Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

EUROPA/249: Slowenien - Menschen aus Einwohnerregister gestrichen (ai journal)


amnesty journal 06/07/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Niemand kann ohne Papiere überleben"

1992 wurden in Slowenien über 18.000 Menschen, zumeist aus anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawien, aus dem Einwohnerregister gestrichen und ihre Papiere ungültig gemacht. Bis heute leben viele von ihnen ohne Status in Slowenien.

Ein Interview mit Aleksandar Todorovic, einem Vertreter der "Gelöschten Personen".


FRAGE: Wie entstand das Problem der so genannten gelöschten Personen?

ALEKSANDAR TODOROVIC: In den Zeiten des Umsturzes in Jugoslawien nutzte die slowenische Regierung das Chaos, um ihre Politik durchzusetzen. Das Problem der gelöschten Personen betrifft meistens Angehörige von Minderheiten. Unter ihnen waren viele Roma, die oft keine Ausbildung hatten und sich nicht wehren konnten. Sie wurden zur Zielscheibe einer brutalen Behandlung seitens des Staates. Die Betroffenen waren aufgefordert worden, ihre Papiere bei den Ämtern vorzulegen. Und wenn sie dies taten, wurden die Papiere ungültig gemacht. Sogar Führerscheine wurden eingezogen. Im Prinzip war es eine administrative ethnische Säuberung, denn die Betroffenen wurden ohne jegliche Möglichkeit gelassen, ihr Überleben zu sichern. Es ist klar, dass niemand ohne Papiere überleben kann. Um die Menschen nicht selbst abschieben zu müssen, hat man ihnen einfach jegliche Lebensgrundlage entzogen, damit sie "freiwillig" ausreisen.

FRAGE: Was waren die alltäglichen Auswirkungen dieser Löschung?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Die Menschen verloren ihre Krankenversicherung und ihren Rentenanspruch. Ohne Identitätskarte konnten sie weder Geld von ihrem Konto abheben, noch eine Arbeit aufnehmen. Man konnte noch nicht einmal ein Buch in der Bücherei ausleihen. Damit wurden diese Menschen zu illegalen Einwanderern in ihrem eigenen Land. Und genau das war das Ziel dieser Löschung: die Betroffenen zu zwingen, das Land zu verlassen. Natürlich traute sich in den Anfangsjahren noch niemand, öffentlich dagegen zu protestieren, weil man sofort verhaftet und als Illegaler abgeschoben worden wäre. Nachdem ich begonnen hatte, Widerstand gegen diese Behandlung zu organisieren, wurde ich zunehmend bekannt. Gleichzeitig wurde ich auch angefeindet, sodass ich es heute vermeide, auf der Straße herumzulaufen.

FRAGE: Waren auch Kinder von dieser Datenlöschung betroffen?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Nach meinen Informationen wurden rund 3.000 Kindern die Papiere entzogen. Damit konnten die Eltern beispielsweise kein Kindergeld erhalten. Immerhin konnten die Kinder noch die Grundschule besuchen, weil dort "gelöschte" Kinder aufgenommen wurden. Doch weiterführende Schulen oder gar die Universität sind ihnen verwehrt.

FRAGE: Welche Konsequenzen hatte diese Löschung für die Gesundheitsversorgung der Betroffenen?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Nun, diese Menschen verloren zunächst ihre Krankenversicherung. Selbst Personen, die 20 Jahre lang eingezahlt hatten, standen von einem Tag auf den anderen ohne Versicherungsschutz da. Jedes Mal, wenn sie zu einem Arzt oder gar ins Krankenhaus gehen, müssen sie bar bezahlen. Wer sich das nicht leisten kann, wird mit seinem Problem allein gelassen. Und wir wissen von Menschen, die gestorben sind, weil sie sich keinen Arzt- oder Krankenhausbesuch leisten konnten. Auch ich habe mich viele Male selbst behandelt, anstatt zum Arzt zu gehen.

FRAGE: Wie ging es dann weiter?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Einige der gelöschten Personen wurden abgeschoben, unabhängig davon, wie lange sie schon in Slowenien lebten, oder ob sie hier Familie hatten. Es kam vor, dass Kinder in den Urlaub ins Ausland fuhren und ihnen bei ihrer Rückkehr die Einreise nach Slowenien verweigert wurde. Dadurch wurden sie über Jahre von ihrer Familie getrennt.

FRAGE: Welches Interesse hatte der Staat an dieser Löschung?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Es waren sicherlich auch materielle Interessen im Spiel, denn der Staat gewann Geld dadurch, dass die eingezahlten Versicherungs- und Rentenbeiträge nicht ausgezahlt werden mussten. Gleichzeitig wurde Kindergeld eingespart, ebenso wie Arbeitslosengeld für jene, die ihren Job verloren hatten. Ironischerweise wurden einige der gelöschten Personen als Fremdarbeiter registriert und sollten Steuern bezahlen. Das heißt, sie bekamen einerseits eine mit einer Steuernummer versehene schriftliche Aufforderung, Steuern zu zahlen. Doch andererseits hatten sie als Illegalisierte absolut keinerlei Rechte oder gar Ansprüche gegenüber dem Staat. Das ist natürlich widersinnig. Es ist so, als würde man in einer Bäckerei für ein Brot bezahlen, das man dann aber nicht bekommt.

FRAGE: Gab es Klagen vor slowenischen Gerichten gegen dieses Vorgehen?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Ja, bis vor das Verfassungsgericht ging das Verfahren. Und sowohl 1999 als auch 2003 entschied das Gericht, dass die Verweigerung von Papieren und die Löschung aus den Personenregistern verfassungswidrig waren. Gleichzeitig untersagte das Gericht die Abschiebungen und verlangte die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Doch die slowenische Regierung hat sich bis heute geweigert, diese Urteile umzusetzen. Im Gegenteil: die Regierung versucht nun, durch eine Verfassungsänderung die Löschung verfassungskonform zu machen. Derzeit läuft eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das Verfahren ist noch anhängig.

FRAGE: Gab es eine politische Opposition gegen die Löschung?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Lange Jahre wusste niemand davon, weil die gelöschten Personen Angst hatten und sich eher versteckten, als an die Öffentlichkeit zu gehen. Daher gab es keine öffentliche Diskussion darüber. Erst mit den Urteilen des Verfassungsgerichts entstand so etwas wie eine Diskussion darum. Dann wurden auch die ersten Organisationen wie Amnesty International aktiv.

FRAGE: Was kann Amnesty International in diesem Fall tun?

ALEKSANDAR TODOROVIC: Amnesty hat sich bereits stark engagiert. Die Organisation ist den Fällen nachgegangen und hat viel Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit betrieben. Dass ich heute in Deutschland diese Problematik vortragen kann, ist Ergebnis dieser Arbeit.

FRAGE: Das deutsche Außenministerium sagte gegenüber Amnesty, dass es nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten habe, tätig zu werden und man auf die Rechtsstaatlichkeit Sloweniens vertraue.

ALEKSANDAR TODOROVIC: Es ist eine gängige Argumentation der anderen europäischen Staaten, dass es sich hierbei um eine interne Angelegenheit Sloweniens handelt. Dies ist eine Ausrede dafür, dass man den Konflikt mit einem anderen EU-Mitgliedstaat scheut. Doch Menschenrechtsverletzungen sind nie nur eine innenpolitische Angelegenheit. Es ist schon seltsam, dass die EU so stark involviert ist, wenn es um Menschenrechtsverletzungen in Myanmar oder Darfur geht, aber gleichzeitig zu Missständen im eigenen Wirkungsbereich schweigt. Das ist für uns schwer zu verstehen, denn immerhin sind über 18.000 Menschen in Slowenien von dieser Löschung betroffen. Es ist weniger eine juristische, sondern mehr eine politische Frage. Doch die Stimmung in Slowenien ist gegen uns, und diejenigen, die für die Löschung verantwortlich waren, stehen heute an der Spitze des Staates. Wer im Wahlkampf gegen uns hetzt, bekommt mehr Stimmen.


Interview: Ali Al-Nasani

Aleksandar Todorovic stammt ursprünglich aus Serbien und lebte zum Zeitpunkt der "Löschung" bereits viele Jahre in Slowenien. Seine Frau und Kinder sind Slowenen. Er wurde als einziger der Familie aus dem Einwohnerregister "gelöscht". Nach der Geburt seines Sohnes weigerten sich die Behörden, ihn als Vater in die Geburtsurkunde einzutragen. Todorovic war einer der ersten, der Ende der neunziger Jahre die "Löschung" öffentlich ansprach und Klage beim slowenischen Verfassungsgericht einreichte.


*


Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2008, S. 34
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: ai-journal@amnesty.de,
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2008