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EUROPA/237: Der türkische Menschenrechtler Sanar Yurdatapan (ai journal)


amnesty journal 7-8/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Raus aus der Sackgasse
Der Menschenrechtler und Musiker Sanar Yurdatapan setzt sich mit ungewöhnlichen Aktionen für die Meinungsfreiheit in der Türkei ein.

Von Anne Duncker


Wie viele Verfahren gegen ihn eingeleitet wurden, weiß Sanar Yurdatapan selbst nicht mehr genau. Yurdatapan ist ein international bekannter und anerkannter Menschenrechtler, Musiker und Komponist, der 2002 mit dem "Hellmann-Hammett-Preis" von Human Rights Watch ausgezeichnet wurde. "Yurdatapan" bedeutet "der sein Land anbetet". Zu seinem Land hat der Musiker jedoch ein gespaltenes Verhältnis - und dieses zu ihm. Nach dem Militärputsch 1980 floh Yurdatapan aus Angst vor Inhaftierung und Folter mit seiner Familie nach Deutschland. Ihm und seiner Frau wurde daraufhin die türkische Staatsbürgerschaft aberkannt, zehn Jahre lang durften sie nicht mehr in ihre Heimat reisen. Auch nach ihrer Rückkehr in die Türkei hörten die Spannungen nicht auf: Wegen Beleidigung des türkischen Militärs und des Staates, der Veröffentlichung verbotener Literatur sowie Unterstützung des kurdischen Terrorismus wurde der Künstler 1996 zu zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.

Sanar Yurdatapan setzt sich für den Schutz der Menschenrechte in seinem Land ein, insbesondere für die Meinungsfreiheit. Das gilt für die Lösung des so genannten "Kurdenproblems" ebenso wie für den Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern und das Verhältnis zu den christlichen Minderheiten. Gemeinsam mit Künstlern und Intellektuellen veröffentlichte er Texte, die nach Artikel 301 ("Beleidigung des Türkentums") verboten wurden. Zudem publizierte er weitere Broschüren mit "verbotenen Texten". Die dritte Ausgabe des Sammelbandes "Meinungsfreiheit" wurde, gestützt auf eine Unterschriftenkampagne, von 77.673 Personen herausgegeben.

Yurdatapan sieht aber auch positive Entwicklungen in der Türkei. "Wir erleben eine Veränderung im öffentlichen Bewusstsein und in der Diskussionskultur", erklärt er. Die wichtigste Ursache dafür seien die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Dennoch steuere die Türkei bezüglich der Menschenrechtsstandards "in eine Sackgasse". Viele Regelungen bestünden bisher nur auf dem Papier, und selbst dort seien noch nicht alle erforderlichen Standards erfüllt. So würden für Meinungsäußerungsdelikte kaum noch Haftstrafen verhängt, um keinen Skandal zu provozieren, sondern "lediglich" Geldstrafen. Das Problem der eingeschränkten Meinungsfreiheit sei dadurch jedoch nicht gelöst. Im Gegenteil - die zum Teil immens hohen Strafen führen bei Journalisten, Publizisten und Menschenrechtsorganisationen häufig zu einer Selbstzensur.

Durch seinen Einsatz für Religionsfreiheit hat sich Sanar Yurdatapan auch den Respekt vieler muslimischer Menschenrechtsgruppen erworben. Bei einer Demonstration gegen das Kopftuchverbot protestierte er, das Haar mit einem Schal verhüllt, gemeinsam mit jungen Muslimen. "Ich bin Atheist, aber das hindert mich nicht daran, für die Religionsfreiheit einzutreten", erklärt er. Mit Abdurrahman Dilipak, einem islamischen Journalisten, hat er zusammen ein Buch verfasst, das sich mit menschenrechtlichen Themen beschäftigt. Diese Art der Zusammenarbeit befindet sich jedoch noch am Anfang. "Wir wollen die Schnittmenge von Linken, Kemalisten, Religiösen, Reformern, EU-Befürwortern und EU-Gegnern fördern und stärken", sagt Yurdatapan, "nur so können wir Erfolg haben". Der Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink hat auf tragische Weise gezeigt, wie gefährlich es sein kann, für Minderheiten- und Menschenrechte einzutreten. "Viele Menschenrechtsaktivisten haben Angst. Ich bin jedoch überzeugt, dass es das einzig Richtige ist, noch lauter aufzubegehren." Schon vor dem Anschlag hatte Yurdatapan eine Kampagne zur Unterstützung Hrant Dinks, der wegen "Beleidigung des Türkentums" zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden war, ins Leben gerufen.

Doch derzeit sind die antidemokratischen Kräfte auf dem Vormarsch, vieles erinnert Yurdatapan an die Zeit vor dem Putsch von 1980. "Ich mache mir ernsthafte Sorgen - und hoffe, dass ich mich irre." Yurdatapan glaubt an das Potenzial der türkischen Zivilgesellschaft. Doch dafür braucht die Türkei auch die Unterstützung Europas in ihrem Demokratisierungsprozess, sagt der Menschenrechtler. Und sie braucht Persönlichkeiten wie Sanar Yurdatapan.


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Quelle:
amnesty journal, Juli/August 2007, S. 36
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2007