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EUROPA/293: Praxisnahe Polizeiausbildung in Eutin (ai journal)


amnesty journal 08/09/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Wir sind Polizei

In welche Grundrechte greife ich als Polizist ein, wenn ich jemanden festnehme? Wie feuere ich eine Waffe ab? Wann darf ich den Schlagstock einsetzen? Daniel Kreuz (Text) und Bernd Hartung (Fotos) haben Polizeianwärter in Schleswig-Holstein zwei Tage lang begleitet.

Von Daniel Kreuz


Irgendwo hier muss der Mann sein. In aller Eile durchsucht die Polizistin Nadine Kurz zusammen mit drei Kollegen die Werkstatt. Der Lärm ist ohrenbetäubend, immer wieder heulen Pressluftschrauber auf, es riecht nach Öl und Abgasen. Es fällt schwer, sich in der großen Halle zwischen den aufgebockten Fahrzeugen auf den Hebebühnen und den vielen Geräten zu orientieren. Wie der Gesuchte genau aussieht, wissen die Polizisten nicht. Nur, dass er hier arbeitet. Und dass er kein angenehmer Zeitgenosse zu sein scheint: wegen gefährlicher Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung hätte er heute eine Haftstrafe antreten sollen. Doch ist er nicht im Gefängnis erschienen. Dafür sollen nun Nadine Kurz und ihre Kollegen sorgen. Nach langen Minuten haben sie ihn endlich gefunden. Die Verhaftung verläuft reibungslos.

Im Gefängnis wird der Gesuchte aber trotzdem niemals ankommen. Denn er ist in Wirklichkeit ein Ausbilder der Landespolizei Schleswig-Holstein, der den Kriminellen nur mimt, und die Werkstatt steht auf dem Gelände der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung der Bereitschaftspolizei des Landes Schleswig-Holstein in Eutin. Nadine Kurz ist eine von rund 150 Polizeischülerinnen und -schülern, die das erste Jahr der Grundausbildung für den mittleren Dienst fast hinter sich haben. Die angehenden Polizisten werden in Strafrecht, Selbstverteidigung, Schießen und Psychologie unterrichtet, zu ihren Fächern gehören aber auch Deutsch, Englisch, Sport sowie Staats- und Verfassungsrecht. Außerdem gibt es Rollenspiele und Einsatztrainings, so wie heute. In wechselnden Teams müssen die Schüler vier Einsätze absolvieren: Neben der Vollstreckung eines Haftbefehls geht es um Ruhestörung, Körperverletzung und Diebstahl.

Am Ende der Ausbildung sollen sie in der Lage sein, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. Und daher bestimmen die Polizeischüler selbst, wie sie im Einsatz vorgehen. Auch darüber, von welcher Seite sie sich der Werkstatt nähern wollen. "Wir fahren von links vor", schlägt Nadine Kurz vor. "Aber das ist doch eine Einbahnstraße, von der Seite dürfen wir gar nicht kommen", entgegnet ihr Kollege. "Doch, wir sind Polizei."

Die Schüler sollen bei diesen Trainings alles anwenden, was sie bis dahin gelernt haben. Insgesamt dauert die Ausbildung zweieinhalb Jahre, sie ist in drei Abschnitte gegliedert: Im ersten Jahr erfolgt die Grundausbildung, im zweiten Jahr gibt es neben der fachlichen Ausbildung ein sechsmonatiges Berufspraktikum auf einem Polizeirevier oder einer anderen Dienststelle. Danach kehren die Polizeischüler wieder sechs Monate nach Eutin zurück, um ihre Abschlussprüfung abzulegen.

Das 35 Hektar große Gelände liegt wenige Autominuten vom Eutiner Zentrum entfernt auf einer Anhöhe, umgeben von Wäldern und Wiesen. Der Rasen vor den rot geklinkerten Gebäuden aus den Fünfzigerjahren ist frischt gemäht, die Hecken sind akkurat geschnitten. In den Fenstern sieht man Sportpokale, zum Trocknen aufgehängte Handtücher oder schwarz-rot-goldene Blumenketten. Fast könnte man meinen, man blicke auf ein Studentenwohnheim - hinge nicht im nächsten Fenster eine schusssichere Weste.

Ein 36-jähriger ehemaliger Zeitsoldat drückt in Eutin ebenso die Schulbank wie ein 19-jähriger Abiturient oder eine 16-jährige Realschülerin. Privatsphäre gibt es kaum. Bis zu drei Auszubildende teilen sich eine Stube, nach Frauen und Männern getrennt. Jeder Auszubildende ist verpflichtet, hier zu wohnen. Wer will, kann abends nach Hause fahren, solange er morgens wieder fit zum Dienst erscheint.


Ein Kopftreffer mit dem Schlagstock kostet 50 Liegestütze

Gewöhnlich beginnt ein Ausbildungstag in Eutin um 7:30 Uhr und endet um 16 Uhr. Bis sieben Uhr müssen die Schüler in der Mensa gefrühstückt haben. Dann geht es entweder auf den Übungsplatz, den Sportplatz oder in den Seminarraum. Dort gibt es theoretischen Unterricht, manchmal wird aber auch hier richtig geschwitzt.

Die Tische sind an die Wand gerückt, in einer Ecke sitzen Schülerinnen und Schüler in grünen Hosen, schwarzen T-Shirts und schusssicheren Westen und beobachten ihren Mitschüler, der gerade versucht, einen Angreifer abzuwehren: "Auf den Boden, oder ich setze den Schlagstock ein!" Auch in diesem Fall ist der vermeintliche Angreifer ein Ausbilder. Er trägt einen Helm und dicke Schutzpolster am ganzen Körper, auch der Schlagstock ist mit Schaumstoff ummantelt. Durch die weit geöffneten Fenster dringen die Schreie bis auf die Straße. Es ist stickig und heiß. Das Quietschen der Turnschuhe wechselt sich ab mit dem lauten Knall, wenn der Schlagstock mit voller Wucht auf die Schutzpolster trifft.

Wie Boxer tänzeln die beiden Kontrahenten umeinander herum, Schweißperlen rinnen an ihren Schläfen herab. Ein weiterer Ausbilder feuert die Schüler an, wie ein Boxtrainer seinen Schützling: "Achten schlagen, Achten schlagen, und näher ran jetzt!" Noch lauter ruft er, wenn die Schüler auch dann noch einmal zuschlagen, wenn der Angreifer eine Verletzung simuliert oder sich schon ergeben hat: "Niemals über den schwächsten Punkt hinaus schlagen, Mensch!" Schläge gegen den Kopf sind strikt verboten. Trifft einer der Auszubildenden doch den Kopf des Angreifers, drohen ihnen im nächsten Sportunterricht 50 Liegestütze.


Selbstständiges Arbeiten statt Marschieren

Wer in Eutin ausgebildet wird, kehrt irgendwann während seiner Polizeilaufbahn hierher zurück. Entweder im Rahmen einer Fortbildung - oder als Ausbilder, so wie Arnd Näthke. Der Erste Polizeihauptkommissar arbeitet seit 1988 in Eutin, 1983 wurde er hier selbst ausgebildet. "Damals orientierte sich alles an militärischen Abläufen, und nicht daran, was im Dienst gefragt war. Die meiste Zeit haben wir mit Marschieren zugebracht", sagt der 46-Jährige kopfschüttelnd. "Seither sind wir ein großes Stück weitergekommen."

Spindkontrollen oder Wachhabende, die überprüfen, ob auch alle um 22 Uhr im Bett liegen, gibt es nicht mehr, abgeschafft ist auch die Meldung im Klassenzimmer "Ausbildungsgruppe angetreten". Zwar müssen die Schüler tagsüber ihre blaue Uniform tragen, doch nur bis zum Dienstschluss um 16 Uhr. Auch das Grüßen vor dem Vorgesetzten ist nicht mehr vorgeschrieben, stattdessen heißt es meist: "Moin, moin, und?" - "Jo, muss, nich'?"

Während der Ausbildung wird auch das Thema rechtswidrige Polizeigewalt angesprochen, vor allem, wenn die Polizeischüler ihr sechsmonatiges Praktikum beendet haben. "Regelmäßig berichten uns dann einige Schüler, dass sie Übergriffe von Polizisten erlebt haben", so Näthke. Die Erlebnisse werden dann in Einzelgesprächen oder Gruppendiskussionen aufgearbeitet und die jeweilige Dienststelle informiert. Vor wenigen Jahren erstattete eine Polizeischülerin mit der Rückendeckung ihrer Ausbilder gegen einen Polizisten Anzeige wegen Körperverletzung im Amt. Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und der Polizist verurteilt.

Dass dieser Fall eine Ausnahme ist, darüber ist sich in Eutin nicht nur Andreas Schütt im Klaren. Der ehemalige Realschullehrer ist als Leiter des Fachbereichs Allgemeinbildung unter anderem zuständig für Menschenrechtsbildung. Er weiß: "Wenn die Schüler in das Praktikum gehen, sind sie das schwächste Glied in der Kette. Und niemand möchte als Nestbeschmutzer dastehen." Bei der Polizei gebe es ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl. "Das ist einerseits verständlich und teilweise auch nötig, weil sich Polizisten im Einsatz aufeinander verlassen müssen", so der 57-Jährige. "Andererseits bedeutet das aber auch: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus." Sprich: Polizisten sagen selten gegen ihre Kollegen aus.

Dass auch zivile Lehrer an der Ausbildung beteiligt sind, ist für Schütt ein Zugewinn: "Ein externer Blick auf ein so hierarchisches Gebilde wie die Polizei ist hilfreich und notwendig." Bis auf wenige Ausnahmen werde dies auch begrüßt. "Aber wir sind hier ganz klar die Exoten. Und so mancher Uniformierter belächelt uns sicherlich auch ein wenig."

Bereits zwei Mal hat Schütt mit der Eutiner Gruppe von Amnesty International zusammengearbeitet, unter anderem im September vergangenen Jahres bei einer gut besuchten Podiumsdiskussion auf dem Gelände der Polizeidirektion über das absolute Folterverbot. Die Sprecherin der Amnesty-Gruppe Miranda Krützfeldt lobt die gute Zusammenarbeit: "Es ist wohl bundesweit einmalig, dass die Eutiner Polizeidirektion so offen und bereitwillig brisante Themen aufgreift." Die nächste gemeinsame Veranstaltung ist bereits für den kommenden September geplant. Dann geht es um den im Juli veröffentlichten Amnesty-Bericht "Täter unbekannt" zu rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland.


"Das Polizist-Sein hört nie auf"

Wenn Einsatztrainings oder Schießübungen anstehen, haben die Schüler immer ihre Pistole dabei, um sich an das Tragen einer Waffe zu gewöhnen. Ansonsten verstauen sie die Walther P99 in Schließfächern auf den Fluren. Schon in den ersten beiden Wochen der Ausbildung beginnen die Schüler, den Umgang mit der Pistole zu erlernen. Für Nadine Kurz ist das Tragen einer Waffe mittlerweile nicht mehr ungewöhnlich: "Ich weiß, dass sie später meinem Kollegen, mir oder jemandem in Not das Leben retten kann. Aber ich hoffe, dass ich sie niemals einsetzen muss."

Etwas mehr als ein halbes Jahr muss die Polizeianwärterin noch warten, bis ihr Praktikum auf einer Dienststelle beginnt. Dann wird sie nicht mehr nach Ausbildern suchen, sondern nach echten Kriminellen. Und sie wird über ihre Einsätze Berichte anfertigen müssen - genauso, wie sie es in Eutin gelernt hat. Auch über den Einsatz in der Werkstatt und die anderen Trainings und Rollenspiele an diesem Tag muss sie einen Bericht verfassen. Dann hat sie Feierabend, und bald ist Wochenende.

Wie die meisten wird sie es nicht auf dem Gelände verbringen. "Hier hat man fünf Tage die Woche, 24 Stunden am Tag nur Polizei um sich herum. Das Polizist-Sein hört einfach nie auf", sagt Kurz. "Da kann ein Tapetenwechsel am Wochenende nicht schaden."


Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Angetreten. Nadine Kurz (zweite von rechts) und ihre Kollegen vor dem Beginn des Einsatztrainings in Eutin.
Alles sicher. Bevor das Einsatztraining beginnt, überprüft ein Ausbilder, ob die Waffen ungeladen sind.
Schlagen, schießen, suchen, festnehmen. Praxisnahe Ausbildung in Eutin.

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Quelle:
amnesty journal, August/September 2010, S. 34-37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2010