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EUROPA/244: Deutsches Bildungssystem - Schlechtes Zeugnis (ai journal)


amnesty journal 02/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Schlechtes Zeugnis
Das deutsche Schulsystem wirkt sich oft negativ auf Kinder aus, die bereits benachteiligt sind. Mit Kritik und konkreten Reformvorschlägen hat UNO-Bildungsexperte Vernor Muñoz die Politik unter Zugzwang gesetzt.

Von Dorothee Haßkamp


Als der UNO-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz 2007 seinen Bericht über das deutsche Bildungssystem vorlegte, ging ein Aufschrei der Empörung durchs Land: Reflexartig wurde die schmerzliche Kritik zunächst von vielen politisch Verantwortlichen zurückgewiesen. Das deutsche Bildungssystem ist nicht inklusive sondern exklusiv, so der wesentliche Befund des Menschenrechtsbeobachters, und es benachteiligt besonders Kinder mit Behinderung und Kinder, deren Muttersprache nicht deutsch ist. Vor allem die frühe Aufteilung auf das mehrgliedrige Schulsystem war Stein des Anstoßes: Die Kriterien, nach denen die Kinder im Alter von erst zehn Jahren den weiterführenden Schulen zugewiesen werden, seien weder klar noch einheitlich, rügte Muñoz, und die Lehrenden für diese Aufgabe nicht immer angemessen ausgebildet. Weil der Beherrschung der deutschen Sprache bei dieser Entscheidung eine hohe und möglicherweise zu hohe Bedeutung zugemessen werde, werden in der Praxis Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt. Damit leistet aber das Bildungssystem offenbar der Ausgrenzung Vorschub, statt dazu beizutragen, sie zu überwinden: Die Benachteiligten, so Muñoz, seien am Ende doppelt benachteiligt. Sofern Bildung nicht als Menschenrecht betrachtet werde, das jedem Kind zusteht, dürfte es schwierig sein, besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden. Der Bericht konzentriert sich auf den Aspekt der Freiheit von Diskriminierung und die Frage, was gegen die diskriminierenden Effekte des Bildungssystems getan werden kann. Muñoz schlägt unter anderem vor, das dreigliedrige Schulsystem zu überdenken, die vorschulische Bildung auszubauen und kostenlos zugänglich zu machen und mehr Lehrende in die Lage zu versetzen, Deutsch im Unterricht auch als Fremdsprache zu vermitteln. Muñoz dringt auf die Einbindung von Kindern mit Behinderung in reguläre Schulen - dafür müssten zuerst einmal die Schulen barrierefrei zugänglich werden, außerdem sollten verstärkt Menschen mit Behinderung zu Lehrenden ausgebildet werden.

Während der Bericht Vorschläge macht, wie Diskriminierungsfreiheit erreicht werden kann, streift er Inhalte und Ziele der Bildung nur am Rande. Trotzdem wird deutlich: Erziehung lässt sich nicht auf wirtschaftliche Zwecke reduzieren, sie ist - das legen mehrere internationale Pakte fest - immer auch Menschenrechtserziehung. Das bedeutet nicht nur das Vermitteln von Wissen, sondern auch von Werten und Fähigkeiten. Vielfalt, "Diversity", sollte das Fundament jedes Bildungssystems sein, Erziehung sollte persönliche Fähigkeiten fördern und zur Stärkung einer demokratischen Gesellschaft beitragen. Bei der Ausbildung der Lehrenden, so der UNO-Experte, muss die Befähigung zur Menschenrechtserziehung deshalb mehr Gewicht erhalten: Unabhängig von ihrem Unterrichtsfach müssen Lehrende in dieser Methodik stärker geschult werden. Menschenrechtsbasierte Studien sollen die Qualität der Bildung in Deutschland untersuchen und Verbesserungsvorschläge machen. Zum Abschluss seines Berichts erinnert Muñoz die Bundesregierung daran, die erste Phase des Weltaktionsprogramms für Menschenrechtsbildung auszuwerten. Deutschland hatte angekündigt, Materialien und Pläne zu erstellen, um Menschenrechtsbildung über alle Schulformen hinweg vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung zu verankern. Der Nachweis steht noch aus.


Die Autorin ist Mitglied der ai-Themengruppe für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.


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Quelle:
amnesty journal, Februar 2008, S. 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2008