen buchstäblich mit leeren Händen da. Die UNO-Verwaltung erklärt, die soziale Integration der Rückkehrer falle in die Verantwortung der Gemeinden. Doch die spielen den Ball zurück: Bei einer Arbeitslosigkeit von offiziell über 40 Prozent und einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 250 Euro gibt es im Kosovo kaum Verständnis für die Nöte von abgeschobenen Flüchtlingen.

Bisher wurden vor allem albanisch sprechende Ashkali abgeschoben, deren Sicherheitssituation die deutschen Innenminister der Länder trotz der Übergriffe im März 2004 als zufrieden stellend bezeichnen. Die eigentliche Abschiebewelle, so ist zu befürchten, steht allerdings erst noch bevor. Wenn die Unabhängigkeit Kosovos durchgesetzt ist und die UNMIK durch eine von der EU geleitete Mission ersetzt wird, fällt auch der bislang geltende Abschiebestopp für die serbisch sprechenden Roma. Insgesamt 38.000 Roma, Ashkali und Ägypter aus dem Kosovo leben noch mit einem ungesicherten Status in Deutschland.


Die Autoren sind freie Journalisten und leben in Belgrad.
Sie betreiben die Website: www.roma-kosovoinfo.com

* Name geändert


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Quelle:
amnesty journal, Juni 2007, S. 26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2007