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EUROPA/297: "Es gibt kein Roma-Problem" (ai journal)


amnesty journal 10/11/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Es gibt kein Roma-Problem"

Die Diskriminierung von Sinti und Roma ist tief in der europäischen Geschichte verwurzelt und wurde nie ernsthaft bekämpft, meint der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann.

Interview von Anton Landgraf


FRAGE: Warum nehmen vor allem in Osteuropa die Übergriffe gegen Sinti und Roma so stark zu?

WOLFGANG WIPPERMANN: Es gibt sie leider schon seit einiger Zeit, nur wurde wenig darüber berichtet. Das interessiert uns, die übrigen Europäer, wenig.

Die Roma sind das geworden, was die Juden vor dem Holocaust waren, nämlich das Hauptobjekt des Hasses. Die Roma gehören immer zu den ersten, die unter die Räder kommen. Ihre Arbeitsiosenzahlen sind ja katastrophal, sie leben auf dem untersten Level, was den Zugang zu Bildungseinrichtungen und Gesundheitseinrichtungen etc. angeht. Mit der Demokratisierung in den osteuropäischen Ländern nahm auch leider der Nationalismus wieder zu. Der Nationalismus definiert sich oder die jeweilige Nation immer durch die Abgrenzung, durch die Feinde. Und das waren und sind immer noch die Juden, aber jetzt vermehrt eben die Roma. Wenn man beispielsweise sieht, was jetzt in Ungarn los ist, das ist unfassbar.

Ein weiterer Punkt ist die Verantwortung insbesondere der EU. Wir haben mit Bulgarien und Rumänien zwei Staaten aufgenommen, die in keiner Weise den Kopenhagener Erklärungen und den Kopenhagener Bedingungen entsprechen, nämlich Menschenrechte und Minderheitenrechte zu wahren. Dagegen ist kein Protest erfolgt.

FRAGE: Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und dem Hass auf Roma?

WOLFGANG WIPPERMANN: Nein. Eine Krise verschärft die vorhandenen Vorurteile. Aber die Ursachen liegen weitaus tiefer und sie sind eben auch niemals überwunden worden. Ich würde schon fast sagen, dass der Antiziganismus, die Feindschaft gegen Roma, ein Bestandteil des europäischen Kulturkreises ist. Man ist eben Antiziganist und weiß, dass die Roma böse Dinge tun.

FRAGE: Werden Roma stärker diskriminiert als andere Minderheiten?

WOLFGANG WIPPERMANN: Generell ist die Lage von Minderheiten der Gradmesser für die Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie in einer Gesellschaft, das war immer so und ist es heute noch. Und unter diesen Minderheiten ist die jeweilige Roma-Minderheit in den einzelnen Staaten besonders schlecht gestellt.

FRAGE: Wieso werden gerade Roma zum Feindbild stilisiert?

WOLFGANG WIPPERMANN: Zunächst einmal sind die Roma dafür in keiner Weise verantwortlich. Es gibt keine Roma-Frage, kein Roma-Problem, weder in nationaler Hinsicht - sie sind loyale Staatsbürger - noch in religiöser Hinsicht - es gibt keine eigene Roma-Religion. Antiziganismus ist nicht das Problem der Roma, sondern der Mehrheitsgesellschaft. Die Erklärung, warum diese Feindschaft so verbreitet ist, liegt darin, dass sie niemals bekämpft wurde. Sie wurzelt tief in der Geschichte. Mentalitäten sind Gefängnisse von langer Dauer, sagen die Historiker.

FRAGE: Wie äußerte sich diese Ausgrenzung?

WOLFGANG WIPPERMANN: Es gibt zunächst einen religiösen Antiziganismus. Dabei wird den Roma vorgeworfen, mit dem Teufel verbündet zu sein. Ich glaube, dass das tiefenpsychologisch und historisch eine große Rolle spielt. Beim sozialen Antiziganismus wird ihnen vorgeworfen, zu arm, zu unangepasst zu sein. Sie werden also für ihre eigene schlechte Lage, für die sie nichts können, verantwortlich gemacht. Und es gab den rassistischen Antiziganismus, der vor allen Dingen in der NS-Zeit gepflegt wurde.

Man könnte noch sagen, dass es analog zum sekundären Antisemitismus einen sekundären Antiziganismus gibt, nämlich einen Antiziganismus nicht trotz des Völkermordes, der in Romanes "Porajmos", das Verschlungene, heißt, sondern gerade wegen ihm. Roma würden den Porajmos für politische und finanzielle Zwecke ausnutzen, lautet der Vorwurf. Dabei hat kaum ein ausländischer Roma bis heute Wiedergutmachung bekommen, weder von uns, noch von den Staaten, in denen er lebt.

FRAGE: Wieso gab es keinen Bruch mit dieser Diskriminierung?

WOLFGANG WIPPERMANN: Es ist kein Schuldbewusstsein entstanden, was den Porajmos angeht, der ist ja lange Zeit überhaupt verdrängt und sogar geleugnet worden. Noch heute wird immer wieder behauptet, die Roma seien vielleicht selber daran schuld gewesen. Der Bundesgerichtshof hat in dem Skandalurteil von 1956 gesagt, dass sie nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden seien, sondern weil sie asozial waren. In Südosteuropa kommt hinzu, dass hier die Kollaboration beim Porajmos noch stärker war als beim Völkermord an den Juden. Dazu hat man sich nie bekannt und diese Kollaboration ist auch nicht aufgearbeitet worden.


Wolfgang Wippermann ist Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut an der Freien Universität Berlin. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zum Thema Antiziganismus publiziert.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2010, S. 32
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2010