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EUROPA/264: Menschenrechtspolitik im Europäischen Parlament (ai journal)


amnesty journal 04/05/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Wir haben keine Berührungsängste"

Ein Gespräch mit Michael Gahler, Mitglied im Unterausschuss Menschenrechte im Europäischen Parlament.


FRAGE: Ist die Menschenrechtspolitik im Europäischen Parlament mehr als symbolische Politik?

MICHAEL GAHLER: Wir sind für die Menschenrechte außerhalb der Europäischen Union zuständig, im Gegensatz zum Ausschuss für Bürgerrechte. In den Regionen, mit denen wir uns beschäftigen, ist auf jeden Fall eine Wirkung zu erkennen. Vieles spricht dafür, dass unser Gremium ab der nächsten Wahlperiode zu einem Vollausschuss aufgewertet wird. Das zeigt, welche Bedeutung wir der Menschenrechtsarbeit geben.

FRAGE: Im Parlament über Menschenrechte zu sprechen, hilft nicht immer unbedingt den Menschen vor Ort.

MICHAEL GAHLER: Es ist mehr als symbolisch, weil wir in Not geratenen Menschen helfen, aber auch die Zivilgesellschaft unterstützen. Wir haben vor zwei Jahren bewusst das Instrument für Demokratie und Menschenrechte geschaffen, das mit einer Milliarde Euro ausgestattet wurde und unter anderem Wahlbeobachtungen finanziert. Wir können diese Gelder vor Ort einsetzen, ohne dass wir dafür einen Konsens mit der Regierung haben müssen. Die Regierenden sind ja leider oft Teil des Problems und nicht seiner Lösung.

FRAGE: Bei der Außen- und Sicherheitspolitik verfügt das Parlament aber nur über sehr beschränkte Mitspracherechte.

MICHAEL GAHLER: Das stimmt, aber sobald die Außenpolitik etwas kostet, kommt das Parlament ins Spiel. Das ist beim Bundestag ähnlich. In der Außenpolitik bestimmt zwar die Exekutive, sobald aber Ausgaben damit verbunden sind, müssen diese im Haushalt abgesegnet werden. Das Parlament kann seine Zustimmung verweigern oder so lange verzögern, bis sich die Lage in seinem Sinne entwickelt. Aktuell geht es zum Beispiel um Gelder für den Wiederaufbau in Gaza.

FRAGE: Was hat Sie motiviert, in diesem Ausschuss tätig zu werden?

MICHAEL GAHLER: Mich hat das Thema schon früh interessiert, weil meine Familie Verwandte in der DDR hatte, und ich mich fragte, was dort los ist. Aber Menschenrechtsverletzungen gibt es in allen möglichen Ländern und Systeme, und schon bald hat mich die Entwicklung in Südafrika beschäftigt, von den Zeiten der Apartheid bis zum demokratischen Übergang. Afrika blieb für mich ein Schwerpunkt, neben Osteuropa und China.

FRAGE: Mit welchem Thema beschäftigt sich der Ausschuss besonders?

MICHAEL GAHLER: Wir achten darauf, dass bei allen Verträgen mit Drittstaaten eine substanzielle Menschenrechtsklausel aufgenommen wird. Wir sind nicht naiv und wissen, dass Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern stattfinden, die die Menschenrechte missachten. Wir fragen aber, ob diesen Staaten noch Privilegien, wie sie bei speziellen Beziehungen üblich sind, gewährt werden dürfen. Auch die Entwicklungshilfe kann aufgrund von Menschenrechtsverletzungen eingeschränkt oder sogar ganz eingestellt werden. Solche Reaktionen zeigen Wirkung. Präsident Robert Mugabe regt sich beispielsweise sehr auf, weil wir angeblich Sanktionen gegen Simbabwe verhängt hätten. Dabei gibt es nur Reisebeschränkungen, die sich gegen Funktionäre, einschließlich Mugabe selbst, richten, die von dem Regime profitieren.

FRAGE: Wie sehen Sie die Chancen für einen Wandel in Simbabwe?

MICHAEL GAHLER: Ein Ende des Mugabe-Regimes wäre nicht nur eine Befreiung für die Menschen in Simbabwe, sondern ein positives Signal für ganz Afrika. Es ist sehr zynisch, dass ausgerechnet Südafrika, das aufgrund seiner eigenen Geschichte eine demokratische Entwicklung nehmen will, nun alle Grundsätze über Bord wirft und einem alten "Comrade" wegen seiner früheren Verdienste im Befreiungskampf alles vergibt.

FRAGE: Viele Beobachter sprechen von der Gefahr, dass der Prozess der politischen Destabilisierung auf Südafrika übergreift.

MICHAEL GAHLER: Die Frage ist, was der ANC unternimmt, wenn er seine Macht bedroht sieht. Die neue Abspaltung, der Congress of the People (COPE), gefährdet den ANC zwar nicht substanziell, kann aber vielleicht bei den Parlamentswahlen im April seine bequeme Zweidrittel-Mehrheit beenden. Beim ANC hat sich eine politische Kaste herausgebildet, die abgehoben von der Bevölkerung agiert. Darin liegt zumindest ein Potenzial für Unruhen. Wenn diese Situation eintritt, sucht eine Regierungspartei nach Schuldigen, und dann stehen immer Minderheiten im Fokus. In Simbabwe haben wir diese Entwicklung gesehen und auch in Kenia.

FRAGE: Kann der Ausschuss konkrete Erfolge vorweisen?

MICHAEL GAHLER: In jüngster Zeit haben wir uns für die Religionsgemeinschaft der Baha'i im Iran eingesetzt. Immerhin hat die Regierung angekündigt, Mitglieder der Religionsgemeinschaft in Schiraz freizulassen. Angeblich nicht wegen des internationalen Drucks, sondern weil keine Straftaten vorliegen würden.

FRAGE: Nach Meinung der iranischen Regierung wird das europäische Verständnis von Menschenrechten dem Islam nicht gerecht.

MICHAEL GAHLER: Wer vor die Menschenrechte ein Attribut setzt, lehnt sie im Grunde genommen ab, hat einmal die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi erklärt. Nach Meinung dieser mutigen Frau, die derzeit wieder sehr unter Druck steht, sind die Menschenrechte universell und unteilbar. Und damit hat sie recht. Nach unserer Erfahrung sind alle Weltreligionen menschenfreundlich, misanthrophisch sind ihre Interpreten. Insbesondere dann, wenn, wie im Falle Irans, Religion und Staatsmacht zusammenfallen.

FRAGE: Sehen Sie keine Fortschritte im Iran?

MICHAEL GAHLER: Erst kürzlich gab es wieder eine Steinigung von drei Menschen. Das ist eine mittelalterliche Praxis, die nicht nur vom Europäischen Parlament, sondern auch vom Ministerrat einhellig verurteilt wird. Der Iran wird immer wieder aufgefordert, seinen Verpflichtungen aus der UNO-Charta und dem internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte nachzukommen. In den vergangenen Jahren wurde die Nuklearfrage sehr dominant. Wir müssen darauf achten, dass die Menschenrechtsthemen dadurch nicht verdrängt werden.

FRAGE: Es gibt auch andere Themen, die die Menschenrechtsfrage verdrängen. Häufig haben wirtschaftliche Interessen Vorrang.

MICHAEL GAHLER: Während jeder EU-Präsidentschaft gibt es beispielsweise ein Treffen mit Russland. Wenn, wie kürzlich geschehen, Journalisten und Anwälte ermordet werden, erwarten wir, dass diese Vorfälle zur Sprache kommen - und nicht nur die Themen Gas und Öl. Dieses Anliegen forcieren wir auch mit Resolutionen, und meistens sind wir damit erfolgreich.

Bei China haben wir ebenfalls keine Berührungsängste. Im vergangenen Jahr hatten wir den Dalai Lama im Plenum des Europäischen Parlaments eingeladen. Wir sprechen Themen wie Internetüberwachung oder Verfolgung von Minderheiten an. Und der Ausschuss formuliert klare Erwartungen gegenüber Peking. Im Dezember erhielt Hu Jia den Sacharow-Preis. Unsere Relevanz sieht man vielleicht an dem Aufwand, den die chinesische Regierung betrieben hat, um diese Auszeichnung zu verhindern. Auch an belarussische und sudanesische Menschenrechtsverteidiger haben wir Preise verliehen. Und den dortigen Machthabern ist das alles andere als gleichgültig.


Interview: Anton Landgraf

Michael Gahler
Der Jurist ist seit 1999 CDU-Abgeordneter für West- und Südhessen im Europäischen Parlament. Er ist unter anderem Mitglied des Unterausschusses Menschenrechte und der Iran-Delegation sowie Vizepräsident des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments. Zuvor war er unter anderem als Vizepräsident des Entwicklungsausschusses tätig.


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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2009, S. 28-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2009