Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

EUROPA/240: Menschenrechte - Anspruch und Realität (ai journal)


amnesty journal 9/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Tiger und Bettvorleger
Wenn es um die Menschenrechte geht, klafft bei der Europäischen Union eine große Lücke zwischen Anspruch und Realität. Eine menschenrechtliche Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Von Barbara Lochbihler


Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind die Grundwerte der Europäischen Union. Wenn es gelingen soll, dass aus der Wirtschafts auch eine fundierte Wertegemeinschaft wird, dann darf dies nicht nur in der Theorie verankert sein, sondern muss Eingang finden in die Realität. Mit viel Elan hat die deutsche ai-Sektion Anfang des Jahres das "menschenrechtliche Monitoring" der deutschen EU-Ratspräsidentschaft begonnen, tatkräftig und fachkundig unterstützt von den ai-Kollegen in Brüssel. Rückblickend stellen wir fest, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft bemüht hat, den Menschenrechtsschutz in den Außenbeziehungen weiter zu entwickeln.

Hervorzuheben ist dabei die neue Zentralasienstrategie der EU, die während der deutschen Ratspräsidentschaft erarbeitet und verabschiedet wurde. Die Einrichtung von EU-Menschenrechtsdialogen mit allen fünf zentralasiatischen Staaten ist zunächst als Erfolg zu werten. Ob und wie sie sich in der Praxis positiv auswirken werden, kann nur mittels genauer Zielvereinbarungen und regelmäßiger Evaluationen bewertet werden. Die Ergebnisse der Überprüfung der Menschenrechtsleitlinie zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern, die bereits 2006 in Auftrag gegeben wurde, wurden aufgegriffen und umgesetzt. Demnach sind alle EU-Außenvertretungen angewiesen worden, lokale Strategien zu entwickeln.

Nach wie vor fehlt jedoch ein strategischer und systematischer Ansatz zur Verankerung der Menschenrechte in den Außenbeziehungen. So wurden Menschenrechtsverletzungen anlässlich des EU-Russlandgipfels thematisiert, beim EU-USA-Gipfel wurden Themen wie Guantánamo und die Todesstrafe jedoch nicht angesprochen.

Blicken wir auf die politische Diskussion zu Menschenrechten innerhalb der EU und an ihren Außengrenzen, dann sehen wir eine große Lücke zwischen Anspruch und Realität. Deutsche und europäische Politiker greifen nur widerwillig die ungelösten Menschenrechtsprobleme innerhalb der EU auf. Allgemein müssen wir konstatieren, dass es in den EU-Innenbeziehungen kaum sichtbare Bemühungen gab, den Menschenrechtsschutz voranzubringen, geschweige denn, in diesem Bereich initiativ zu werden. Mit der Einrichtung der EU-Grundrechteagentur in Wien im März 2007, wird die EU-Anti-Rassismusarbeit zwar weiterhin ermöglicht, doch die Grundrechteagentur verfügt nur über ein beschränktes Mandat, so dass sie z.B. nicht die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit beobachten kann. Ohne eine Stärkung des Mandats kann die Grundrechteagentur weder die CIA-Verschleppungen, noch die Fehler in der Asyl- und Migrationspolitik bearbeiten.

"Hart an der Grenze" - unter diesen Titel haben wir die Asyl- und Migrationspolitik der EU gestellt. Menschen sterben bei dem Versuch, Europa zu erreichen. Auf irreguläre Zuwanderung reagiert die EU vorrangig mit Abwehr. FRONTEX, die neue Grenzkontrollagentur der EU, wird ausgebaut, und mit Hilfe europaweiter Datenbanken sollen Flüchtlinge und Migranten schneller identifiziert und abgeschoben werden können. EU-Staaten verweigern Flüchtlingen das Recht, in Europa Asyl zu beantragen und ein faires Verfahren zu bekommen. Es werden immer mehr Regelungen getroffen, um Flüchtlinge bereits an den Grenzen abzuweisen. Durch finanzielle und technische Hilfen möchte die EU in ausgewählten Regionen den Flüchtlingsschutz stärken. Es gibt Überlegungen, solche "Regionalen Schutzprogramme" mit der Ukraine, Weißrussland, Moldawien und im Gebiet der Großen Seen in Afrika einzurichten. Es ist zu befürchten, dass dies generell dazu dienen soll, den Schutz von Flüchtlingen aus der EU auszulagern. An den EU-Außengrenzen ankommende Flüchtlinge könnten dann wegen der Einstufung dieser Länder als "sichere Drittstaaten" ohne Prüfung ihres Asylbegehrens an Staaten mit diesen Schutzprogrammen verwiesen werden.

Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wurde im Bereich der Flüchtlings- und Migrationspolitik keinerlei Zugewinn an Menschenrechtsschutz erreicht. So bleiben die Forderungen nach dem Zugang zu einem fairen Asylverfahren auf dem Gebiet der EU und an den Außengrenzen sowie nach Verhinderung von Kettenabschiebungen zentrale ai-Themen. Das gleiche gilt für die Forderung, die Europäischen Richtlinien zum Schutz von Flüchtlingen so auszulegen, dass sie einen möglichst guten Schutz gewährleisten. Gleichzeitig müssen konkrete Maßnahmen erarbeitet werden, um legale Zuwanderung zu ermöglichen. Eine sinnvolle Migrationspolitik muss Strategien zur Bekämpfung der Ursachen für Migration beinhalten. Wirtschaftliche Hilfe und faire Handelsbeziehungen, gerade mit der EU, sind notwendige Voraussetzungen dafür.

Die Glaubwürdigkeit der EU hängt davon ab, wie sie die Menschenrechte im eigenen Haus schützt. Doch selten ist dazu Kritik zu hören. Im Namen der Terrorismusbekämpfung sind über den europäischen Luftraum Menschen in Folterstaaten transportiert worden. Regierungen haben dies zum Teil unterstützt und die Aufklärung dieser Vorgänge behindert. Das absolute Folterverbot wird im Anti-Terrorkampf immer wieder in Frage gestellt. Die EU-Staaten ignorierten weitgehend ihre Mitverantwortung für illegale Gefangenenverschleppungen der CIA. Dem Europarat zufolge gab es in Polen und Rumänien CIA-Geheimgefängnisse. Doch vergeblich warteten wir auf klärende Worte, wie die EU die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und zukünftig verhindern will, dass sich solche Vorgänge wiederholen.

Die Ausarbeitung eines Grundlagenvertrages, als Ergebnis der deutschen Ratspräsidentschaft, hat alle anderen Themen überstrahlt. Die Übereinkunft, dass Großbritannien die Grundrechtscharta nur anzuwenden braucht, wenn es im nationalen Interesse liegt, ist eine Niederlage. Sie zeigt, wie wenig sich Großbritannien an bindende Völkerrechtsnormen oder die Europäische Menschenrechtskonvention halten will.

Es bleibt zu hoffen, dass die intensive Arbeit zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft verdeutlicht hat, dass die EU ein aktiver Menschenrechtsakteur sein kann, der unsere Aufmerksamkeit und kritische Unterstützung braucht. Bereits 2009, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament können wir wieder aktiv werden.

Die Autorin ist Generalsekretärin der deutschen ai-Sektion.


*


Quelle:
amnesty journal, September 2007, S. 34-35
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2007