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EUROPA/239: Neues Gutachten - Flüchtlingsrechte gelten auch im Mittelmeer


Pressemitteilung vom 27. September 2007

Zum Tag des Flüchtlings

Neues Gutachten: Flüchtlingsrechte gelten auch im Mittelmeer


Berlin/Frankfurt a. M. 27. September 2007 - Europa schottet sich auch mit illegalen Mitteln gegen Flüchtlinge und Einwanderer ab. Die von der EU-Agentur FRONTEX konzipierte Flüchtlingsabwehr missachtet menschen- und flüchtlingsrechtliche Verpflichtungen der EU-Staaten. Zu diesem Ergebnis kommt ein von amnesty international, der Stiftung Pro Asyl und dem Forum Menschenrechte in Auftrag gegebenes Gutachten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das die Organisationen heute anlässlich des bundesweiten Tags des Flüchtlings vorgestellt haben.

Auch außerhalb der Territorien der EU-Staaten - also etwa auch auf hoher See jenseits der 12-Meilen-Zone - sind die EU-Grenzschützer an Flüchtlings- und Menschenrechte gebunden. Mitten auf dem Meer aufgegriffene Flüchtlinge haben demzufolge das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Sie dürfen auch nicht zurückgeschoben werden, wenn ihnen möglicherweise Verfolgung oder Misshandlung droht. "Flüchtlinge einfach an der Weiterfahrt zu hindern oder zurückzuschleppen, ist also verboten. Sie haben ein Recht darauf, in den nächsten sicheren europäischen Hafen gebracht zu werden", sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL.

ai und PRO ASYL kritisierten auch die Absicht deutscher Behörden, Flüchtlinge aus dem Kosovo und dem Irak trotz der schlechten Sicherheitslage in beiden Ländern abzuschieben. "Auch nach einem Rückzug der UNMIK dürfen Roma und Serben nicht in den Kosovo abgeschoben werden", sagte Wolfgang Grenz, Flüchtlingsexperte von ai. "Der Streit um den zukünftigen Status des Kosovo hat zudem die Atmosphäre so aufgeladen, dass auch Minderheiten wie Aschkali und Ägypter den Ausbruch ethnisch motivierter Gewalt befürchten müssen. Deshalb dürfen sie weder jetzt noch nach einem UNMIK-Rückzug abgeschoben werden."

"Ganz besonders absurd sind die Anstrengungen der Bundesregierung, Iraker so schnell wie möglich abzuschieben", sagte Grenz. Derzeit sind 4,2 Millionen Iraker auf der Flucht - die größte Fluchtbewegung im Nahen Osten seit 1948. "Jeden Tag sterben Dutzende Menschen gewaltsam im Irak. Es ist völlig unbegreiflich, wie deutsche Behörden auf die Idee kommen, irakischen Flüchtlingen ihren Flüchtlingsstatus aberkennen und sie abschieben zu wollen. Stattdessen sollte Deutschland dem schwedischen Beispiel folgen und irakische Flüchtlinge großzügig aufnehmen", sagte Grenz.


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Auch auf hoher See gelten die Menschenrechte für Flüchtlinge und Migrant/innen

Zusammenfassung des Rechtsgutachtens "Menschen- und flüchtlingsrechtliche Anforderungen an Maßnahmen der Grenzkontrolle auf See" von Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M. und Tillmann Löhr (für das European Center for Constitutional and Human Rights) im Auftrag der Stiftung Pro Asyl, von amnesty international und des Forums Menschenrechte


Thema und Fragestellung

Nach Angaben des International Centre on Migration Policy Development überqueren pro Jahr etwa 100.000 bis 120.000 Schutzsuchende und Migranten das Mittelmeer, ohne dass sie im Besitz der für eine Einreise nach Europa notwendigen Papiere wären. Ca. 35.000 von ihnen stammen aus der Sub-Sahara, 55.000 aus den afrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten, 30.000 aus anderen Staaten (vor allem asiatische Länder und Staaten des mittleren Ostens). Dabei wird geschätzt, dass in den letzten zehn Jahren etwa 10.000 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ertrunken sind.

Der Tod dieser Menschen steht im Kontext eines europarechtlich durchformten Migrationsregimes. Die grenzpolizeiliche und paramilitärische Abriegelung der europäischen Außengrenzen bedarf nicht nur nationaler, sondern europäischer Debatte und Gegensteuerung. Im Rahmen dieser bedarf es zum einen eines ganzheitlichen Ansatzes, der Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit und der Legalisierung von Migration aufgreift. Zum anderen muss sich die Durchführung von Grenzkontrollmaßnahmen an völker- und europarechtlichen Maßstäben des Flüchtlings- und Menschenrechtsschutzes messen lassen. Letzteres ist umso wichtiger, als sich unter den Betroffenen regelmäßig auch Personen befinden, die nach geltendem Völker- und Europarecht als schutzbedürftig im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) erachtet werden.

Das vorliegende Gutachten greift diesen Aspekt aus aktuellem Anlass auf. In der aktuellen rechtspolitischen Diskussion wird von staatlicher Seite vereinzelt vertreten, staatliche Grenzkontrollen operierten insbesondere auf Hoher See in einem flüchtlings- und menschenrechtsfreien Raum. Das vorliegende Gutachten untersucht darum die einschlägigen Rechtstexte und bewertet die darauf bezogene Staatspraxis. Aus beidem ergibt sich, dass die europäischen Grenzschützer auch bei exterritorialem Handeln an die internationalen Menschen- und Flüchtlingsrechte gebunden sind.

Bei der Kontrolle der Außengrenzen der EU handeln die Grenzschutzorgane der Mitgliedstaaten in enger Kooperation miteinander. Sie werden unterstützt durch die mit VO 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004 errichtete Europäische Grenzschutzagentur FRONTEX. Die Grenzschutzagentur verfügt über eigenes Personal und hat über ein technisches Zentralregister derzeit Zugriff auf insgesamt 24 Hubschrauber, 19 Flugzeuge, 107 Boote sowie zahlreiches mobiles Gerät. Im Rahmen von durch FRONTEX koordinierten Operationen sieht die Verordnung zur Einrichtung eines Mechanismus zum Aufbau von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke eine maßgebliche Erweiterung der Exekutivbefugnisse vor. Danach können Grenzschutzteams für begrenzte Zeit in dringenden und außergewöhnlichen Situationen eingesetzt werden, wenn der jeweils betroffene Mitgliedstaat solche Unterstützungsmaßnahmen beantragt. Bei FRONTEX wird zu diesem Zweck ein entsprechender Ad-hoc-Einsatzpool von 500 bis 600 Grenzpolizisten der Mitgliedstaaten eingerichtet. Weiter sieht die Verordnung vor, dass bei gemeinsamen Einsätzenunter der Ägide von FRONTEX alle vor Ort eingesetzten Kräfte, also bei einem Einsatz in Spanien oder Italien zum Beispiel auch Beamte der deutschen Bundespolizei, Eingreifbefugnisse haben und somit die Grenzpolizisten des jeweiligen Einsatzstaates unterstützen können. Die Mitglieder der Soforteinsatzteams müssen während der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ihre eigene Uniform tragen. Um sie als Teilnehmer eines Einsatzes eines Soforteinsatzteams auszuweisen, tragen sie auf ihrer Uniform eine blaue Armbinde mit den Abzeichen der Europäischen Union und der FRONTEX-Agentur. Die Mitglieder der Soforteinsatzteams sollen nach der Verordnung, die nach ihrem Art. 14 am 20. August 2007 in Kraft getreten ist, Aufgaben und Befugnisse für Grenzübertrittskontrollen oder Grenzüberwachung gemäß der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) und die für die Verwirklichung der Ziele der genannten Verordnung erforderlichen Aufgaben und Befugnisse wahrnehmen können. Entscheidungen zur Verweigerung der Einreise gemäß Artikel 13 des Grenzkodexes sollen nur von den Grenzschutzbeamten des Einsatzmitgliedstaats getroffen werden. Durch solche vertikal und horizontal arbeitsteiligen Maßnahmen werden auch deutsche Grenzschutzbeamte in Maßnahmen zum europäischen Grenzschutz im Mittelmeer einbezogen.

Vor diesem Hintergrund wurden uns folgende Fragen zur
Begutachtung vorgelegt:

Gelten die völkerrechtlichen refoulement-Verbote aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und weiteren für das Flüchtlings- und Migrationsrecht einschlägigen völkerrechtlichen Verträgen jenseits des zum Landgebiet zählenden Territoriums der Vertragsstaaten (hierzu 3.1. des Gutachtens)?

Gelten die grund- und flüchtlingsrechtlichen refoulement-Verbote des europäischen Primär- und Sekundärrechts jenseits des zum Landgebiet zählenden Territoriums der Vertragsstaaten (hierzu 3.2.)?

Welche see-, menschen- und flüchtlingsrechtlichen Handlungs- und Unterlassungspflichten folgen aus den zu Frage 2. und 3. gefundenen Ergebnissen beim Umgang mit Schutzsuchenden und Migranten auf dem Meer (hierzu 3.3.)?


Zusammenfassung der Ergebnisse:

Die internationalen Verpflichtungen, insbesondere aus der GFK, der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem Antifolterabkommen der UN, und das europäische Primär- und Sekundärrecht verbieten das refoulement von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten, d.h. die Abschiebung von Flüchtlingen in Gebiete, in denen ihnen Verfolgung, Misshandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Die Zurückweisung, das Zurückeskortieren, die Verhinderung der Weiterfahrt, das Zurückschleppen bzw. die Verbringung in nicht zur EU gehörige Küstenländer ist europäischen Grenzschützerinnen und -schützern verboten, solange das Verfahren der administrativen undgerichtlichen Überprüfung des individuellen Schutzbegehrens der potentiell schutzbedürftigen Betroffenen auf europäischem Territorium nicht abgeschlossen ist.

Die europäischen Grenzschutzbehörden sind bei den exterritorialen Grenzschutzmaßnahmen an diese Regelungen gebunden. Bei Maßnahmen auf See gilt dies sowohl innerhalb der eigenen Zwölf-Meilen-Zone als auch für Maßnahmen in der Anschlusszone, der Hohen See und den Küstengewässern von Drittstaaten.

Schutzbedürftige und Migranten, die bei der Überfahrt in Seenot geraten sind, müssen entsprechend den Vorschriften des humanitären Seerechts behandelt werden. Es ist verboten, die geretteten Personen in Drittländer zu verbringen, in denen ein hinreichender Schutz nicht gewährleistet ist.

Die Schutzssuchenden haben einen Rechtsanspruch, in den nächsten sicheren Hafen auf europäischem Territorium verbracht zu werden. Das seerechtliche Kriterium der "Sicherheit" ist hierbei im Licht flüchtlingsrechtlicher Bestimmungen auszulegen.

Aufgrund der völkerrechtlichen Zurechnungskriterien und des Umgehungsverbotes führt die kooperative Einschaltung von Behörden aus Drittstaaten nicht zu einer Entpflichtung der europäischen Grenzschutzorgane.

Sofern drittstaatsangehörige Stellen in die Überwachungs- und Rettungsmaßnahmen europäischer Stellen einbezogen werden, besteht für die europäischen Grenzschutzorgane die Pflicht sicherzustellen, dass die Schutzsuchenden und Migranten im Einklang mit den menschen-, flüchtlings- und seerechtlichen Normen an einen sicheren Ort verbracht werden, an dem Gewähr dafür besteht, dass insbesondere das refoulement-Verbot eingehalten wird. Dies ist in den afrikanischen Transitstaaten nicht gewährleistet, weshalb die Verbringung auf das Territorium von EU-Mitgliedstaaten geboten ist.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 27. September 2007
amnesty international, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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Pro Asyl,
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E-Mail: presse@proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2007