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EUROPA/288: "Niemand ermittelt gerne gegen sich selbst" (ai journal)


amnesty journal 08/09/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Niemand ermittelt gerne gegen sich selbst"

Kennzeichnungspflicht für Beamte und unabhängige Ermittlungen bei Übergriffen: Wie viel Kontrolle braucht die Polizei?
Ein Streitgespräch zwischen Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, und Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GDP).

Moderation von Ferdinand Muggenthaler


LÜKE: Die Polizei gehört zu den wenigen Staatsorganen, die Gewalt ausüben dürfen. Deshalb müssen wir genau hinsehen. Das haben wir gemacht, und uns fiel auf, dass in vielen Fällen die Ermittlungen gegen Polizisten im Sande verlaufen, weil die Beamten nicht identifiziert werden können. Deshalb fordern wir als eine Maßnahme die allgemeine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte.

FREIBERG: Natürlich muss staatliches Handeln in einem Rechtsstaat immer überprüfbar sein. Aber dazu bedarf es nicht der Kennzeichnungspflicht. Die Polizei bei uns in Deutschland geht offen mit dem Bürger um, wird vom Bürger bezahlt und orientiert sich immer am Bürgerwillen. Wir genießen eine sehr große Zustimmung in der Öffentlichkeit. Darauf sind wir stolz. Im Alltag spielt die Frage nach der Kennzeichnung keine Rolle, und viele Polizisten sind auch im Alltag mit Namensschild versehen.

Die Diskussion um die Kennzeichnungspflicht kommt nur bei geschlossenen Einsätzen auf, typischerweise bei Demonstrationen, wie etwa am 1. Mai in Berlin oder Hamburg. Die Polizei sieht bei diesen Einsätzen durch ihre Schutzkleidung martialisch aus. Diese Schutzkleidung ist aber lebensnotwendig, denn die Gewalt gegen die Polizei wächst und wird immer brutaler. Da stellen sich für uns ganz andere Fragen, nämlich die nach einem besseren Schutz für die Polizei. Wenn sich unsere Einsatzkräfte wehren, kommen Klagen, die Polizei habe unverhältnismäßige Gewalt angewendet. Das sind sicher die Fälle, auf die sie anspielen.

LÜKE: Nicht nur. Es gibt auch Fälle, in denen eine Diskothek gestürmt wird, weil jemand gesucht wird, und dann Unbeteiligte verletzt werden. Die Polizisten, die dort geprügelt haben, konnten nie ermittelt werden, weil sie Masken und Helme trugen. Deswegen denken wir, dass eine Kennzeichnung sinnvoll ist.

FREIBERG: Aber bei einer Gewahrsamsnahme steht in der Regel fest, wer wo was macht. Mir ist kein Fall in Berlin in den vergangenen Jahren bekannt, wo hinterher der beschuldigte Kollege nicht festgestellt werden konnte. Es wird ja heutzutage fast jeder Einsatz mit Video aufgezeichnet.

LÜKE: Aber wenn er sowieso identifiziert wird, warum dann keine Kennzeichnung an der Uniform?

FREIBERG: Weil es dann auch privat zu Bedrohungen kommt. Sie sollten mal lesen, wie Kollegen schon jetzt im Internet übelst beschimpft werden und wie mit Fotos nach ihnen gefahndet wird. Aus diesen Gründen lehnen alle Kollegen bei geschlossenen Einsätzen die Kennzeichnung ab. Das Risiko, das der Einzelne eingeht, ist einfach zu groß.

LÜKE: Aber mit Nummern wäre das doch nicht der Fall.

FREIBERG: Wenn Sie die Berliner Kollegen fragen, die wirklich ohne Ausnahme jedes Wochenende die Einsätze fahren, dann sagen die: Kommt gar nicht in Frage. Man muss ja immer sehen, dass die Gewalt gegen Polizisten ein Ausmaß angenommen hat, das früher undenkbar war. Und wenn der Polizist das Gefühl hat, er gefährdet sich und seine Familie auch privat, dann schreitet er nicht mehr ein oder zu spät.

LÜKE: Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir sind gegen Gewalt gegen Polizisten. Und die muss und wird ja auch bekämpft und die Täter zur Rechenschaft gezogen. Aber wir müssen als zivilgesellschaftliche Organisation die anderen Fälle aufnehmen, in denen Staatsorgane im Verdacht stehen, jemanden misshandelt zu haben und dann die Strafverfolgung nicht funktioniert. Ich sehe aber nicht, dass durch die Kennzeichnung ein Nachteil für den einzelnen Polizisten entsteht. Im Gegenteil, es würde auch falschen Vorwürfen gegen die Polizei vorgebeugt.

FREIBERG: Nein, denn die Anzeigen, die nicht gerechtfertigt sind, die bleiben ja.

LÜKE: Das glaube ich nicht. Wenn Sie eine Einheit haben und Ihre Kamera wird kaputt geschlagen und Sie wissen, das war die Einheit X5. Sie haben fünf Polizisten, zum Glück geschützt, mit Helm. Dann erstatten Sie eine Anzeige, auch aus zivilrechtlichen Gründen, gegen alle fünf. Wenn Sie sich aber erinnern können, dass es X51 und X52 waren, die Ihnen direkt gegenüberstanden mit Knüppeln, dann machen Sie das im Zweifel nur gegen X51 und X52.

FREIBERG: Das gewährleistet schon das heutige System. Wenn Sie eine Anzeige gegen die Einheit erstatten, wird intern ermittelt und Sie kriegen raus, wer das war.

LÜKE: Da kommen wir zu unserer zweiten Forderung, die nach unabhängiger Ermittlung.

FREIBERG: Was meinen Sie mit einer unabhängigen Ermittlung? Die Beamten der internen Ermittlungen stehen nicht in dem Ruf, parteiisch zu sein. Und dass Staatsanwaltschaften in solchen Fällen polizeifreundlich wären, ist mir auch neu. Legitimierte Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse haben auch nicht diesen Ruf. Die Polizei ist umzingelt von Kontrollmechanismen, einschließlich der Medien. All denen Abhängigkeiten zu unterstellen, halte ich nicht für angemessen.

LÜKE: Das machen wir nicht. Aber wir kennen Fälle in Deutschland, in denen Beamte aus der gleichen Einheit ermittelt haben, und niemand ermittelt gerne gegen sich selbst. Beispiele aus anderen Staaten zeigen, dass Ermittlungen umfassender, schneller und unparteiischer geführt werden, wenn man eine unabhängige Untersuchungskommission hat.

FREIBERG: Den Grundgedanken verstehe ich durchaus. Man muss nicht von Corpsgeist sprechen, aber eine gewisse Geschlossenheit nach außen gibt es in allen Berufsgruppen. Das gilt für Amnesty International, für die Ärzte und auch für die Polizei. Aber nehmen Sie Kunstfehler bei Ärzten. Auch da untersuchen die Ärzte selbst. Wer soll es sonst machen? Ich bin sogar überzeugt, dass bei der Polizei die Kollegen viel mehr der Wahrheit verpflichtet sind als in anderen Bereichen. Deswegen sind fast alle Fälle, die durch die Medien gehen, auch durch Kollegen aufgeklärt worden.

Natürlich muss man darauf achten, dass nie der Verdacht aufkommt, dass Verdächtiger und Ermittler unter einer Decke stecken. In Hamburg hat man deshalb eine Einheit geschaffen, die nur gegen die Polizei selbst ermittelt. Die Einheit hat bewusst gesagt, wir kappen die Drähte zum Rest der Polizei, die sind auch woanders untergebracht. Das geht soweit, dass die Kollegen sagen, das sind nicht unsere Kollegen.

LÜKE: Ja, Hamburg hat da einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht. In diese Richtung müssten die anderen Bundesländer auch gehen. Aber selbst in Hamburg ist die Einheit noch Teil der Polizei. Wir wollen eine institutionell völlig unabhängige Ermittlungsinstanz.

FREIBERG: Es kann nur jemand ermitteln, der das Polizeihandwerk gelernt hat und an Recht und Gesetz gebunden ist.

LÜKE: Richtig. Aber wir sehen das größte Problem darin, dass bei Ermittlungen gegen die Polizei oft nicht handwerklich sauber gearbeitet wird.

Amnesty beschäftigt sich ja auch mit Polizeifragen in anderen europäischen Ländern. In Österreich haben wir dabei institutionellen Rassismus festgestellt. Was sich in Deutschland durchzieht, und was ich besorgniserregend finde, ist, dass es bei Vorwürfen gegen die Polizei Indizien gibt, dass die Ermittlungen nicht umfassend geführt werden, nicht unverzüglich und nicht unparteiisch. Ein Beispiel ist der Fall Özdamar, ein drogenabhängiger und psychisch kranker Mann, der auf der Polizeiwache in Hagen starb. Da sagte die Staatsanwaltschaft einen Tag nach dem Vorfall, sie sehe kein Fehlverhalten der Polizisten. Das kann keine gründliche Ermittlung gewesen sein. Dadurch gerät auch die Polizei unnötig in Misskredit. Auch dieser Misskredit könnte durch unabhängige Untersuchungskommissionen vermieden werden, wie es sie zum Beispiel in Irland und Großbritannien gibt.

FREIBERG: Ich kann die Situation in anderen Ländern nicht beurteilen. Was Deutschland angeht: Natürlich ist nichts vollkommen, auch bei der Polizei nicht. Aber schon heute kennt der Kollege, der ermittelt, die Kollegen gar nicht, gegen die er ermittelt. Hier sehe ich also kein grundsätzliches Problem. Natürlich ist es für die Betroffenen unbefriedigend, wenn Verfahren eingestellt werden. Aber dass die Beweislage schlecht ist, gibt es auch in anderen Fällen. Aber das ist manchmal so im Rechtsstaat. Im Fall Hagen wurde sogar sehr gründlich ermittelt und nicht nur von der Polizei.

LÜKE: Das sehen wir in dem Fall anders. Aber Sie stimmen mir doch zu, dass man gründlich in alle Richtungen ermitteln muss.

FREIBERG: Ja, natürlich.

LÜKE: Aber das ist das größte Problem leider, dass nicht umfassend ermittelt wird.

FREIBERG: Das glaube ich nicht. Nach meinem Eindruck ermitteln die Polizisten ganz professionell und die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen in diesen Fällen leitet, arbeitet genauso ordentlich und entscheidet hinterher, ob das Verfahren eingestellt oder Anklage erhoben wird. Und wenn jemand den Eindruck hat, hier sei nicht umfassend ermittelt worden, dann kann er dieses Verfahren auch überprüfen lassen.

LÜKE: Ja, das ist der normale Instanzenweg. Aber der Knackpunkt liegt darin, dass nicht umfassend und unverzüglich ermittelt wird und so Beweise verloren gehen. Deshalb empfiehlt auch der Europarat unabhängige Untersuchungskommissionen.

FREIBERG: Diese Diskussion muss auf der politischen Ebene geführt werden. Ich sehe Ihre Empfehlungen auch nicht als Angriff. Aber man muss versuchen, die Kollegen, die in der Praxis sehr schwierigen Situationen ausgesetzt sind, zu überzeugen. Und man muss sie vor unhaltbaren Vorwürfen schützen.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2010, S. 30-32
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2010