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EUROPA/285: Deutschland schwächt UNO-Konvention gegen das Verschwindenlassen (ai journal)


amnesty journal 06/07/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die Angehörigen nicht allein lassen


Wenn wir von "Verschwindenlassen" sprechen, dann geht es um Entführung, Folter und Mord. Dann geht es um den Versuch von Regierungen oder Bürgerkriegsparteien, Angst zu verbreiten und gleichzeitig ihre Verbrechen zu verschleiern.

Besonders das argentinische Militärregime hat diesen Begriff unfreiwillig geprägt. Die Generäle ließen während ihrer Herrschaft von 1976 bis 1983 Zehntausende Oppositionelle verschwinden. Meistens holten Soldaten in Zivil die tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegner nachts ab und brachten sie in geheime Folterzentren. Später wurden viele betäubt aus Flugzeugen über dem Rio de la Plata abgeworfen. Das Militär wollte nicht nur unliebsame Kritiker loswerden, sondern auch keine Beweise für seine Verbrechen hinterlassen.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Noch während der Diktatur wurde ruchbar, was in Argentinien geschah. Vor allem die "Mütter der Plaza de Mayo" machten die Verbrechen international bekannt. Sie wollten wissen, was mit ihren Kindern geschehen war und wurden so zu Symbolfiguren. Zu Heldinnen wider Willen.

Angehörige, die wissen wollen, was mit ihren Kindern, Eltern, Ehegatten und Geschwistern geschehen ist, sind die Hauptpersonen auf den folgenden Seiten [der Printausgabe]. Sie kommen aus Argentinien, wo inzwischen die Täter vor Gericht stehen, aus Kolumbien, wo Angehörige auf die Ergebnisse von Exhumierungen warten, um das Schicksal ihrer Familienmitglieder aufzuklären, oder aus Nepal, wo nach dem Friedensschluss beide Bürgerkriegsparteien Aufklärung versprachen, aber nur öffentlicher Druck zu ersten Anklagen führte.

Der Kampf der Angehörigen für Wahrheit und Gerechtigkeit hat auch die Entwicklung in Gang gebracht, die schließlich zur UNO-Konvention gegen das Verschwindenlassen (oder "erzwungenes Verschwinden") geführt hat. Seit 2006 ist die Konvention in Kraft. Zwar kann internationales Recht allein keine Verbrechen verhindern - in ihrem jüngsten Bericht dokumentiert die UNO-Arbeitsgruppe gegen das erzwungene Verschwinden 42.393 offene Fälle in 79 Ländern. Doch stärkt das internationale Recht den Angehörigen den Rücken. Es hilft ihnen, die internationale Öffentlichkeit zu mobilisieren und letztlich eine Verurteilung der Täter zu erreichen.

Auch Deutschland hat die Konvention gegen das Verschwindenlassen ratifiziert und die Bundesregierung hat inzwischen einen Gesetzentwurf zur Umsetzung vorgelegt, der wichtige Schritte beinhaltet. Allerdings sieht dieser, entgegen den Vorgaben der Konvention, keinen eigenen Straftatbestand "Verschwindenlassen" vor. Stattdessen verweist die Regierung auf die bereits vorhandenen Straftatbestände Freiheitsberaubung, Nötigung oder erpresserischer Menschenraub. Damit wird sie dem eigentlichen Verbrechen jedoch keineswegs gerecht, das durch staatliche Willkür sowie die anschließende Verschleierung gegenüber den Angehörigen und der Öffentlichkeit gekennzeichnet ist. Mit der derzeitigen Formulierung des Gesetzentwurfs schwächt Deutschland letztlich die Konvention statt mit gutem Beispiel voranzugehen.


Leonie von Braun ist Sprecherin der Themengruppe Straflosigkeit der deutschen Amnesty-Sektion.


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2010, S. 21
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2010